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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 444

Kulturvolk Blog | Uwe Sauerwein

von Uwe Sauerwein

12. Juni 2023

HEUTE: 1. HANS OTTO THEATER POTSDAM – „WIE ES EUCH GEFÄLLT“ / 2. RENAISSANCE-THEATER – „EINSZWEIUNDZWANZIG VOR DEM ENDE“ / 3. DEUTSCHE OPER BERLIN – „IL TEOREMA DI PASOLINI“

1. Hans Otto Theater - Liebe als seltsames Spiel

"Wie es euch gefällt" im Hans Otto Theater © Thomas M. Jauk

Es blökt und meckert aus allen Richtungen. Eine Schafherde begrüßt das Publikum im Sommertheater am Tiefen See. Lammfromm geht es trotzdem nicht zu in „Wie es euch gefällt“. William Shakespeare ironisiert ein weiland berühmtes Schäferspiel, daher sind die Akteure anfangs unter dicker Wolle, wenn sie gemeinsam einen Choral anstimmen. „Den Seinen gibt’s der Herr im Schaf“ möchte man dazwischenrufen. Es wäre nicht der einzige Kalauer an diesem kurzweiligen Abend.

Sommerzeit ist Shakespeare-Zeit. Der bedeutendste Dramatiker der Weltliteratur entfaltet an der frischen Luft noch intensivere Wirkung. Neben Berlin, bei der Shakespeare Company am Insulaner oder dem Globe in Charlottenburg, auch in Potsdam, mit und vor dem Hans Otto Theater.
Shakespeares Stücke kann man eigentlich überall spielen, selbst auf einem Parkplatz oder einer Müllhalde. Trotzdem freut man sich über diese wunderbare Location, mit Blick auf den Babelsberger Park am Ufer gegenüber werden Sommernachtsträume wahr.

Gerade wenn der Meister die Musentempel ins Open Air verlässt, werden vor allem seine Komödien als das gesehen, was man auch im Elisabethanischen Zeitalter unter Shakespeares Theater verstand, als gehobenes Entertainment. Da hat man keine Scheu vor Slapstick und kessen Sprüchen jenseits von Schlegel. Vor seiner Karriere als Regisseur und Autor arbeitete Marc Becker als Animateur und Spaßkellner. Für seine aktuelle Inszenierung ist das keine Voraussetzung, es schadet aber auch nicht.


Jeder spielt jedem was vor


Selbst deutsche Schlager werden intoniert: „Die Liebe ist ein seltsames Spiel“. Die Betonung liegt auf „Spiel“. Die ganze Welt ist eine Bühne, ein Zitat aus „Wie es Euch gefällt“. Jeder macht dem anderen etwas vor in diesem Stück, da werden Frauen zu Männern, Edelleute zu Schäfern, Zuschauer zu Mitwirkenden. Zu Shakespeares Zeit wurden alle weiblichen Rollen mit jungen Männern besetzt. Im Hans Otto Theater sind dagegen aus den verfeindeten brüderlichen Herzögen zwei schwesterliche Herzoginnen geworden, Frida und Ann, beide im selben Renaissance-Kostüm (Britta Leonhardt), beide gespielt von Kristin Muthwill. Fast alle im zehnköpfigen Ensemble verkörpern mehrere Personen, deswegen schaut man im Publikum anfangs Rat suchend ins Programmheft.

Frida hat die rechtmäßige Regentin Ann ins Exil getrieben, in den Wald von Arden, wo man unter Schäfern ein für Emigranten eher untypisches, weil recht sorgloses Leben á la Robin Hood führt. Anns Tochter Rosalinde durfte am Hof der Tyrannin bleiben, weil sie die beste (und vielleicht nicht nur platonische) Freundin von deren Tochter Celia ist. Doch dann wird auch Rosalinde verbannt, geht mit Celia und dem Narren Touchstone ebenfalls in den Ardenner Wald. Dort trifft sie, als Mann verkleidet, den verzweifelten Jüngling Orlando (Arne Lenk) wieder. Beide hatten sich zuvor heftig ineinander verguckt. Nun kann sie sich aber, weil sie ihre Tarnung nicht aufgeben will, Orlando nicht offenbaren. By the way hat die junge Frau entdeckt, welche ungeahnten Möglichkeiten das maskuline Dasein mit sich bringt.

Die wunderbare Charlott Lehmann lässt sich auch mit Gipsarm nach einem Unfall nicht in ihrem Elan bremsen. Überhaupt merkt man dem gesamten Ensemble in jedem Moment den Riesenspaß abseits der gewohnten Bühne am Spielzeitende an. Musiker Johannes Winde, der auch den Diener Adam spielt, untermalt und kommentiert das Geschehen mit Hammondorgel, Posaunen und anderen Instrumenten, fast das gesamte Ensemble greift immer wieder in die Saiten oder bläst auf diversen Flöten.


Vom schönen Leben in freier Natur


Herrlich überdreht Philipp Mauritz als Narr Touchstone, der einzige Spaßmacher, der in einem Shakespeare-Stück heiratet. Jörg Dathe als Misanthrop Jaques hingegen ehelicht lieber einen Baum. Denn Bäume sind die besseren Menschen. Nicht der politische Konflikt, sondern Zivilisationskritik ist ein großes Thema in dieser Komödie. Passend zum alternativen Leben in freier Wildbahn hat Harm Naaijer eine nachhaltige Bühne aus Holzbrettern gebaut. Auch als Zuschauer spürt man die Natur, sei es durch die Witterung (abends Jacke und am Nachmittag Kopfbedeckung mitbringen), die Rufe diverser Wasservögel und jede Menge Insekten (Mückenschutz ist von Vorteil).

Ja, und bei allem Klamauk, bei allem Spott über „schales Liebesgesülze“, kommen am Ende doch noch große Gefühle durch. Vielleicht der schönste Aspekt dieses wundersamen Sommerspektakels.

Hans Otto Theater, 17., 29. Juni und 7., 8., 9. Juli. Danach weitere Termine. Hier geht’s zu den Karten.


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2. Renaissance-Theater - Der Tod ist auch nur ein Mensch

"Einszweiundzwanzig vor dem Ende" im Renaissance-Theater © Ann-Marie-Schwanke-Siegersbusch

In der Kürze zeigt sich die wahre Meisterschaft. Was für das Verfassen von Zeitungsartikeln gilt, trifft auch auf Abschiedsbriefe zu. „Adieu“, das ist das einzige Wort, das Bernhard der Welt nach seinem freiwilligen Dahinscheiden hinterlassen will. Der Lebensmüde ist praktisch veranlagt. Da er Single ist, kündigt er nur online Versicherungen und Daueraufträge, bevor er aus dem vierten Stock dem Tod auf die Schippe springen will. Doch als er bereits im Fenster steht, klingelt es. Vor der Tür steht – der Tod persönlich. Ein Geselle in schwarzem Kapuzenlook, der aber recht lächerlich ausschaut, wenn er das Gewand ablegt. Überhaupt wirkt der Gevatter ziemlich unsicher. Er muss ja auch noch lernen.

Das mit der Würze in der Kürze gilt auch für das Stück selbst. Der Titel „Einszweiundzwanzig vor dem Ende“ verweist auf die Spieldauer des makabren Spaßes, die wird bei der deutschsprachigen Erstaufführung im Renaissance-Theater auf die Minute eingehalten, schon das eine kleine Meisterleistung. Regisseur Sebastian Sommer und Kostümbildnerin Wicke Naujoks haben im Charlottenburger Haus bereits erfolgreich bei „Happy End“ (siehe dazu auch Blog Nr. 400 vom 13. Juni 2022) zusammen gearbeitet. Diesmal beschäftigt man sich mit einem vorläufigen Happy End. Aufgeschoben ist bekanntlich nicht aufgehoben.

82 Minuten über Leben und Tod. Der französische Autor Matthieu Delaporte, bekannt auch durch Filme und Drehbücher, setzt bei seinen Theaterstücken meist auf ein Dreierteam. Im Schlosspark Theater konnten wir es unlängst bei „Das Abschiedsdinner“ (siehe dazu auch Blog Nr. 418 vom 28. November 2022) erleben. Bei Delaporte kommt immer jemand zu Besuch, mit fatalen Folgen.


Im falschen Stockwerk


Dass man mit dem Sensenmann verhandeln möchte, dafür gibt es in der Literatur ja einige Beispiele. Doch selten zeigt der Tod so viele menschliche Schwächen wie in dieser schwarzen Komödie. Bernhard muss ihn mental beim Abmurksen aufbauen: „Sie schaffen das.“ Aber es klappt einfach nicht. Der Selbstmörder geht weitaus strukturierter zu Werke als der vermeintliche Profi in Sachen Ableben. Warum Bernhard abtreten möchte, wird ganz langsam deutlich. Es liegt nicht nur an der depressiven Umgebung, der Wohnküche in tristem Farbton (Bühne: Alexander Grüner), sondern vielmehr an der Einsamkeit. Mit 38, er sieht aus wie 50, hatte Bernhard noch nie Sex.

Der Tod wiederum ist ein blutiger Anfänger, kommt frisch vom Seminar. Seine Firma arbeitet streng hierarchisch. Karl-Heinz, der Vorgesetzte ruft wiederholt an. Es stellt sich heraus, dass man sich im Stockwerk irrte. Eigentlich ist Clara an der Reihe, die Frau von oben, die bereits den Gashahn aufgedreht hat.

Das Trio auf der Bühne spielt erstmals im Renaissance-Theater, alle drei sind aber bekannte Gesichter aus Film und Fernsehen. Aljoscha Stadelmann als Bernhard und sein Gegenpart Harald Schrott (der, kaum zu glauben, 20 Jahre nicht mehr Theater gespielt hat) setzen auf Tempo und Situationskomik, brillieren in wilden Wortgefechten und schaukeln sich gegenseitig hoch. Julia Jäger ist da etwas außen vor, sie kommt erst spät dazu und muss als ebenfalls auf den Freitod erpichte Nachbarin depressiv wirken. Denn in dem Moment, wo Bernhard sich in der Lage sieht, die von ihm im Stillen verehrte Clara zu retten, findet er selber neuen Lebensmut. Der überträgt sich aufs Publikum, das bei der Premiere hörbar seine Freude hat an diesem munteren Stück über ein düsteres Thema.

Renaissance Theater, 27., 28., 29., 30. Juni und 1. Juli. Danach weitere Termine. Hier geht’s zu den Karten.


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3. Deutsche Oper - Der diskrete Schwarm der Bourgeoisie

"Il Teorema di Pasolini" in der Deutschen Oper Berlin © Eike Walkenhorst

Ein Gast, der alles auf den Kopf stellt, bestimmt auch die umjubelte Uraufführung in der Deutschen Oper. In „Il Teorema di Pasolini“ trifft es eine Familie des Mailänder Großbürgertums. Niemand kann der erotischen Anziehungskraft des ominösen Besuchers widerstehen. Weder das Dienstmädchen, das der gut aussehende junge Mann vor dem Selbstmord (am Gasherd) bewahrt, bevor sich beide einander hingeben. Noch Mutter, Tochter und Sohn des Hauses. Sogar der Patriarch erliegt den Reizen des namenlosen Gastes. Als der Besucher wieder abreist, beginnt die große Sinnkrise. Jedes Familienmitglied entdeckt auf seine Weise die verloren gegangenen Idee von Liebe und Menschlichkeit wieder, scheitert aber brutal an der Umsetzung.

Weil die Konventionen ins Trudeln geraten sind, muss die Familie zerbrechen. So ist das halt in der Bourgeoisie. „Il Teorema“, 1968 als Roman und Film veröffentlicht, gehört zu den radikalsten Arbeiten im an Skandalen nicht armen Oeuvre des Pier Paolo Pasolini. Ob sexuelle Unterdrückung, kapitalistische Ausbeutung oder politische Zwänge, für alle Missstände machte der italienische Künstler das Bürgertum verantwortlich, das er bis zu seiner Ermordung 1975 unablässig anging.

Giorgio Battistelli hatte bereits Anfang der 1990er Jahre eine einstündige Kammeroper für stumme Sänger und einen Erzähler komponiert. 30 Jahre später wagte er sich erneut an „Il Teorema“. Für das imposante Musiktheater, Auftragswerk der Deutschen Oper, sah sich der heute 70-jährige zu recht gefeiert.


Man hört mehr, als man sieht


Es gibt nicht den Battistelli-Stil. Der aus der Nähe von Rom stammende Komponist schöpft aus, wie er es nennt, „musikalischen Sonnensystemen“, sehr pragmatisch am jeweiligen Stoff des Musiktheaters orientiert. So ist auch „Il Teorema di Pasolini“, anders als der Titel nahe legen könnte, keine tönende Theorie. Neue Musik natürlich, die jedoch anzieht statt abschreckt, mit Anleihen aus dem Jazz und vielen ironischen Seitenhieben. Nicht nur, was das Sexuelle betrifft, hört man mehr als man sieht. Dank des Farbenreichtums im Orchester, reizvoll präsentiert unter Leitung von Daniel Cohen, aber auch der Gesangspartien der sechs Solisten. Der Radius reicht vom bloßen Atemgeräusch über strahlenden Gesang bis zum Schrei. Die Musik drückt vieles aus, was die Personen unfähig sind zu kommunizieren und ebenso einiges, was die Inszenierung nur andeutet, wenn auch bildgewaltig.

Das angesagte irisch-englische Regieteam Dead Centre arbeitete für „Il Teorema di Pasolini“ erstmals an einem Opernhaus. Es ist ein multimediales Ereignis geworden, Oper 2.0 gewissermaßen. In Nina Wetzels Ausstattung wird die Bühne zum überdimensionalen PC-Bildschirm eines Wissenschaftlers. Ein in weiße Schutzanzüge gekleidetes Forscherteam entsendet den jungen Mann, gesungen von Nikolay Borchev, zur Familie. Wer steckt hinter dem diskreten Schwarm der Bourgeousie, der in einer Art Verkündigungsszene eingeführt wird? Der Satan, Christus, Pasolini persönlich, oder ist er reine Imagination, Projektion unterdrückter Sehnsüchte?

Der Katholizismus spielte, trotz massiver Konflikte mit dem Vatikan, bei Pasolini eine fast ebenso wichtige Rolle wie der Marxismus. Kleine Fenster, an mittelalterliche Tableaus erinnernd, eröffnen den Blick ins Leben der Familie.


Mitfühlen ist nicht einfach


Jede Rolle ist mit einem Sänger bzw. Sängerin sowie mit einem Schauspieler bzw. einer Schauspielerin doppelt besetzt, die Vokalisten agieren zunächst als Wissenschaftler im Labor, die Familie wird von den Schauspielern verkörpert. Mehr und mehr übernehmen die Sänger die Rolle der Familienmitglieder bei deren vergeblichen Ausbruchsversuchen aus gesellschaftlichen Zwängen.

Grandiose Bilder entstehen. Wenn etwa Monica Bacelli als Emilia, die Hausangestellte, hoch durch die Luft gegen gen Himmel gleitet, oder wenn Àngeles Blanca Gulin als Mutter Lucia mit dem Fiat (was sonst) auf der Suche nach Liebhabern durch die Natur fährt. Schade, dass man es ohne große Anteilnahme verfolgt. Die handelnden Figuren singen, so hat Pasolini es vorgegeben, ihre eigenen Gedanken in der dritten Person. Das macht das Mitfühlen schwer. Und darum geht es doch eigentlich immer in der Oper.

Deutsche Oper Berlin, 16. und 21. Juni. Danach weitere Termine. Hier geht’s zu den Karten.

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