HEUTE: 1. VAGANTENBÜHNE BERLIN – „WOYZECK“ / 2. KAMMERSPIELE DEUTSCHES THEATER – „FOREVER YIN, FOREVER YOUNG“ / 3. BUCHTIPP – SAMUEL FINZI: „SAMUELS BUCH“
„Saßen dort zwei Hasen, fraßen ab das grüne, grüne Gras“, singt Andres seinem Kumpel Woyzeck vor. Und zückt beim Stichwort „Gras“ einen Joint. Wir wissen nicht, was das Team der Vaganten bei der Vorbereitung genommen hat. Jedenfalls kommt Büchner an der Kantstraße mit jugendlichem Überschwang, ja verdammt überdreht daher.
Schon oft habe ich „Woyzeck“ gesehen. Als Theaterstück, im Kino mit Kinski oder mehrfach als „Wozzeck“, der Oper von Alban Berg. Aber noch nie habe ich so viel lachen müssen wie in der Aufführung der Vagantenbühne Berlin. Was nicht heißen soll, dass man Georg Büchners Fragment auf die Schippe nimmt, im Gegenteil. Das unvollendete Drama spielt ganz im Heute, in der Social-Media-Gesellschaft. Und das wird, ohne dass man das Gefühl bekommt, das Theater würde sich beim Schulklassen-Publikum anbiedern, recht überzeugend erzählt.
Brian Bell, der bei den Vaganten bereits „Wandersterne“ und „Titus Andronicus“ (siehe dazu auch Blog Nr. 367 vom 27. September 2021 und Blog Nr. 410 vom 3. Oktober 2022) inszenierte, beschränkt sich in seiner Adaption auf drei Männer. Neben dem unglücklichen Titelhelden auf den Doktor sowie eine Figur namens Andres Major, eine Symbiose von Woyzecks Freund Andres und dem Gegenspieler, dem eitlen Tambourmajor.
Liebesschwüre per Tablet
Wie, drei Männer? Und was ist mit Marie, Woyzecks Freundin, mit der er ein uneheliches Kind hat und die er am Ende umbringt? Nun, das Mädchen taucht nur virtuell auf. Auf einer Internet-Plattform. Per Chat am Tablet tauscht sich Woyzeck erst mal vor allem erotisch mit ihr aus, natürlich nur, nachdem er ihr Geld angewiesen hat. Als allein erziehender Mutter kommt ihr jeder Supporter gelegen. Ob Marie tatsächlich existiert, erfahren wir erst am Ende.
Statt in der Kaserne spielt das Drama in der Uni. Die Bühne (Daniel Unger) zeigt im Vordergrund Woyzecks Studentenbude. Öffnet sich dahinter ein Lamellenvorhang, blicken wir in einen Seminarraum. Woyzeck und sein Kommilitone Andres nehmen unter Führung des Doktors an unterschiedlichen Forschungsprojekten teil. Woyzeck bekommt monatelang nur einen Erbsen-Shake.
Die Mangelernährung führt beim menschlichen Versuchskaninchen zu Schwindelanfällen und Halluzinationen. Als Medizinstudent kannte Büchner sich aus. 1836, ein Jahr vor seinem frühen Tod, begann der Dichter mit dem Stück, das erst 1913 uraufgeführt wurde.
Alles unter Kontrolle
Sprachlich erleben wir bei den Vaganten eine Mischung aus Original und jugendlichem Slang mit Sprüchen wie „Es ist fucking gut jetzt“ oder „Du hast den schönsten Knall ever“. Die berühmte Forderung „Friede den Hütten! Krieg den Palästen!“ aus dem „Hessischen Landboten“ wird hier zum Computerspiel. Mann sein bedeutet, die Kontrolle zu behalten, nicht nur an der Spielekonsole. Brian Bells Bearbeitung fragt nach der heutigen Definition von Männlichkeit. Es geht um Verletzlichkeit, die in Aggression und Brutalität mündet.
Julian Trostorf als Franz Woyzeck ist nicht von Beginn an das Opfer. Als Unterprivilegierter kämpft er um Anerkennung, Erfolg und Liebe – und scheitert katastrophal. Alle drei Darsteller gehen stimmlich wie körperlich in die Vollen. Andreas Klopp lässt bei Andres Major hinter der Kumpelhaftigkeit (Andres) immer Verschlagenheit und Überheblichkeit (Major) mitschwingen. Thomas Georgi hat als Doktor Clarus mal was von Mephistopheles, ist aber dann wieder Witzfigur, ein elender Quacksalber, der sich keiner Verantwortung bewusst ist.
Am Ende berichtet eine Radiosprecherin von einem Amoklauf. Ein Student, Verzeihung: Studierender der TU hat mit dem Messer ein Blutbad angerichtet. Doktor und Andres Major tun so, als ob sie damit nichts zu tun hätten. Man(n) sonnt sich in Unschuld.
Vagantenbühne, 9., 10., 13., 14. Juni und 6., 7. Juli. Hier geht’s zu den Karten.
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In meinen früheren Leben als Zeitungsredakteur landeten unzählige Tonträger auf meinem Schreibtisch, die Plattenlabels damals unaufgefordert in Hoffnung auf eine Rezension geschickt hatten. Die meisten Scheiben flogen nach kurzem Reinhören wieder aus dem CD-Player. Bei Funny van Dannen schlug ich erst mal die Hände überm Kopf zusammen. Und blieb dann bis zur letzten Note und Silbe gespannt vor den Lautsprechern sitzen. Dieser schräge Vogel bot eine Mischung aus Spott und Melancholie, aus Ironie, Infantilität und Lebensweisheit, die mir in der deutschen Liedermacherszene bis dahin so nicht untergekommen war.
Mit meiner Begeisterung für den Berliner Barden niederländischer Herkunft war ich nicht allein. Im ausverkauften Berliner Ensemble hatte der singende Sponti, solo mit Klampfe, seine Fans voll im Griff. Gut zwei Jahrzehnte später und 500 Meter weiter ist er nun vollends in der Hochkultur angekommen.
In den Kammerspielen des Deutschen Theaters präsentiert das Regieduo Tom Kühnel und Jürgen Kuttner eine grandios besetzte musikalische Revue über die Welt des Funny van Dannen. Die Uraufführung, letzte große Premiere unter Ulrich Khuon, ist ein absoluter Publikumserfolg. Schön, dass die neue Intendantin Iris Laufenberg die Revue mit in die nächste Spielzeit nimmt.
Geschichten vom Berliner Pflaster
Den Titel des Abend liefert der Song „Forever Yin Forever Young“, eine Anspielung sowohl auf den esoterischen Zeitgeist wie auf den Meister aller Songwriter, Bob Dylan. Ein Schlüssel zu van Dannens Humor ist, möglichst unlyrisch anmutende Begriffe zu vertonen. Zum Beispiel „Schilddrüsenunterfunktion“.
Mit dem gleichnamigen Song startet Felix Goeser den Abend, begleitet von einem Trio von Multiinstrumentalisten (Lukas Fröhlich, Jan Stolterfoth und Matthias Trippner, der auch die Arrangements schrieb). Der Van-Dannen-Fan muss sich erst daran gewöhnen, wie hier der ursprünglich spartanische Klang mitunter phonstark aufgebrezelt wird, zwischen Swing, Samba, Schlager, Disco-Sound und Punk-Rock verkleidet, so wie die Darsteller permanent Frisur und Kostüm wechseln.
Das Ganze ist als eine Art Zeitreise angelegt, in einer kleinen Straße mit Kopfsteinpflaster. Die Läden dort wandeln sich, mal ein Späti, mal ein Barbier, mal ein Kino, Rotlichtlokal oder Yoga-Studio. Eine Telefonzelle (ältere Leser erinnern sich) weicht einem Geldautomaten. Eine BRD-Westberlin-Gesamtberlin-Revue anhand der Songs, die gesungen, aber auch als Prosa verwendet werden. Co-Regisseur und Autor Kuttner spielt selber mit, er ist der einzige, der nur spricht, beziehungsweise gnadenlos berlinert.
Zwischen Nonsens und Wahrheit
Umso stärker beweisen die anderen Schauspielerinnen und Schauspieler ihr sängerisches Talent. Maren Eggert, die einst als Polizeipsychologin im „Tatort“ nicht nur dem Kieler Kommissar, sondern auch mir mit ihrer sinnlich-somnambulen Art den Kopf verdrehte, bietet ebenso neue Nuancen wie Kotbong Yang, Ole Lagerpusch und Jörg Pose. Ein szenischer Höhepunkt ist, wenn alle nacheinander zum Verwechseln ähnlich bei „Gib es zu, du warst im Nana-Mouskouri-Konzert“ als griechische Diva erscheinen.
Das erscheint immer zunächst wie Nonsens. Und doch offenbaren Songs wie „Als Willy Brandt Bundeskanzler war“ gewisse Wahrheiten und verweisen auf deutsche Befindlichkeiten. In einigen Momenten schlägt die lässige Virtuosität sogar um ins Radikale, unterstützt von schockhaften Lichteffekten. Besonders komisch wiederum, gerade hier im Theater, sind die Seitenhiebe auf den Kulturbetrieb.
„Die Zeit kann überhaupt nichts, die Zeit kann nur vergehen“, heißt es einmal. An diesem Abend vergeht die Zeit ausgesprochen schnell.
Kammerspiele des Deutschen Theaters, 3., 9. und 16. Juni. Hier geht’s zu den Karten.
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„Am 17. Dezember 1989 landet am frühen Abend eine Maschine der bulgarischen Fluggesellschaft Balkan am Flughafen Berlin-Schönefeld. Unter den Passagieren befindet sich ein gewisser Samuel Itzhak Finzi, bulgarischer Staatsbürger, zu diesem Zeitpunkt dreiundzwanzig Jahre alt. Nach der Passkontrolle und der Gepäckausgabe besteigt er die S‑Bahn in Richtung Bahnhof Friedrichstraße.“
So beginnt der letzte Absatz in „Samuels Buch“. Er wäre ein passender Einstieg in eine Erfolgsgeschichte, die jedoch nicht erzählt wird. Berlin bleibt außen vor. Warum ich Ihnen dieses Buch trotzdem ans Herz lege? Weil Samuel Finzi die deutsche Theaterlandschaft, in Berlin vor allem an der Volksbühne sowie im Deutschen Theater, ebenso bereichert wie Kino und TV-Produktionen. Da ist die Vorgeschichte automatisch von Interesse.
Darüber hinaus ist der Schauspieler, unter dramaturgischer Mitarbeit von Geoffrey Layton, ein begnadeter Erzähler, wie die Erinnerungen an seine jungen Jahre beweisen. Die Buchvorstellung mit ihm im Deutschen Theater vor einigen Wochen war hoffnungslos ausverkauft. Kleiner Trost: „Samuels Buch“ gibt es auch als Hörbuch, natürlich vom Verfasser persönlich eingesprochen.
Sehnsucht nach Freiheit
Samuel, Jahrgang 1966, ist der Sohn des populären bulgarischen Schauspielers Itzhak Finzi und der Pianistin Gina Tabakova. Die Finzis sind eine sefardische Familie, also Nachkommen der aus Spanien vertriebenen Juden. Die religiöse Tradition spielte in der sozialistischen Gesellschaft kaum eine Rolle, abgesehen von der Beschneidung des Knaben („Ich kann mich daran nicht erinnern, bin aber mit dem Ergebnis sehr zufrieden“). Eher prägten kulturelle Erlebnisse Samuels Kindheit in Sofia und Plovdiv. Ein Mann, den der Vater aus dem Theater nach Hause mitbrachte und der sich dem Jungen am Küchentisch als „Mitko“ vorstellt, sollte später eine der wichtigsten Personen seines beruflichen Lebens werden: der Regisseur Dimiter Gotscheff.
Sein frühester Berufswunsch aber: Dirigent. Oder Diplomat. „Weil Dirigenten und Diplomaten sich auf der ganzen Welt frei bewegen dürfen.“ Die Finzis, im Unterschied zur Mehrheit ihrer Landsleute, konnten reisen, vor allem dank der Zuwendungen der in vielen Ländern lebenden Verwandten – das Buch ist nicht zuletzt eine Liebeserklärung an die Großeltern, an schrullige Onkel und Tanten. Ihren Bekanntenkreis durfte man durchaus zu den Privilegierten zählen, die als Künstler sachte Kritik am System äußerten.
Tief ins Innere der Macht gelangt Samuel, als er auf eine nationale Eliteschule wechselt, es kommt sogar zu einer pubertären Romanze mit der Enkelin des Großen Vorsitzenden Schiwkow. Die Beziehungen bewahren ihn später nicht davor, „zwei kostbare Lebensjahre für das sinnloseste Unternehmen der Welt opfern“, die bulgarische Volksarmee. Damit die furchtbare Zeit, teilweise in einer Art Strafkompanie, nicht noch länger dauerte, schrieb sich Finzi bei der Film- und Fernsehakademie ein. Indirekt war also das Militär Auslöser für die künstlerische Laufbahn.
Samuel will raus aus Bulgarien, er geht nach Paris, wo er mühsam über die Runden kommt. Zufällig trifft er den Theatermacher Ivan Stanev, der den Schauspieler für ein Projekt in Deutschland gewinnt. Voraussetzung: Samuel muss Deutsch lernen, in kurzer Zeit. Während dieser Phase tritt in seinem Heimatland die Zeitenwende ein.
Stoff für einen großen Abenteuerroman. Doch es wird knapp, schnörkellos erzählt. Man fühlt mit.
Samuel Finzi: „Samuels Buch“. Ullstein Hardcover, 224 S., 22,98 Euro
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