0
Service & Beratung: (030) 86009351
Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 463

Kulturvolk Blog | Uwe Sauerwein

von Uwe Sauerwein

8. Januar 2024

HEUTE: 1. Maxim Gorki Theater – „Der Untertan“ / 2. Schaubühne– „Bucket List“ / 3. Deutsche Oper Berlin – „Anna Bolena“

 

1. Gorki - Buckeln und Treten

"Der Untertan" im Maxim Gorki Theater © Ute Langkafel MAIFOTO

„Ich gehe nur in Konzerte, wo ich Bier trinken kann“, erklärt der Student Diederich Heßling seinen Kulturkonsum. Einige Jahre später wird er mit seiner Gattin eine Wagner-Oper aufsuchen und sich begeistern: „Tausend Aufführungen einer solchen Oper, und es gäbe niemanden mehr, der nicht national wär.“ In Heinrich Manns „Der Untertan“ sorgt das Theater für Schlüsselmomente. Zumal ja auch die Zurschaustellung von Macht komödiantische Züge trägt.

Am Maxim Gorki Theater inszeniert Christian Weise die 1918 veröffentlichte Romansatire als Bänkellied in der Tradition fahrender Truppen. Zwölf Moritaten über den unaufhaltsamen Aufstieg des nach oben buckelnden und nach unten tretenden Opportunisten zum mächtigsten Mann der fiktiven Provinzstadt Netzig. Kaum überraschend wird dabei nicht nur die „Geschichte der öffentlichen Seele unter Wilhelm II.“ erzählt.

Nicht zum ersten Mal erlebt man den Gesellschaftsroman auf der Bühne, so auch 2017 bei den Vaganten (mehr dazu im Blog Nr. 225 vom 25. September 2017). Im kollektiven Gedächtnis ist natürlich die brillante Defa-Verfilmung von Wolfgang Staudte von 1951 (in der Bundesrepublik anfangs zensiert), in der das Mitläufertum als Voraussetzung für den Faschismus angeprangert wurde.


Mittel gegen Hurrapatriotismus


Im Gorki, schräg gegenüber von dem früheren Opernplatz, an dem die Nazis einst auch Manns Roman in die Flammen warfen, hält man dem Publikum nun den Spiegel vor. Damit wir, so die Ankündigung, die aktuelle Gefahr erkennen, „zu Hurrapatriot*innen zu regredieren“. Wir nehmen es zur Kenntnis, untertänigst, und haben gleichwohl unseren Spaß an diesem von Slapstick, Comic und Comedy getränkten Gesamtkunstwerk.

Was für ein Theater! Mit der Bühne der Bildenden Künstlerin Julia Oschatz, die Manns Bilder als Sammelsurium expressionistischer Zeichnungen präsentiert. Mit der teilweise rasanten Live-Musik von Jens Dohle und Falk Effenberger, die emsig zitieren von „Mackie Messer“ über das HJ-Lied „Der morgige Tag“ aus „Cabaret“ bis zur „Internationalen“.

 

Ein Panoptikum, obwohl manches weggelassen wird, nahe dran am personenreichen Roman. Till Wonka, Marta Kizyma, Catherine Stoyan und Tim Freudensprung teilen sich 27 Rollen, mit ständigen Kostümwechseln und massivem Einsatz von Perücken und falschen Bärten gelingt das vorzüglich.

Heßlings gibt es überall


Einzig Via Jikeli spielt nur eine Rolle, die aber fulminant: Diederich Heßling, den Untertan, oder sollte man Untertänin sagen? Für die Schauspielerin, Mitte 20 und ganz neu im Ensemble, ist die Figur ein Fest. Per Kostüm auf dicke Hose getrimmt, gnadenlos berlinernd und mit einem Mienenspiel, in dem die kleinste Bewegung der Augenbraue in jedem Moment für neue Nuancen sorgt. Eine Vielseitigkeit, die man einer Type wie Diederich eigentlich gar nicht zutraut. So erlebt man das Kind, den petzenden Schüler, den saufenden und schlagenden Burschenschaftler, den Drückeberger beim Militär, den berechnenden Bräutigam einer millionenschweren Braut, den durchtriebenen Unternehmer und Provinzpolitiker, wankend zwischen Ängsten und Aggressionen, zwischen Unsicherheit und Selbstüberschätzung.

Ein Mann, der für seinen Kaiser alles geben will, aber ohne zu leiden; das sollen andere für ihn tun. Dass Leute wie Heßling zeitlos aktuell sind, unabhängig vom politischen System, ist eine Erkenntnis dieser 90 komischen Minuten. Vielleicht sind sie ein wenig zu komisch, angesichts des ernsten Hintergrunds. Doch wie urteilte schon der Autor über sein Buch: „Als ich es schrieb, konnte ich über diese Welt noch lachen. Das erklärt den anhaltenden Erfolg. Ein bitterer Roman wäre jetzt vergessen.“

Maxim Gorki Theater, 15. Februar. Hier geht’s zu den Karten.


***

2. Schaubühne - Collagen der Erinnerung

"Bucket List" in der Schaubühne © Ivan Kravtsov

Der englische Begriff „Bucket List“ steht für alle Ziele, Träume und Erlebnisse, die jeder Mensch vor dem Tod erreicht haben möchte. Zu diesen Lebenszielen zählt in der Regel auch die Bewältigung traumatischer Ereignisse. Mit dem Stück „Bucket List“ ist Yael Ronen nun an die Schaubühne zurückgekehrt. Gemeinsam mit ihrem Songschreiber Shlomi Shaban, mit dem die israelische Autorin und Regisseurin am Maxim Gorki Theater bereits mehrere musikalische Abende entwickelte.

Es ist Sonnabendmorgen. Ein Mann wacht auf, die Welt um ihn herum hat sich radikal verändert. Er blickt auf die Trümmer seiner bisherigen Realität. Nichts ist mehr wie es war. Abhilfe verspricht ein dubioses Start-Up. Eine neue Technologie zur Behandlung posttraumatischer Belastungsstörungen ermöglicht es, Erinnerungen zu ändern oder gar zu löschen. Da sich das Projekt noch in der Erprobungsphase befindet, kann es jedoch zu Phantom-Erinnerungen kommen. Collagen aus Erinnerungsfetzen, nicht nur des eigenen Lebens, sondern auch anderer Menschen.

Soweit die Idee dieser Science-Fiction-Geschichte. Doch kurz vor den Proben, an einem Sonnabend, wurde das Theater von der Realität brutal überholt. Dem Überfall der Hamas-Terroristen am 7. Oktober auf Israel und den schlimmsten Massakern, die seit dem Holocaust an jüdischen Menschen verübt wurden. Mit Trauma-Behandlung kennt sich Israel aus wie kein ein anderes Land. Doch was jetzt geschah, hat nicht nur Israelis, sondern vielen Juden weltweit mental den Boden unter den Füßen weggezogen.


Am Rande des Abgrunds


Yael Ronen hat den Nahost-Konflikt einst in „The Situation“ in einen Neuköllner Sprachkurs für Migranten verlegt (mehr dazu im Blog Nr. 138 vom 14. September 2015). Neun Jahre lang gehörte die Produktion mit israelischen und arabischen Akteuren zu den Erfolgsstücken des Maxim Gorki Theaters. Die Vorstellung im Oktober wurde angesichts des Krieges abgesagt. „Ich stehe am Rande des Abgrunds und blicke nach unten“, sagte damals die Künstlerin, die sich auch für die Belange der Palästinenser einsetzt.

Die Wortwahl erinnert an den Mann in ihrem neuen Stück an der Schaubühne. Selten war die Erwartung vor einer Uraufführung derart aufgeheizt. Man erwartete von Yael Ronen eine künstlerische Antwort auf die Ereignisse. Nicht zuletzt des quälenden Schweigens in weiten Teilen der Kulturszene wegen.

 

Doch das tragikomische Potenzial von Yael Ronens Diskurs-Musicals, die bissige Gesellschaftssatire wie „Slippery Slope“ (mehr dazu im Blog Nr. 374 vom 15. November 2021) oder „Common Ground” muss, wen wundert es, Rat- und auch Sprachlosigkeit weichen. Alles ist von einem melancholischen Grundton geprägt. Kein einziges Mal wird der Nahostkonflikt beim Namen genannt. Trotzdem hat man die furchtbaren Ereignisse im Kopf.


Beeindruckende Songs


Was dem Verstand bei der Trauma-Behandlung nicht gelingt, schafft möglicherweise die Musik mit ihren Emotionen. So ist „Bucket List“ (vorwiegend auf englisch mit deutschen Übertiteln) mehr ein Konzert mit einprägsamen Songs, die in die seelischen Abgründe, nicht nur der Patienten im Stück, vordringen. Szenische Einfälle geraten zur Nebensache, auch wenn es Eindruck macht, wenn weiße Wäschestücke auf die schwarze Bühne herabregnen und von den Performern wie Babys im Arm gehalten werden. Wirklich mitreißend ist die Musik zwischen Jazz, Tango, Rock und Chanson, die Shlomi Saban mit seinem Trio (Thomas Moked Blum, Amir Bresler, Hila Kulik/Shatsky) spielerisch leicht präsentiert, wobei Moritz Gottwald, Carolin Haupt, Damian Rebgetz und vor allem Ruth Rosenfeld (ehemals Schülerin von Dietrich Fischer-Dieskau) mit Stimme und Ausdruckskraft voll überzeugen.

Das Publikum jubelt am Ende zu Recht. Aber eigentlich müsste man heulen.

Schaubühne, 16. Januar und 19. Februar. Hier geht’s zu den Karten.


***

3. Deutsche Oper - Schicksalstage einer Königin

"Anna Bolena" in der Deutschen Oper Berlin © Bettina Stoess

Großes Drama an der Bismarckstraße. Um nichts weniger als um einen Justizmord geht es. Das Opfer: Anne Boleyn, zweite Frau Heinrichs des VIII.. Jenem König von England also, der vor allem durch seine sechs Ehefrauen in die Geschichte einging, zwei von ihnen endeten auf dem Schafott. Weil sich der Monarch in deren Hofdame Jane verkuckt hatte, musste er seine aktuelle Gattin Anne loswerden. Und ließ sie wegen Inzest und Ehebruch anklagen.

Die tragischen Verwicklungen im London des 16. Jahrhunderts rührten rund drei Jahrhunderte später auch die Norditaliener. „Anna Bolena“, uraufgeführt 1830 in Mailand, gilt als frühes Meisterwerk der romantischen Oper. Gaetano Donizetti befreite sich mit diesem Erfolg aus dem Schatten Rossinis und setzte sich zudem gegen den Belcanto-Konkurrenten Bellini durch. Als Produktion des Opernhauses Zürich sorgt „Anna Bolena“ in Berlin für ein packendes Opernerlebnis.

In der zweiaktigen Tragedica lirica hielten sich Donizetti und sein Librettist Felice Romani, ungewöhnlich für das Musiktheater ihrer Zeit, ziemlich genau an die historisch überlieferten Tatsachen. Natürlich wurden die Namen der Protagonisten italienisiert. Aus Anne Boleyn wurde Anna Bolena, König Heinrich heißt Enrico, seine neue Favoritin Jane Seymor trägt den Namen Giovanna.


Konflikt mit der Kirche


Das Ehe-Aus hatte nicht nur amouröse Motive. Anna gebar dem König keinen männlichen Thronfolger, ihre Tochter Elisabeth kam für den Thron nicht infrage und wurde erst zwölf Jahre nach Heinrichs Tod zur Queen gekrönt. Die Scheidungspläne brachte den Katholiken Heinrich zudem in Konflikt mit dem Vatikan. Der Bruch mit dem Papst bedeutete somit die Geburt der Anglikanischen Kirche.

Alles wohl zu komplex für den Mailänder Opernbetrieb. Bei Donizetti erlebt man ein von Eifersucht dominiertes Komplott. Eigens wird dafür Annas Jugendfreund aus dem Exil geholt, auch Annas Bruder wird involviert. Als die Betroffenen merken, wofür sie man sie benutzt, ist es zu spät, mit tödlichen Konsequenzen für alle.

Der renommierte amerikanische Regisseur David Alden deutet die im Libretto verschwiegenen politischen und religiösen Begleitumstände zumindest an. Das kleine Mädchen Elisabeth tobt mitunter um den Thron herum, auf den Katholizismus verweisen Madonnen-Bildnisse an der Wand. Was den absolutistischen Herrscher betrifft, wird die Inszenierung auch mal ironisch, wenn der König, etwa beim Jagdausflug, als Testosteron-gesteuertes Alpha-Männchen auftritt. Es bleibt aber insgesamt bei Anspielungen, auch im Bühnenbild (Gideon Davey) und den Schattenspielen in Elfried Rollers Lichtdesign.


Die Krone wird zur Dornenkrone


Das Historiendrama funktioniert von ganz alleine als Thriller. Die inneren Konflikte, auch der vielen Nebenfiguren, werden musikdramatisch packend geschildert. Besonders spannend ist das Verhältnis Giovannas zu ihrer Königin Anna, hin- und her gerissen zwischen der Loyalität als Kammerfrau und ihrer Rolle als Nebenbuhlerin. Die Krone, egal welche Königin sie trägt, wird zur Dornenkrone.

Natürlich ist es auch ein Fest für große Stimmen. In der Titelpartie erlebt man die längst international gefragte Federica Lombardi, deren Karriere u.a. an der Deutschen Oper begann. Verglichen mit dem dramatischen Sopran der Maria Callas bei ihrem legendären Scala-Auftritt 1957 überrascht die junge Italienerin mit lyrischem Liebreiz. Man versteht nicht wirklich, warum ihr der König den Laufpass gibt. Aber so ist das bisweilen in der Oper.

Bei den letzten Vorstellungen der Spielzeit sind bis auf die Titelrolle alle Partien neu besetzt. Statt des großartigen Enrique Mazzola, der bei der Premiere die musikalische Leitung hatte, steht Daniele Squeo am Dirigentenpult.

Deutsche Oper Berlin, 11., 16. und 19. März. Hier geht’s zu den Karten.

 

Verwendung von Cookies

Zur Bereitstellung des Internetangebots verwenden wir Cookies.

Bitte legen Sie fest, welche Cookies Sie zulassen möchten.

Diese Cookies sind für das Ausführen der spezifischen Funktionen der Webseite notwendig und können nicht abgewählt werden. Diese Cookies dienen nicht zum Tracking.

Funktionale Cookies dienen dazu, Ihnen externe Inhalte anzuzeigen.

Diese Cookies helfen uns zu verstehen wie unsere Webseite genutzt wird. Dadurch können wir unsere Leistung für Sie verbessern. Zudem werden externe Anwendungen (z.B. Google Maps) mit Ihrem Standort zur einfachen Navigation beliefert.

  • Bitte anklicken!