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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 448

Kulturvolk Blog | Reinhard Wengierek

von Reinhard Wengierek

11. September 2023

HEUTE: 1. Schlosspark  Theater – „Onkel Wanja“ / 2. Berliner Ensemble – Phädra, in Flammen“ / 3. Extra-Tipp: Kleines Theater am Südwestkorso – „Die Deutschlehrerin“

1. Schlosspark Theater - Schönwetter zum sich aufhängen

"Onkel Wanja" im Schlosspark Theater © DERDEHMEL/Urbschat

"Wohin kommt man mit Ihren Helden? Vom Sofa bis zur Abstellkammer“, schrieb Tolstoi an Tschechow. Dabei passiert den Sofahelden auf so kurzem Wege unendlich viel – obgleich ihr Dasein stockt und festgefahren ist. Da krachen Herzensexplosionen, Wutexzesse, Egotrips, Zukunftsträume, gellen Einsamkeits- und Verzweiflungsschreie, dräuen gar Vernichtungsfantasien und Todesträume – doch all das zusammen zielt ins Leere. Gigantischer Unglücks-Stillstand voll innerer Erregung. Viel Trinken, Lamentieren, Sinnieren, aber nix tun. So geht das bei Anton Tschechow. „Ich bin geblieben, wie ich war, bloß schlimmer“ ätzt Gutsverwalter Onkel Wanja gegen sich und bringt es auf den Punkt inmitten der mit Sinnsuchenden und Selbstverlorenen bevölkerten „Szenen aus dem Landleben in vier Akten“. 


Aus Szenen werden Augenblicke


Jetzt, am Volkstheater Schlosspark, das – gut so! ‑ keine Berührungsängste hat vor großer Literatur, inszenierte der international erfahrene österreichische Regisseur Anatol Preissler den weltberühmten Klassiker „Onkel Wanja“. In seiner mit Gegenwarts-Pointen garnierten, ansonsten dicht beim Original bleibenden Neuübersetzung (gemeinsam mit Ehefrau Ekaterina Bezghina) heißt es jedoch im Untertitel: „Ein Leben in vier Augenblicken“. 

Das ist neu und klug formuliert und entspricht der geschickt gestrafften Textfassung. Auch
Preisslers Bühnenbild passt dazu. Das Anwesen in russischer Provinz: Ein Allerwelts-Raum im IKEA-Look. Die Wände in sattem Blau, die Möblierung knallrot. Wir verstehen: Da ist einerseits das ausweglose Auf-der-Stelle-Treten des Lebens (blau). Anderseits das vergeblich dagegen trotzend Neurotische (rot). Da sind die Tragik der Agonie, der Schmerzen und Lebensleere und demgegenüber die Komik der Figuren, die hervorbricht bei der verrückten wie hilflosen Anstrengung, womöglich doch irgendwie den Daseinsknast zu knacken. 


Zwischen flotter Komödie und irrer Klamotte


Wir sehen: Blau und Rot ‑ ohne Zwischentöne. Eben Augenblicke; vor allem rote. Vornehmlich auf die derart gefärbten Momente setzt die Regie: Aufs Komödische ‑ bis hin zur Klamotte, Groteske. Keine Sorge, auch das steckt im Stück. Hier freilich wird’s besonders kräftig skizziert. Also weg vom sozial wie psychologisch vielfarbigen Zeichnen der armen Einsamkeitsfiguren. Hin zum Holzschnittartigen; aber flott unterhaltsam, spaßig, mit gelegentlich eingestreuter Bitterkeit. Und natürlich witzig: „Schönes Wetter heute! Genau richtig zum sich Aufhängen.“
Tschechow, der geniale Weltmeister im dramatischen Doppelpack Tragödie-Komödie, der verkraftet vieles, eigentlich alles. Auch überbordend grelles Rot mit bloß einigen Tupfer
n Dunkelblau. 


Neurosenkollektiv summt Russenlieder 


Das Ensemble der sinnsuchenden und doch selbstverlorenen Unglücksraben hält da wacker mit und sogar gelegentlich inne. – Um den Kern zu nennen: Boris Aljinovic gibt den schüchternen, grämlich in sich gekehrten Onkel W., Mark Weigel den stürmisch idealistischen, sarkastisch blitzenden und resignierenden Arzt Astrow; die heimliche Hauptfigur. Und Dagmar Bernhard als vernachlässigt verheiratete Jelena ist das von beiden Herren unerfüllt begehrte erotische Subjekt. Es stöckelt zickig, aber mit Hüftschwung auf High-Heels und klimpert schließlich verbittert und ratlos auf dem Klavier. Zwischendurch wird russisches Liedgut geträllert. Am Ende findet man sich nach allerlei Irrungen und Wirrungen zerknirscht zusammen beim kollektiven Gesumm eines wehen Popsongs. Der Rausschmeißer ins 21. Jahrhundert. Auf Englisch. Das erstaunte Publikum ist gerührt, dann heftig hingerissen.

Schlosspark Theater, bis zum 15. Oktober. Hier geht’s zu den Karten.

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2. Berliner Ensemble Neues Haus - Raus aus dem Zwangskorsett der Männerdiktatur

"Phädra in Flammen" im Berliner Ensemble © JR Berliner Ensemble

"Bin ich 20 Jahre lang nicht gut darin gewesen, meine Sehnsüchte zu amputieren; nicht gut genug zu tun als ob, zu lächeln als mir speiübel ist, mich zu ergeben als in mir der Krieg tobt; 20 Jahre lang nicht gut genug im Erdulden und Wegsehen…?“ 

Eine starke Frau in lodernder Wut! Sie hockt am Bühnenrand und kotzt den Frust aus. Als beiseitegeschobene Ehefrau des machtbesessenen Kraftlackels Theseus, König von Athen. Als Mutter zweier Söhne, Demophon, der seiner Thronfolge entgegenharrt, und Acamas, der Kleine mit dem weichen Herzen, der, so der Mutter Rat, hart werden muss, um nicht für immer ein armer Gefangener zu bleiben. So wie sie, Königin des brutal regierten Athener Reichs, die nichts wie raus will aus dem Zwangskorsett der Konventionen, der politischen Repression, Regression und religiösen Diktatur des Hohepriesters Panopeus. 

Damit ist von Anfang an klar: „
Phädra, in Flammen“, das neue Stück von Nino Haratischwili, erzählt vom Versuch einer feministischen, zugleich politischen Emanzipation. 


Überschreibung eines Klassikers der Weltliteratur 


Die vierzigjährige deutsch-georgische Autorin wurde berühmt für ihre grandiosen Romane „Das achte Leben (für Brilka)“, „Die Katze und der General“ oder zuletzt „Das mangelnde Licht“. Das mit zahlreichen Preisen ausgezeichnete epische Werk machte ihr genug Mut, jetzt einen Klassiker der Weltdramatik zu überschreiben: „Phädra“ von Jean Racine (1639-1699), die philosophisch weit ausgebreitete, seelisch tief lotende Tragödie einer mythischen Königin, die sich, kurz gesagt, unglücklich in ihren Stiefsohn verliebt und daran zugrunde geht. Selbstmord.


Die Königin ist non binär 


Das Update 350 Jahre später besteht nun darin, dass Phädra zwar wiederum in Liebe entbrennt, doch diesmal zu ihrer künftigen Schwiegertochter, nämlich die zur Heirat mit Demophon auserkorene blutjunge Persea, die wiederum heftig zurückliebt. Reife Frau in den Wechseljahren (in Georgien nennt man diesen Zustand „Frau in Flammen“) in kurz aufflammender Glückseligkeit mit kesser Jungfrau. Die eine schaut auf und bewundert die andere und die wiederum sieht in Persea all das, was in ihr zertreten und verbraucht wurde. 

Eine aufregende, schöne lesbische Sache, doch im stockreaktionären Athen ein Sakrileg, ein Skandal moralisch und politisch. Das strengstens verbotene Verhältnis wird entdeckt, die Katastrophe nimmt ihren Lauf unter Führung des fundamentalistischen Priesters. Persea, zur Hexe stigmatisiert, wird als Menschenopfer und Sündenbock vorm blutrünstig aufgepeitschten Volk den Hunden zum Fraß vorgeworfen, das königliche Ehebett – kein Selbstmord! – wieder hergestellt und somit die gute schlimme Ordnung im Götterhimmel wie in der Gesellschaft. 


Plakative Familienaufstellung 


Aufregende Sache, diese Geschichte vom so schmerzlichen Scheitern eines Glücksanspruchs. Wenn auch das Feuer der Klimakteriums-Krise zuweilen allzu heftig lodert. Befremdlich allerdings: Die unerwartet plakative Zeichnung der Figuren. Und seltsam für die ansonsten enorm sprachsensible Autorin, dass da einerseits eine poetische Sprache herrscht (Phädra: „Ich will zurück in den Uterus meines Lebens.“); anderseits ein vulgärer Zeitgeist-Ton („Schwanz“, „Titten“, „Arschloch“). 

Schade, dass die uninspirierte Regie der niederländischen Filmregisseurin
Nanouk Leopold den Schwächen im Script theatralisch kaum aufhilft. Vielmehr arrangiert sie in zwar böser, aber vorhersehbarer Ordnung eine Familienaufstellung mit gelegentlichen Ausfällen ins Komisch-Groteske. Im Vergleich zu Racine: Unterkomplex. Aber mit aktuell politischem Ausrufezeichen: Rechtspopulismus, Demagogie, Homophobie, Patriarchalismus, Feminismus, Fundamentalismus, Gewaltherrschaft. Kompendium komplett. Das wache Publikum reagiert korrekt angefasst.

Und feiert die große
Constanze Becker in der Titelrolle, die sich ruppig mit zuweilen einer traurigen Träne im Gewand als Phädra durch ihre sarkastischen Wortgewitter bohrt. Ihr tumb-dreister Gemahl (Oliver Kraushaar) dröhnt halbnackt in Lederhose und Bärenfell, Paul Herwig als faschistoider Polit-Priester pflegt hämisch-lüsterne Aashaftigkeit und Lili Epply als Girlie in Love frühreifes Selbstbewusstsein. Alldem steht die männliche Jugend (Maximilian Diehle und Paul Zichner als Demophon und Acamas) hilflos betroffen gegenüber. 

Und alle zusammen gehen zwischen Videowänden mit flimmernden Blumen-, Wüsten- oder antiken Ruinenbildern auf und wieder ab. Oder schaufeln in der Bühnenmitte in einem mit rotem Sand gefüllten Kasten. Vielleicht geronnenes Blut, die Hinterlassenschaft rücksichtslos menschenverachtender Machtpolitik. 

Berliner Ensemble, 19. und 20. Oktober. Hier geht’s zu den Karten.

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3. Extra-Tipp Kleines Theater am Südwestkorso - Zimmerschlacht auf leisen Sohlen

"Die Deutschlehrerin" im Kleinen Theater © Joern Hartmann

Große Liebe, Traumpaar, Trennung, Wieder aufeinander treffen nach 16 Jahren: Spannendes Mann-Frau-Duell im Roman „Die Deutschlehrerin“ von Judith W. Tischler. Wiederaufnahme der erfolgreichen Bühnenfassung mit Birge Schade und Markus Gertken (Regie: Karin Bares) am 23. September, 20 Uhr, am Südwestkorso.
Auch am 24. 9. (18 Uhr) und am 27.9. (20 Uhr). Hier geht’s zu den Karten.

Wer mehr dazu lesen will: Kulturvolk-Blog Nr. 407 vom 12. September 2022.

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