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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 138

Kulturvolk Blog | Reinhard Wengierek

von Reinhard Wengierek

14. September 2015

Gorki Theater


Ein Reden über die wahnsinnige politische Lage im Nahen Osten heiße mittlerweile kurz nur noch Reden über „the Situation“, erklärt die israelische Regisseurin Yael Ronen, die mit ihrem scharfsinnigen, mutig kritischen, vom Journalismus inspirierten Polit-Theater nicht nur hierzulande berühmt wurde. Und so geht es also in ihrem neuen, wahrlich hochspannungsgeladenen Diskurs-Stück „The Situation“ über die nicht allein rein nahöstlichen Konflikte politischer, sozialer, religiöser, ethnischer oder weltanschaulicher Art. Die sagen wir mal „Diskutanten“ in Ronens sehr besonderen, sehr persönlich geprägten Talk-Show sind drei „echte“ Palästinenser, ein „echter“ Syrer und eine „echte“ Israelin zusammen mit ihrem Deutschlehrer bei einem Sprachkurs hier in Berlin (möglicherweise Neukölln) auf der Gorki-Bühne, wobei sich das Biografische der Fünf unversehens vermischt mit dokumentiertem Material anderer Leute mit „Situation“- Hintergrund. So formt Regisseurin Ronen als Autorin mit viel Wissen und Können sowie reichlich Humor, Wortwitz und Sarkasmus aus den realen Personen fiktive Bühnenfiguren. Deren vehementer, zuweilen brutaler Schlagabtausch (im annoncierten Deutschkurs) wirft grelle Lichter aufs Kleine, aufs Privat-Konkrete dieser Nahostler; etwa deren mit Feindbildern und Traumata, mit Ängsten, Hass, Unwissen und Engstirnigkeit sowie radikaler Ideologie verkleisterten Geistes- und Gemütszustand. Zugleich wird dabei das ganz Große, das Dogmatisch-Politische und Fundamentalistisch-Kriegerische belichtet: Die zerrissene, lichterloh brennende Heimat der Gestrandeten, die bislang permanent in schier unerträglichen auch lebensbedrohlichen Extremsituationen lebten. Nun prallt hier in Berlin bei einem Theater-Deutschkurs das alles mit schonungsloser, ja brutaler Wucht aufeinander. Da kommt unverblümt und komprimiert heraus, was so sonst nur selten hierzulande ins Öffentliche dringt.

 

Fürs perplexe Publikum ist das eine ziemliche Erschütterung – zugleich aber auch allerhand Aufklärung durch die direkt (oder indirekt) schrecklich Betroffenen – frei von Betroffenheits-Pathetik, aber auch fast ohne Hoffnung auf Besserung. Eine wenig optimistische Veranstaltung, auch wenn sie zuweilen heftig aufgeschäumt ist mit Insignien der Popkultur, was schließlich zum jugendlichen Alter der internationalen Akteure passt, die übrigens alle überraschend stark sind in ihrer Bühnenpräsenz wie auch ihrer stimmlichen Ausdruckskraft.

 

Zum Schluss gibt’s eine tolle Pointe: Der Deutschlehrer namens Stefan (Gorki-Star Dimitrij Schaad) erklärt überraschend seinen Migrations-Hintergrund: Er stamme aus Kasachstan, sei als Kind namens Sergej nach Deutschland gekommen, habe wie seine Eltern schwer an der Einwanderung gelitten und sehe sich heute als „Meisterwerk der Integration“ – ein narbenreiches Trotzdem. Ein Hoffnungszeichen; immerhin. (wieder am 20. September)

Berliner Ensemble

Es wurde alsbald schon nach seinem Erscheinen 1968 quasi zum Handbuch der Erinnerung an die Schuld der Deutschen im NS-Staat: nämlich „Deutschstunde“ von Siegfried Lenz (1926-2014), der als blutjunger Nazi und Marinesoldat die Versenkung seines Kriegsschiffs überlebte, dann desertierte, sich in den dänischen Wäldern versteckte in der beständigen Angst, entdeckt und von den eigenen Leuten erschossen zu werden. „Deutschstunde“ handelt von Entmenschlichung durch fanatisches Festhalten an einem fatalen Begriff von Treue und Pflichterfüllung, die das demagogisch „von oben“ auferlegte, als normal und rechtens geltende „dienstliche“ Ausüben von Verbrechen einschloss. Der Roman bringt das zentrale Thema deutsche Nachkriegsliteratur auf den Punkt: Die so grauenhaft folgenreiche Verquickung von Pflicht und Schuld; demonstriert am Beispiel des Dorfpolizisten Jepsen, der auf Deutschlands nördlichstem Posten bis zum Kriegsende ‘45 stur seines Amtes waltet mit grauenvollen Konsequenzen.

 

Das Buch fand Millionen Leser, wurde Schullektüre und alsbald ein Klassiker bezüglich der packenden Beschreibung der entsetzlichen Seite des deutschen Wesens. Jetzt hat ihn der Dramatiker Christoph Hein fürs Theater eingerichtet, und Regisseur Philip Tiedemann inszenierte ihn mit viel Fantasie fürs Poetische sowie feinen Sinn für Komisch-Groteskes auf der BE-Probebühne. Das gerade in seinem Minimalismus so expressive Kammerspiel stützt sich ganz auf die atemberaubende spielerische Intensität des Ensembles. Die Konflikte zwischen den Figuren des Nordsee-Nests, ausgelöst von Jepsens Gesinnungsterror, seinem wahnhaft verinnerlichten Gehorsam-Fanatismus, entwickeln sich ganz lapidar aus der „Ordnung“ des NS-Alltags heraus ins Unheimlich-Unmenschliche und Gewalttätige, das jeden Ordnungsstörer korrekt ans tödliche Messer liefert. Eine höchst nachdenklich stimmende Aufführung, der das Publikum gebannt folgt. Die Vorstellungen sind immer ausverkauft, weshalb diese lehrreiche „Deutschstunde“ vernünftigerweise ins große Haus des Berliner Ensembles umgesetzt wird. (Premiere dort am 9. Oktober; Folgevorstellung am 30. Oktober.)

Wintergarten Varieté

Die beiden ingeniösen Show-Maker Markus Pabst & Maximilan Rambaek haben vor fast einem Jahrzehnt im „Chamäleon“ in den Hackeschen Höfen eine Artisik-Show kreiert, die aus dem Geist des aufgeschäumten Badens in der Wanne kommt. Total verrückt, unglaublich originell, absolut gekonnt und ein sagenhafter Exportschlager namens „Soap“, der um die Welt raste von Amerika bis nach Australien. Muss erst mal einer nachmachen!

 

Zunächst aber machten die beiden Show-Genies selbst sich nach, erfanden sozusagen ein Remake ihres Welthits: „Seifen Oper - The Soap Opera“, diesmal im Wintergarten in der Potsdamer Straße.

 

Die aus Badewannen kühn wuchernde Akrobatik blieb, ergänzt durch – dies das Neue! – eine Story: Ein altes Haus voller einigermaßen exotischer Badezimmer-Bewohner wird von einem Immobilienhai okkupiert und muss „leer gemacht“ werden. Das pittoreske Artisten-Typen-Personal soll raus, damit der Hai rein und luxuriös sanieren und also groß Knete machen kann. Es gibt die üblichen Verwicklungen (eine possierliche Ratte spielt eine kleine köstliche Rolle), verpackt in pointierte Dialoge, die freilich von den schauspielrisch laienhaften Artisten eher mühsam und wenig verständlich gestottert werden – umso toller brillieren sie mit ihrer genuinen Kunst, darunter eine formidable und ziemlich witzige Opernsängerin.

 

Show mit Story (oder so genanntem rotem Faden), das ist immer ein schwieriges Ding; der Friedrichstadtpalast kann ein Liedlein davon singen und tanzen und hat es längst klüglich gelassen – eben die Sache mit dem Spinnen von roten Fäden. Trotzdem: Die kammerspielartige Show (das Intime als ihre famose Besonderheit) samt der klasse Band ist in ihrer artistisch-musikalischen Perfektion prima Entertainment. (Mittwochs bis sonntags noch bis zum 27. September.)

Was da wie da war in der Saison 2014/2015 – ein kleiner Rückblick

Mit einem Wort: Der Premieren-Ausstoß im deutschen Bühnenbetrieb ist fulminant (und wuchert immer weiter)! Im Schauspiel gab es 1975, in der Oper 674, im Kinder- und Jugendtheater 517, im Tanz 400 Premieren. Dabei im Schauspiel 346 Uraufführungen; an Innovation mangelt es also nicht. Und alles bei im Wesentlichen gleichem Personalbestand, und wenn es diesbezüglich Veränderungen gibt, dann eher nach unten - also weniger Leute machen immer und immer mehr. Der Betrieb rackert sich ab und ächzt. Ob das der Qualität der Aufführungen zugutekommt, sei dahingestellt…

 

Hier das alljährliche Ranking des Fachblatts „Theater heute“

42 Kritiker aus Deutschland, Österreich und der Schweiz waren beteiligt an dieser Umfrage nach dem Best-Of der Saison 14/15. Viele von ihnen mögen sich beim Nachdenken darüber, was da super war, von dem inspirieren lassen, was allgemein auffiel (beispielsweise zum Theatertreffen) oder was medial sonderlich gehypt wurde und also gerade „in“ ist. Dabei fiel so manche großartige Leistung, die dennoch nicht sonderlich im Rampenlicht stand, unter den Tisch. Schade.

 

Und nun der Überblick: Der Spitzenspieler ist Samuel Finzi (mit „Warten auf Godot“, läuft im DT). Die Spitzenspielerin: Stefanie Reinsperger vom Burgtheater Wien, das zugleich zum „Theater des Jahres“ gekürt wurde (die Berliner Schaubühne, Volksbühne und das Gorki sowie Dortmund rangieren stimmengleich auf Platz zwei). Der Spitzenregisseur heißt Dusan David Parizek. Autor des Jahres ist Wolfram Lotz mit „Die lächerliche Finsternis“ (läuft am DT). Inszenierung des Jahres ist besagtes Lotz-Stück unter Regie von Parizek am Burgtheater, gefolgt von Frank Castorfs „Baal“ (München), Herbert Fritschs „der die mann“ (Volksbühne) und Susanne Kennedys Fassbinder-Stück „Warum läuft Herr R. Amok“ (München). Das Bühnenbild des Jahres schuf Regisseur Parizek für seine Lotz-Inszenierung in Wien; Platz zwei teilen sich die Bühnenbildner Katrin Nottrodt (für Karin Henkels „Borkman“-Inszenierung in Hamburg) und Aleksandar Denic für den Münchner Castorf-„Baal“. Kostümbild des Jahres: Victoria Behrs grelle Mad-Men-Anzüge für Fritschs Volksbühnen-Inszenierung „der die mann“. Die Ärgernisse des Jahres umkreisen die Kulturpolitik und deren Umgang mit Intendanten in Rostock und Berlin (Volksbühne/Castorf-Nachfolge).

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