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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 465

Kulturvolk Blog | Reinhard Wengierek

von Reinhard Wengierek

22. Januar 2024

HEUTE: 1. Komödie am Kurfürstendamm im Ernst-Reuter-Saal – „Das Huhn auf dem Rücken“ / 2. Volksbühne – „Fantomas“ / 3. Buch-Tipp – Zum 1. Todestag von Jürgen Flimm: Seine Memoiren „Mit Herz und Mund und Tat und Leben“

1. Komödie in Reinickendorf - Geistreiches Tollhaustheater

"Das Huhn auf dem Rücken" in der Komödie im Ernst-Reuter-Saal © Dennis Haentzschel

Margret Kobald heult: Ihr 50. Geburtstag, und ihr Gemahl ist die Treppe abwärts gestürzt. Es hat geknackt. Das Genick. Also tot. Verzweifelt stürzt sie zum Nachbarn: Was tun? 

Viel, sehr viel tut sich nun zwischen der Hausfrau (arg vernachlässigt) und dem Musiker Sebastian Bonsch (arg unbefriedigt, einsam, geschieden). War es Unfall, Totschlag, Mord? Was zu klären wäre („Bloß nicht die Polizei rufen!“). Das wiederum führt zum aberwitzig komischen, grotesken Verwirrspiel bis zum Rand des Wahnsinns. Bei beiden!

Und das ist das raffiniert Intelligente, immer wieder spektakulär Überraschende dieser furiosen, freilich tragisch grundierten Komödie „Das Huhn auf dem Rücken“ von Fred Apke. Tragen doch alle beide ein schweres Stück Daseinsunglück mit sich, das im erregten Hickhack verdrängter Wahrheiten aus ihnen herausbricht. Die Leiche auf der Treppe als Anlass, vertane Lebensentwürfe im rhetorischen Großeinsatz sich gegenseitig an die Köpfe zu knallen.

Das wird von den Großkomödianten Janina Hartwig und Sebastian Goder unter der präzisen Regie von Christian H. Voss zu tollem Theater. Da fallen und steigen die Temperaturen, blitzen Intimitäten, schäumt Abscheu, kochen Wut und Selbsthass – gleich einer Ehe-Hölle. Deren Flammen am Ende dennoch einen Hauch Glückseligkeit belichten. Und da hinein kippt Schreckliches. Bizarre Pointe! Und hinterher kracht noch eine! – Mehr wird nicht verraten. Also nüscht wie hin!

Komödie am Kurfürstendamm im Ernst-Reuter-Saal, Rathaus Reinickendorf,(Bis 25. Februar.). Hier geht’s zu den Karten.


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2. Volksbühne - KGB beim FBI in USA

"Fantomas" in der Volksbühne © Apollonia T. Bitzan

Ein verschusseltes Chaoten-Paar vom KGB taucht unter in den USA (Kathrin Angerer, Benny Claessens). Das Rumpelkammerhaus hat keine Wände, also tackert man ein Sternenbanner als Sichtschutz ans Lattengerüst (Bühne: Leonard Neumann). Ein schlacksiger FBI-Man mit Schlips, Schlabberhosen und Fluppe zwischen den Lippen fuchtelt wie ein Mafia-Onkel unentwegt mit der Kanone (Martin Wuttke). Und zwischendurch geistert ein schwarzer Flattermann herum: Aha, der Großgangster, das berühmte Verwandlungsgenie namens Fantomas. 

Fantomas“ ist denn auch der Titel des neuen Werks von René Pollesch, diesem so irritierend schnellen Vielschreiber; nebenbei noch beschäftigt als Intendant.

Nun treibt er schon wieder in einer kaum ergründbaren Text-Collage die Postdramatik auf die Spitze – oder anders: ins Neblige. Also kein Plot, keine Handlung, nur schwer erkennbare Figuren. Und auch kein (zumindest vage) nachvollziehbarer Bezug zur Wirklichkeit. – Da wird naiv gefragt, was Terrorismus sei und eine verschusselte Bombe unter Bett und Sofa gesucht. Aber irgendwo tickt da was (etwa der Wecker?), derweil draußen in der Welt, jenseits von Bühnenwitzelei, die Bomben in echt nur so krachen.

Abgesehen von solch peinlicher Abgehobenheit wollte Pollesch – etwa als charmante Geste oder bloß epigonal? – mal ganz auf Old-Castorf-Volksbühne machen. Dazu gehört, wi
r zählen auf: Schamlose Überlänge, Video, Schnipsel-Dramaturgie, sichtbarer Einsatz der Souffleuse; Slapstickiaden, gezielte Improvisation und naturalistische Vermüllung einzelner Spielorte, etwa die Wohnhöhle der Sowjet-Spiogenten. Aber wie immer und schon damals: Tolle Solisten! 


Artistisch rasende Sprechmaschinen 


Das zumindest zieht immer: Stardust! Da wagt es keiner, die sich länglich spreizende 265-Minuten-Veranstaltung vorzeitig zu verlassen. Brave Freaks. Immerhin wurde das Durchhalten erleichtert durch das artistische Nummernprogramm der ins Leere rasenden Sprechmaschinen – mit höchster Genauigkeit zu beobachten auf herumhängenden Riesenleinwänden. Das Antlitz der betörend schmollenden, ewig girlie-haften Kathrin Angerer, zuckersüß und doch durchtrieben; die dauerhaft entsetzte, gehetzte, verschwitzte, erregt kreischende Hysterika Benny Claessens und natürlich der gelenkige Superschlacks Wuttke. Eine Sache für Formalisten, Spezies, Liebhaber. Aber sonst? 

Volksbühne, 23. Januar, 19. Februar, 8. März. Hier geht’s zu den Karten.

 

3. Buch-Tipp - Vollbluttheaterfritze Flimm

 © Hermann und Clärchen Baus
© Hermann und Clärchen Baus

Das schönste Theater ist: Ein volles Theater!“ – Flottes Motto, das Jürgen Flimm, frisch installierter Direktor des Kölner Schauspiels, anno 1979 mit Mut und Karacho in die Stadt schleuderte. Und sofort begann das intellektuelle Stirnrunzeln: Volles Haus, doch geistige Leere…? 

Dabei war der Neu-Intendant seit seinem Sensationserfolg fast ein Jahrzehnt
zuvor mit Fassbinders „Bremer Freiheit“ am Hamburger Thalia längst eine vielgefragte Berühmtheit als geistvoller Regisseur. Die Folge damals: Ein „dicker Strauß“ von Angeboten für verführerische Intendanzen an ersten Häusern (und für Regie sowieso). Doch zunächst wollte er die „Last der Intendanterei“ lassen, sich lieber frei inszenierend tummeln. Doch dann kam der Ruf aus Köln... 

Flimm, in Gießen geboren (1941), wuchs auf im „heiligen Köln“; hatte dort schon als Knabe unvergessliche, lebenslang lebendig bleibende Kunsterlebnisse. Etwa mit Johann Sebastian Bach in der Aula der Albertus-Magnus-Universität (das Gürzenich war zerbombt). Und so überschrieb er denn seine Memoiren mit einem Zitat aus der den Glauben und die höheren Mächte preisenden Bach-Kantate Nr. 147: „Mit Herz und Mund und Tat und Leben“.

Was für ein Bekenntnis zur Kunst der Altvorderen! Zur Poesie! Zur Dramatik! Und zugleich das passende Motto für all seine Theaterarbeit. 


Besuch der alten hohen Schule 


Im Theater passiert alles zum ersten Mal.“ Alte Weisheit und früh begriffen bei Flimms Assistenzen. Das war die Lehrzeit jenseits der Uni in Theater-München. Beim „Textwüterich Fritz Kortner“; beim „väterlichen Paul Verhoeven, der mit Laune, Lachen, Komik etwas Neues in die Regieluft brachte“. Oder beim „Wiener Unterhaltungskünstler Otto Schenk“. „Da lernte ich bösartige Beobachtung mit mildem Sarkasmus zu ummanteln. Sein Inszenieren aus dem Herzen – für mich Lehrstunden der Regiekunst. Welch gute, alte hohe Schule!“ 

Im Kontrast dazu die Herumtreiberei des 68er Jungspunds quasi als Freak und Groupie im provokanten Avantgarde-Milieu um Stockhausen, Bernd Alois Zimmermann oder den Fluxus-Leuten um Beuys (und im Kino: die Nouvelle Vague). 

In Köln, als regieführender Intendant, fügte er all das mit seinem Können und Sinnen zum bejubelten Stadttheater-Gesamtkunstwerk: Er führte Pina Bausch, Luc Bondy, Jürgen Gosch, George Tabori oder Robert Wilson zu spektakulärem Ruhm, holte lokales Volkstheater (Millowitsch) sowie Popkultur (BAP) ins Haus, machte sich in der ganzen Stadt breit mit Nebenspielstätten (damals noch eher unüblich) und rief obendrein das Gastspiel-Festival „Theater der Welt“ ins Leben. 

Was für ein lebenspraller, zugleich avancierter Betrieb: Kölsch und Starkbier, Klassisches, Anti-Klassisches, Rummel, Provokation und heiliger Ernst nebeneinander. Für Flimm, der sich selbst als „Vollbluttheaterfritze mit Hang zum Zirkusdirektor“ sah, war es das „tolle rheinische Theater-Abenteuer“. Das verinnerlichte er, behielt es bei als Methode und Marke. 


Die Spieler, Spielerinnen stehen über allem 


Denn Verkopftes lag ihm überhaupt nicht, schon als rockiger Lederjacken-Schlacks nicht. Er war von zwar nachsichtiger, aber illusionsloser Diesseitigkeit. Hatte einen ausgeprägt unbestechlichem Sinn für die prosaische Wirklichkeit einer jeden Bühnenfigur. Und konzentrierte sich aufs genaue Erzählen von Geschichten – unter strenger Beachtung der „Basisfragen“: „In welche historische Periode steigen wir ein; wie weit entfernen wir uns von der Vorlage; wie viel Kommentar verträgt sie?“

Logisch, dass da über allem – was gegenwärtig gern vernachlässigt wird (Flimms Seitenhieb aufs Heute) – der Schauspieler steht. „Er ist das Medium des Theaters“, so das Credo. Und entsprechend liebte er seine Spieler und Sänger. Mit Herz und Mund und Tat. 

Zu dieser Liebe gehört ganz praktisch bei der Arbeit: Das Zulassen eines, wie er es nennt, „Pingpong“ zwischen Darstellern und Regie. – Und: „Zwischen Schauspieler und Publikum darf sich nichts dazwischenschieben; vor allem nicht der Regisseur.“ Ein erstaunlicher Grundsatz, der für Diskussionen sorgt. Immerhin: Seine guten Grundsätze machten ihn – bewundert und beneidet – zum „gewieften Wirkungsmechaniker“.

Dabei stürzte er keine Throne. Sondern nahm sie sich und hielt so machtbewusst (und launenhaft) wie generös und lustvoll Hof. Nach Köln begann 1985 in Hamburg die zweite legendäre Intendanz am Thalia. Dann die Chefstellen Bühnenverein, Salzburger Festspiele, Ruhrtriennale. Daneben internationaler Opernregie-Reisekader und schließlich 2010 die Spitzenposition an der Berliner Staatsoper mit Herzensfreund Daniel Barenboim. – Eine kräftezehrende Herausforderung: Erst Einweihung des renovierten Schillertheaters als Interim für die jahrelange Grundsanierung des historischen Hauses Lindenoper, dann der Nervenkrieg um dessen Wiedereröffnung, die beständig verschoben wurde. 


Was für ein Kerl! 


Ja, er war einer der letzten großen Meister aller Klassen, der da just vor einem Jahr im Januar 2023 starb. Ein Theaterglückskind. Ein schillernder Zampano mit der für die Branche eher seltenen Tugend: Kollegen unterschiedlichsten Temperaments zu locken, zu binden, groß werden zu lassen. Und er war ein Mann der Treue, ein Genie der Freundschaftspflege (sowie geschäftigen Netzwerkens) mit Zelebritäten aller Arten in Kunst, Wissenschaft, Politik. Mit Stars und Sternchen in aller Welt oder fleißigen Handwerkern von der Hinterbühne. 

Jürgen Flimms letzter, noch einmal überrumpelnd starker Coup: Das gewitzt und pointiert und beglückend poetisch geschriebene Lebensbuch. Gefüllt mit Theater-, Kunst- und Daseinsweisheiten. Und mit Anekdoten, die signifikant ganze Szenen deutscher Theatergeschichte aufreißen.

Jürgen Flimm, „Mit Herz und Mund und Tat und Leben“; Kiepenheuer & Witsch, Köln 2024, 350 Seiten, 26 Euro. 


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Extra-Tipp: Wir gratulieren Katharina Thalbach zum 70.! 
Mit Nachschlagen bei Shakespeare: Seine Dramen im Hörbuch; eingelesen von Thalbach.
Motto: „
Mach’s gut, mein Monster“. Was für ein Genuss: Kathi und Willi!
(
mehr dazu im Blog Nr. 333 vom 23. März 2020) 

 

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