HEUTE: 1. Komische Oper Berlin – „Don Giovanni / Requiem” / 2. Berliner Kriminal Theater – „Terror“ / 3. Hans Otto Theater Potsdam – „Der nackte Wahnsinn“
Wer ist tot? Don Giovanni, der sich unaufhaltsam auf die Hölle zu bewegt? Der Komtur, der vom Schürzenjäger erstochen wurde, weil er die Entehrung seiner Tochter zu verhindern suchte? Oder ist die ganze Gesellschaft tot, deren Regeln der Lebemann Giovanni notorisch bricht? Wann ist der Zeitpunkt, an dem man wirklich nicht mehr unter den Lebenden weilt?
Ganz schön düster mutet es an, was uns der Regisseur Kirill Serebrennikov da in der Komischen Oper auftischt. Zum Glück hat er aber nicht vergessen, dass „Don Giovanni“ eine Opera buffa ist. Ja, ein komisches Stück, trotz aller Morbidität auch der Lebensfreude frönend. Das macht die Oper zu einem der geheimnisvollsten Werke von Wolfgang Amadeus Mozart. Es ist Mode geworden, die drei Opern, die der Komponist mit dem Librettisten Lorenzo Da Ponte schuf, als Trilogie zu betrachten. Ging es in „Cosi fan tutte“ für den Regisseur um den Gegensatz zwischen Mann und Frau, in „Nozze di Figaro“ um den Konflikt zwischen Arm und Reich, so dreht sich zum Abschluss alles um das Verhältnis zwischen Leben und Tod.
Zu Beginn von „Don Giovanni“ erlebt man auf offener Szene zu James Gaffigans ausdrucksvollem Dirigat bereits die Beerdigung des Schürzenjägers. Blumen und Briefe landen im offenen Sarg, bis jemandem auffällt, dass sich darin noch etwas regt. Flugs befördert man den Scheintoten in die Klinik, auf die Intensivstation, wo sich Zerlina und Masetto als Pflegepersonal um den lädierten Schwerenöter kümmern.
Daran, wie der in seiner russischen Heimat verfolgte Bühnen- und Filmregisseur den Figaro „verwurstete“, hat mein Blog-Kollege Ralf Stabel damals kein gutes Haar gelassen (mehr dazu im Blog Nr. 481 vom 13. Mai 2024). So ganz konnte ich mich dem harten Urteil nicht anschließen. Zustimmen muss ich Ralf aber in seinem Vorwurf der Reizüberflutung, der auch hier wieder zutrifft. Man fühlt sich erschlagen von Serebrennikovs Ideen.
Donna Elvira ist diesmal ein Mann
Der Regisseur, der Bühne und Kostüme selber entwirft, hat es diesmal mit dem Buddhismus. Er ortet die Handlung im „Bardo“-Zustand an, der Zwischenexistenz nach dem Tod, in der die Seele 49 Tage diverse Bewusstseinsstufen durchwandert. Auweia, das kann ja heiter werden, denkt man beim Blick ins Programmheft. Doch so verquast wie die Inhaltsangabe wirkt das Geschehen dann doch nicht, trotz der vom bekannten Schauspieler Norbert Stöß eingeschobenen Zitate aus dem Tibetischen Totenbuch.
Die Geschichte des Wüstlings, der auf sein Leben zurückschaut, dessen Libido selbst auf dem Sterbebett noch Kapriolen schlägt, sie funktioniert als schwarze Komödie. Vor allem, weil man selten solch spielfreudigen Sängerinnen und Sängern begegnet. Mit jugendlicher Frische wie Hubert Zapiór in der Titelpartie, Tomasso Barea als sein Gehilfe aber auch Alter ego Leporello, Adela Zaharia als rachsüchtige Donna Anna, Augustín Gomez als deren Verlobter, den Pantoffelhelden Don Ottavio. Philipp Meierhöfer als Masetto und Penny Sofroniadou als Zerlina, (die ein Kind bekommt, von wem, erfahren wir nicht), sind hier auch mit musikalischen Zitaten als Wiedergänger des Figaro und seiner Susanna angelegt.
Clou der Besetzung ist Don Elviro. Ja, Sie lesen richtig. Ein Mann, nicht von einem Countertenor, sondern von einem Soprano gesungen, Bruno de Sá. Stimmlich fügt sich der Brasilianer auch in die Ensemble-Gesänge problemlos ein. Dramaturgisch sorgt er für eine homosexuelle Bereicherung (auch für Leporello!). Da Don Elviro auch noch in Begleitung einer stummen Freundin ist (Varvara Shmykova), erweitert sich das erotische Angebot für Don Giovanni noch einmal.
Auf die Höllenfahrt folgt nicht wie gewohnt das schadenfrohe Schlusssextett. Sondern, mit Fernando Suels Mendoza als Giovannis tänzerischem Schatten, Teilen aus dem Requiem, die Mozart vor seinem Tod 1791 noch selber zu Papier brachte. Nach der Wiener Erstaufführung der Oper 1788 hatte sich der sakrale Schluss etabliert. Einleuchtend, aber hier zuviel, hörbar auch für das Ensemble. Schade, dass man dann doch das Ende des sonst durchaus inspirierenden Opernereignisses herbeisehnt.
Nicht nur in der Medizin entscheidet oft die richtige Dosierung über Leben und Tod.
Komische Oper im Schillertheater. Leider sind alle Vorstellungen in dieser Spielzeit so gut wie ausverkauft; die nächsten Vorstellungen wird es im Dezember geben. Wenige Restkarten direkt hier.
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So eine Entscheidung treffen zu müssen, ist ein Alptraum. Nie im Leben möchte man in die Situation geraten, in die der angeklagte Luftwaffenoffizier geraten ist. Und auch in die Rolle der Laienrichter will man in der Realität nicht wirklich schlüpfen. Hier im Kriminal Theater aber sind wir Zuschauer als Schöffen gefragt.
Mord an 164 Menschen wird Lars Koch vorgeworfen. Während des Fluges von Berlin nach München hatte ein Terrorist eine Lufthansa-Maschine entführt und gedroht, sie in die Münchner Allianz Arena stürzen zu lassen, wo gerade ein Fußball-Länderspiel stattfand. Gegen den Befehl seiner Vorgesetzten schoss der Kampfpilot das Flugzeug ab, um so die rund 70.000 Zuschauer im Stadion zu retten.
Darf man Leben gegen Leben abwägen? Noch unter dem Eindruck der Anschläge von 9/11 verfasste Ferdinand von Schirach vor gut zehn Jahren sein erstes Bühnenstück. Der Anwalt, der zum Bestseller-Autor wurde, lässt vor einem fiktiven Berliner Gericht den Fall des Bundeswehrmajors verhandeln. Das erinnert ein wenig an das bundesdeutsche Dokumentartheater der 1960er-Jahre, auch an Gerichtsdramen wie „Die zwölf Geschworenen“. Mit dem Unterschied, dass die Geschworenen diesmal im Zuschauerraum sitzen. Wir sollen über Schuld oder Unschuld entscheiden. Danach spricht und begründet der Richter das jeweilige Urteil.
Auf allen fünf Kontinenten wurde das Drama bereits aufgeführt. Die doppelte Uraufführung fand zeitgleich am Schauspiel Frankfurt und am Deutschen Theater Berlin statt (mehr dazu im Blog Nr. 142 vom 12. Oktober 2015). Ein Millionenpublikum erreichte die Fernsehverfilmung in prominenter Besetzung.
„Vergessen Sie alles, was Sie bisher über den Fall gehört haben“, bittet Tilman Günther als Vorsitzender vor Verhandlungsbeginn. Zurückhaltend hat Wolfgang Rumpf das Stück in Szene gesetzt. Die Inszenierung soll die Urteilsfindung nicht beeinflussen.
Authentische Prozess-Atmosphäre
Die Ausstattung von Erwin Bode legt Wert auf Authentizität, nur der Hintergrund des Gerichtssaals erinnert an den Flugradar, den der angeklagte Kampfpilot (Hendrik Flacke) vor Augen gehabt haben muss. Trotz aller Ernsthaftigkeit weht ein leiser Hauch von Ironie. Etwa bei den Animositäten zwischen dem Verteidiger (Conrad Waligura) und der Staatsanwältin (Esther Esche). Während die verzweifelnden Aussagen von Franziska Meiser als Nebenklägerin, die ihren Mann beim Abschuss des Flugzeugs verlor, zu Herzen gehen.
Ein Abend der eigenen Gewissensprüfung. Denn es gibt immer wieder Wendungen, durch die man die persönliche Haltung überdenkt. Das Stadion hätte noch rechtzeitig geräumt werden können. Fluggäste versuchten, dem Entführer die Macht über die Maschine wieder zu entreißen. Mitunter wird es unruhig im Zuschauerraum. Man merkt, das Publikum ist bei der Sache.
Berliner Kriminal Theater. Derzeit sind keine Vorstellungen im Spielplan; wir verweisen auf die nächste Spielzeit.
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Mr. Clackett allein zu Haus. Der Housekeeper freut sich auf seinen freien Nachmittag. Die Besitzer des schönen Landhauses sind ohnehin selten da. Sie weilen auf Panama, der Steuer wegen. Da kann sich Clackett mit einem Teller Sardinen vor den Fernseher fläzen. Aber: „Kaum hat man es sich gemütlich gemacht, bricht die Hölle los.“ Häusermakler Roger Tramplemain wähnt die Villa menschenleer und will das für ein Schäferstündchen mit Steuerfachgehilfin Vicki nutzen. Dann platzen auch noch die Besitzer des Hauses rein, die mal, ohne dass es das Finanzamt merkt, ein Wochenende in der Heimat verbringen wollen. Außerdem macht sich ein Einbrecher am Eingang zu schaffen.
Stopp, aus! Das hatten wir doch alles anders besprochen! Die Regisseurin kämpft mit den Nerven. Sie befindet sich mitten unter den Zuschauern. Wir wohnen nämlich der Generalprobe des Stückes „Lass dich nicht erwischen“ bei. Bei der so ziemlich alles schief läuft, was schief laufen kann. Was für psychosozialen Stress sorgt. Donny (René Schwittay), der Darsteller des Hausmeisters, und Garry (Arne Lenk), der den liebestollen Makler verkörpert, sind privat liiert. Auch Floyd (Katja Zinsmeister), die Regisseurin, hat ihre Lieblinge im Ensemble. Bald herrscht in der Tourneetheatertruppe der Ausnahmezustand.
„Der nackte Wahnsinn“ ist die ultimative Komödie, wenn es um Theater auf dem Theater geht. Für jedes Ensemble die absolute Herausforderung, auch logistisch. Der Brite Michael Frayn verfasste 1982 diesen Dauerbrenner. Am Berliner Ensemble setzte Hausherr Oliver Reese die Farce im Herbst in Szene (mehr dazu im Blog Nr. 496 vom 4. November 2024). Am Hans Otto Theater in Potsdam führt nun Intendantin Bettina Jahnke die Regie. Man darf annehmen, dass bei den Proben wesentlich weniger Tohuwabohu herrschte als im Stück. Für den Triumph des Scheiterns braucht es Perfektion. In dieser Hinsicht kann sich die Chefin auf ihr spielfreudiges Team verlassen. Bei der zweistöckigen Bühne von Iris Kraft geht es weniger um optischen Genuss. Im Labyrinth der laut klappenden Türen müssen alle Klinken und Scharniere funktionieren – oder eben nicht.
Die ganze Theatertruppe spielt verrückt
Während der Pause wurde das Bühnenbild gedreht. Wir befinden uns, einige Wochen nach der Premiere, nun im Backstage-Bereich. Wo wir die ganzen Animositäten und Eifersüchteleien im Ensemble mitbekommen. Einige von Frayns Textstellen wurden zeitgemäßer gestaltet. Der Regisseur, der eine Affäre mit der Regieassistentin und einer Schauspielerin hat, ist nun eine Regisseurin, die eine Affäre mit ihrer Regieassistentin und einer Schauspielerin hat. Das ist wohl weniger verwerflich.
Als Assistentin Poppy (Amina Merai) und Vicki-Darstellerin Brooke (Charlott Lehmann) merken, dass sie Nebenbuhlerinnen sind, gerät der Spielbetrieb in Gefahr. Dass die von Floyd zur Beruhigung gespendete Flasche Whiskey in die Garderobe des trunksüchtigen Kollegen Selsdon (Jon-Kaare Koppe) gerät, verschärft die Situation zusätzlich, Stage Manager Tim (Paul Wilms) bereitet sich darauf vor, für Selsdon einzuspringen. Belinda (Nadine Nollau) und Frederick (Jan Hallmann), die Darsteller der steuerflüchtigen Hausbesitzer, versuchen zu retten, was noch zu retten ist.
„Lass dich nicht erwischen“ müsste am Ende der Tournee eigentlich „Lass dir was einfallen“ heißen. Wie die Menschen auf der Bühne verzweifelt versuchen, das Chaos zu beherrschen, das ist tatsächlich der nackte Wahnsinn.
Hans Otto Theater, am 6. Juni. Hier geht’s zu den Karten.
1. Komische Oper Requiem für einen Lebemann
2. Kriminal Theater Rettung durch Mord?
3. Hans Otto Theater Triumph des Scheiterns
1. Theater an der Parkaue Ionesco weitergedacht
2. Berliner Ensemble Auf der Strecke geblieben
3. Kabarett-Theater Distel Wo man singt
1. Deutsches Theater Sei ein Mensch
2. Distel Lachen ist gesund
Stiftung Stadtmuseum Berlin Geschichte und Erinnern
1. Berliner Ensemble Was Covid mit den Menschen machte
2. Gorki Das Monster in uns
3. Staatsoper Gedämpfte Freude am Belcanto
1. Deutsches Theater Disruption und Wohlfühlwimpel
2. Theater im Palais Terzett mit Paul Linke, Dorothy Parker und Marlene Dietrich
3. Schaubühne Dreier in der Schlacht auf der Couch
1. Kleines Theater Reisen ohne anzukommen
2. Berliner Ensemble Nicht nur Brecht
3. Theater am Frankfurter Tor Richtig getrickst