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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 367

Kulturvolk Blog | Arno Lücker

von Arno Lücker

27. September 2021

Drei ReisenHEUTE: 1. „Dinge, die ich sicher weiss“ – Schlosspark Theater / 2. „Wandersterne“ – Vaganten Bühne / 3. „ARISE Grand Show“ / Friedrichstadt-Palast

Schlosspark Theater: - „Dinge, die ich sicher weiß“

Heinrich Schafmeister, Helen Barke, Johannes Hallervorden, Maria Hartmann (von links) © DERDEHMEL/Urbschat
Heinrich Schafmeister, Helen Barke, Johannes Hallervorden, Maria Hartmann (von links) © DERDEHMEL/Urbschat

»Es gibt also auch noch Familien, die funktionieren! Nicht kollektiv pandemiefrustriert, nicht wegen der Politik zerstritten – und, denn die Zeit vergeht schließlich, nicht (mehr) kriegstraumatisiert.« So in etwa könnten die Gedanken in den ersten zwanzig Minuten von »Dinge, die ich sicher weiß« vielleicht lauten.

Ein Stück des Australiers Andrew Bovell (geboren 1962) aus dem Jahr 2016, das jetzt am Schlosspark Theater bei uns in Berlin läuft (erstaufgeführt in deutscher Fassung am Staatstheater Mainz 2018). Ein neues – heutiges? – Stück also? Ein Stück ohne größere (Familien-)Dramen?

Wer als Theatergängerin oder Theatergänger das Thema »Familie« stets krisenhaft abgeschmeckt à la Tschechow aufs Tableau getischt bekam, der weiß: Bei den üblichen kleineren Konflikten wird es nicht bleiben! Und wer zusätzlich die Filme von Claude Chabrol gesehen hat, dem ist gewiss: Gerade hinter zunächst friedlich wirkenden Gartenzäunen ramentert es gewaltig im familiären Gebälk. (Wiewohl der von Autor Bovell gewählte Titel – im englischen Original etwas anders eingefärbt: »Things I Know To Be True« – eher an Jean-Luc Godards 1967er-Film »Zwei oder drei Dinge, die ich von ihr weiß«, »2 ou 3 choses que je sais d’elle« erinnert.)

Was heißt jetzt »normal« in Bezug auf die uns im Schlosspark Theater vorgestellte Familiengeschichte? Die Jüngste – Rosie (durchaus authentisch naiv gespielt von Helen Barke) – ist gerade einmal 18 Jahre alt und hat just ihre erste Liebesenttäuschung hinter sich. Ein Spanier, den Rosie auf ihrem Trip nach Berlin aufgabelte, verbrachte zwar mehrere Tage bei Cornflakes aus der Schüssel mit ihr im Bett, aber dann war er plötzlich weg – und der (vornehmlich erotische) Traum erst einmal ausgeträumt. (Berlin halt.) Das alles erfahren wir in einem Monolog-Prolog, den man gerne hätte kürzen dürfen, da die Klischees von »junger, entdeckerischer Liebe« doch etwas zu Gute-Zeiten-Schlechte-Zeiten-artig geraten. Geläutert und sogleich besorgten Nachfragen ausgesetzt, kehrt Rosie in die Arme ihrer Familie in Australien zurück. Vorgeblich ist nur sie hier gerade etwas »orientierungslos«. Doch: weit gefehlt.

Vater Bob (gekonnt verdattert verkörpert durch Schiefgesicht-TV-Charakter-Ikone Heinrich Schafmeister) ist ein ehemaliger Autofabrik-Arbeiter und auch ein bisschen schusselig. Er wird von seiner Frau angepflaumt und kümmert sich liebevoll und überbesorgt um die Rosen in seinem Garten (Regie und Bühne: Anatol Preissler), mit Schuppen, Harke und Zaun. Wir könnten genauso gut in Frohnau sein.

Bobs pflaumige Ehefrau Fran (Maria Hartmann) hält – von Berufs wegen Oberschwester in einem Krankenhaus – den Familienladen zusammen, vergreift sich aber oft harsch im Ton. Schlimmer als einst Oberschwester Hildegard in der »Schwarzwaldklinik«! Sie ist innerhalb der Familie Denkerin, Lenkerin und Tyrannin zugleich. Und dann sind da noch die anderen, immer mal wieder in den Schoß der Familie zurückkehrenden Kinder.

Zunächst scheint es um die kleine Traumatisierung der Jüngsten nach ihrer Weltreise zu gehen. Doch der Probleme sind da viel mehr: die Trennung der im Bildungsministerium beschäftigten Tochter Pip (mit Kindern), die Spekulations- und Drogensucht von Ben (berührend tapsig gespielt von Johannes Hallervorden). Und dann ist da noch Sohn Mark (stark, dark und leise von Tilmar Kuhn gegeben), ein IT-Spezialist, der über seine Ehe gar nicht erst reden möchte und bei Nachfragen Luft durch die Nase ausstoßend abwinkt. Alle ringen um ihren Platz in der Welt, um die Akzeptanz im Miteinander, um den adäquaten Platz im Garten des Lebens (ein Gedanke, der sich auch im Bühnenbild wiederfindet). Immer wieder singen Pip und Mutter Fran leise und abgekämpft existenzialistische Textzeilen aus dem Song »Creep« der Band Radiohead. Das Gefühl, alles falsch zu machen. Der Wunsch nach Normalität, nach dem berühmten »Gesehen-Werden«.

Das recht wohlige Setting, jenes Gerüst der zunächst nur kleine Konflikte zulassenden, scheinharmonischen Familienaufstellung muss bröckeln. So auch in diesem dramaturgisch perfekt entworfenen Stück Theaterkunsthandwerk, in dem Regisseur Anatol Preissler gekonnt Dynamik und Drama kanalisiert. Die Liebe der Mutter wird zur immer unangenehmer rezipierten Hartherzigkeit. Eines der Kinder möchte eine Geschlechtsangleichung vornehmen, das andere »outet« sich als hochverschuldet (und zugekokst). Und bei diesen Überraschungen bleibt es nicht… Das Glück des einen ist die Empörung des anderen, ist die Ratlosigkeit aller Beteiligten. »Was habe ich nur falsch gemacht?«

Vielleicht nicht ganz überzeugt von der zu perfekt gemachten Dramaturgie des Stücks und von den routiniert inszenierten Situationen des Regisseurs, packt einen der Abend am Ende doch noch ganz schön am Schlafittchen, gestützt von einem sympathischen Ensemble. Tränen angesichts der unerwarteten Katastrophe. Und man hatte sich doch so vorgenommen, stark zu bleiben, um nicht womöglich als »Creep« gebrandmarkt das Haus zu verlassen…

Bei uns im Angebot bis zum 17. Oktober. Hier geht es zu den Karten.

Vaganten Bühne: - „Wandersterne“

Johanna Falckner, Sarah Maria Sander (von links)  © Stella Schimmele
Johanna Falckner, Sarah Maria Sander (von links) © Stella Schimmele

Scholem Alejchem (1859–1916) war der große jiddische Schriftsteller, der jüdische Stoffe voller Melismen, voller Lebenslust und mit Bekenntnis zur, immer wieder auch selbstreflektorischen, Tragikomik in Schrift und Sprache überführte. Das Musical »Anatevka« nach seinem Roman »Tewje, der Milchmann« ist bis heute ein Welterfolg.

Alejchem wurde unter den vielen eher im Untergrund arbeitenden jüdischen Künstlerinnen und Künstlern Russlands bis in die 1980er Jahre so verehrt, dass der vor zehn Jahren hier gewaltig wiederentdeckte Komponist Mieczysław Weinberg in seine Küchenoper »Wir gratulieren« (1975), nach dem Theaterstück Masel tov von Alejchem, ein gesungenes Epitaph an den großen Dichter einbaute. Alejchem, so heißt es dort sinngemäß, sei immer ein Mann des Volkes, ein Dichter seiner Heimat, ein Poet der normalen Leit‘ von der Straße gewesen.

All diese lebensfrohen, bunten, jüdischen, jiddischen, manchmal kuddelmuddelverwirrenden Implikationen gehen nun ein in den Abend »Wandersterne« an der immer inbrünstigen Vaganten Bühne. Ein Schauspiel von Julie Paucker & Sam Hunter (nach dem gleichnamigen Roman von Alejchem). Eine Uraufführung in der Regie von Brian Bell. Ein junger Typ, der nicht stumpf den »Stoff« inszeniert. Dazu hat er viele zu viele Ideen – und bringt die Inhalte von jungen Köpfen mit den guten alten Theatertricks zusammen.

Wie unfassbar sympathisch die vier allesamt noch recht jungen Schauspielerinnen und Schauspieler uns Zuschauende an die Hand nehmen! Den ganzen Roman zu verstehen: Das sei doch gar nicht möglich – und auch gar nicht wichtig! Es geht um Liebe, um Reisen, um reisende Theaterleute. Um Träume und Hoffnung und all das. Was vielleicht abgedroschen und bemüht klingt, entpuppt sich als hochwirksamer, virtuoser, ja beglückender Abend. Johanna Falckner, Maximilian Gehrlinger, Sarah Maria Sander und Jan Viethen fackeln ein Feuerwerk des Kammertheaters ab.

Da wird eine liegengebliebene Zigarettenpackungshülle als knisternder Übergang zum Lagerfeuergeräusch vom Band zerdrückt, da kommentiert man einen (vermeintlichen?) technischen Fehler mit einem fröhlichen Kichern der singenden und E-Piano-spielenden Sarah Maria Sander (wie alle mehrere Rollen einnehmend). Und überhaupt ist vieles hier erst einmal Kommentar.

Sich ständig kommentierendes, durchironisierendes Theater: Wie haben das einige von uns satt! Hier erscheinen jedoch alle vom Ensemble zusammengenommenen Mittel im hellsten Licht. Zwei Rikschas – mit Chanukkaleuchter-Schutz vorne dran! – sind nicht nur Transportmittel von New York nach Moskau und zurück nach London, sondern Schlafplatz, Versteck und Traumhöhle. Die Ironie des Ganzen verrät dabei nie die Emphase, die Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit, mit der gespielt wird. So macht man sich bisweilen niveauvoll und auf Augenhöhe der aktuellen Diskussion in Nebensätzen über die Gendersprache lustig.

Das Stück wird zunächst bestimmt von einem: »Wir gehen gemeinsam auf große Tour, kommt mit!« Ein Wandertheater, das sich ständig fortbewegt, Seelen, die sich verlieren – und wiedertreffen. Die einstige ukrainisch-dörfliche Herkunft, die immer mal wieder herbeizitiert wird. Wo geht es hin? Wer bin ich? Was ist künstlerischer Erfolg? Und wer darf eigentlich meine Tochter heiraten?

Selten ist man in so gebündelter Form – das Stück hat eine perfekte Länge und funktioniert ohne Pause – gleichzeitig mit Informationen zum jiddisch-jüdischen Leben, mit Spielfreude, mit zu Tränen rührenden Theatersituationen, mit selbstgespielter Zwischenmusik und mit Gags, die einen nie ermüden, sondern stets energetisieren, beschenkt worden. Das sollte man nicht verpassen.

Bei uns im Angebot am 20. und 21. Oktober, sowie vom 4. bis zum 6. November. Hier geht es zu den Karten.

Friedrichstadt-Palast: - „ARISE Grand Show“

The Love of Light is Divine  © Nady el Tounsy
The Love of Light is Divine © Nady el Tounsy

»Das Leben von Cameron ist wie seine Bilder: aufregend und voller leuchtender Farben. Mit seiner Muse fliegt der berühmte Fotograf um die Welt. Sie ist alles, was er liebt und Inspiration für seine Kunst. Als er seine Muse verliert, reißt es sein Glück in Stücke.« So lesen wir auf der Seite des Friedrichstadt-Palasts.

Das ist der Ausgangspunkt, der rote Faden der neuen (elf Millionen Euro teuren) Produktion – „ARISE Grand Show“ –, in der mächtig auferstanden wird und viele erstaunliche Comebacks gefeiert werden. Nicht zuletzt das Comeback des Publikums. (Im Gegensatz zum Schlosspark Theater und zur Vaganten Bühne darf im Friedrichstadt-Palast jeder Platz besetzt werden.)

Auch hier macht sich ein Protagonist auf die Reise. Vereinzelt wird das Thema »Fotografie« – projektionstechnisch wie immer unvergleichlich eindrücklich – bildlich vermittelt. Leicht philosophische Songs und (nicht immer überzeugend) gerappte Passagen drehen sich, Übergänge bildend, um Fragen wie: »Lässt sich die Zeit aufhalten?«, »Wie nutze ich die Zeit für mein Leben?« und finally: »Was ist die Zeit schon im Vergleich zur Liebe?«

Böse gesagt: Diese Show ist wie jede (grandiose) Show im Friedrichstadt-Palast: grandios. Es wird (teils ganz klassisch) getanzt, 32 Damen werfen ihre Beine schnurstracks und synchron in die Luft. Man singt von der Liebe, vom Frieden – und davon, dass wir alle selbstverständlich nicht rassistisch sind. Eine Behauptung, die konterkariert wird von den Tänzerinnen, von denen nur eine einzige, zudem mit blonder Perücke bestückt, eine Person of Colour ist.

Dabei sind vor allem die internationalen Akrobatinnen und Akrobaten fantastisch. Man schafft es hier im Friedrichstadt-Palast jedes Mal, klassischer Akrobatik das entsprechende Fünkchen Neuheit, den pfiffigen (und gefährlich ausschauenden) Kniff abzuzwacken. Zwei große Schaukeln, rechts und links postiert, bauen sich gewaltig gegeneinander auf. Man springt, Salti und Schrauben in höchster Höhe vollziehend, von einer Schaukel zur anderen. Bewegliche Ziele, perfekte Körperbeherrschung.

Zum künstlerischen Höhepunkt wird eine zunächst kammermusikalische Tanzszenerie eines Mann-Frau-Pärchens, das in ihrem vom Lichtkegel beleuchteten Liebesspiel plötzlich von grünen Kriegern überfallen wird. Die entsprechend brutal wummernde Musik untermalt dies mit Kostüm und schwerem Gerät (Eisenstangen schlagen aneinander). Die Songs des Abends, angeblich komponiert von Conchita Wurst, bleiben nicht im Ohr (aber das blieben sie hier noch nie). Bald kommt ein Cimbasso, eine Art abgeknickte Posaune, solistisch zum Einsatz, wie überhaupt dieses Mal klassische Instrumente expliziter als früher »präsentiert« werden. Die kleine Nerd-Ecke für Freundinnen und Freunde klassischer Musik, die sich hier – verängstigt umgeben von klatschfreudigem Allgemeinpublikum – leise, still und heimlich abgeholt fühlen dürfen.

Der berühmte Wasserfall kommt zum Einsatz, diverse Kostümkreaturen, Fantasy-Heuschrecken und Prêt-à-porter-Monster wackeln, wuselige Wimmelbilder kreierend, über die Bühne. Doch manche Songs dazwischen sind zu fad, die Ansprache der »Muse« des Fotografen nach etwa 30 Minuten ist zu lang. Ja, wir freuen uns auch, euch auf der Bühne endlich wiederzusehen. Das haben wir jetzt aber schon etwas zu häufig gehört. Und, komm, sei ehrlich: Deine Worte sind nur dafür da, damit im Hintergrund die millionenschweren Bühnenmodule für den nächsten großen Akt entsprechend vorbereitet werden können.

Neu ist die noch größere Einbeziehung des Lichts. Immer wieder gelingen dadurch immersive Situationen. Doch der Abend ist dadurch auch sehr grell, die Stille, die temporäre Dunkelheit fehlen. Der Platz zum Atmen. Wo bleiben die feinen und sanften Künstlerinnen und Künstler, wo bleibt die kleine Seifenblasen-Nummer, wo der Mut zum vorübergehenden Kammerspiel? Stattdessen werden wir immer wieder geblendet – und die Musik ist so laut wie nie.

Die Show wird trotzdem ihren Weg machen. Das gönnt man dem Friedrichstadt-Palast-Team, das allein im Service-Bereich so perfekt funktioniert wie wohl nirgendwo auf der Welt. Niemand wartet mehr als zwei Minuten an der Garderobe und beim Catering. Alle sind immer freundlich und professionell. Das ist herrlich untypisch für Berlin. Hingehen!

Termine bis Februar bei uns im Angebot. Hier geht es zu den Tickets.

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