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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 440

Kulturvolk Blog | Uwe Sauerwein

von Uwe Sauerwein

15. Mai 2023

HEUTE: 1. Komische OPER BERLIN – „HAMLET“ / 2. BERLINER ENSEMBLE – „HERR PUNTILA UND SEIN KNECHT MATTI“ / 3. NEUKÖLLNER oper – „sCHÖNER WOHNEN“

1. Komische Oper - Wahnsinn mit Methode

"Hamlet" an der Komischen Oper Berlin © Monika Rittershaus

Verrückt oder nicht verrückt, das ist hier die Frage. Hamlet weiß sich nicht zu helfen. Onkel und Mutter haben seinen Vater vergiftet, Claudius wird die Witwe heiraten und den Thron des ermordeten Königs besteigen. So spielt der Prinz von Dänemark den Wahnsinnigen. Nicht zuletzt, um seinen Racheplan geheim zu halten.

„Die Weisesten sind die Irren“, singt der Titelheld in der 1868 in Paris uraufgeführten fünfaktigen Oper. „Hamlet“ ist neben „Mignon“ das bekannteste Werk von Ambroise Thomas und wurde zu Lebzeiten des französischen Komponisten weltweit gespielt. Der Erfolg der Oper aus dem Übergangsstadium von Grand Opera zum Drame lyrique ließ in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts deutlich nach. In Berlin erlebt man „Hamlet“ nun, nach einer konzertanten Aufführung der Deutschen Oper mit Diana Damrau als Ophélie 2019, szenisch in der Komischen Oper. Und man fragt sich, warum dieses prächtige Stück Musiktheater nicht öfter zu erleben ist.

Die Komposition bietet die volle Klangpalette ihrer Entstehungszeit, zwischen pompöser Hofmusik und den feinfühligen Passagen der Beteiligten mit all ihren seelischen Zwangslagen. Thomas ordnete einzelne Instrumente bestimmten Figuren zu. Und er zählt zu den ersten Komponisten, die das neuartige Saxofon in ein Opernorchester aufnahm.


Ophélie wird zur Hauptfigur


Shakespeare auf der Opernbühne war damals en vogue. Michel Carré und Jules Barbier, Stars unter den Pariser Librettisten, orientierten sich weniger am englischen Drama als an der Adaption von Alexandre Dumas dem Älteren und François Paul Meurice. Ophélie, die unglückliche Liebe des Prinzen, wird in der Operndramaturgie zur gleichberechtigten Hauptfigur.

Regisseurin Nadja Loschky hat für ihre Interpretation noch mal genauer bei Shakespeare nachgeschlagen. Yorick, der Narr, kommt dort als Totenschädel in Hamlets Händen bei dessen Monolog „Sein oder nicht Sein“ vor. Hier gibt nun Kjell Brutscheid als sehr lebendiger Spaßmacher das Alter Ego des Titelhelden. Der gebärdet sich ebenfalls als Narr. Mit weiß geschminktem Antlitz ist er auch äußerlich von Beginn an ein Außenseiter in der biederen Szenerie.

Als dänischen Hof entwarf Bühnenbildnerin Etienne Pluss ein Gebäude im Stil des 19. Jahrhunderts, dominiert von einer hohen Treppe. Ein Herrenhaus, ein Landsitz oder ein Hotel, wie in einem englischen Kriminalstück oder dem House of Usher eines Edgar Alan Poe. Die höfische Gesellschaft erscheint in den Kostümen von Irina Spreckelmeyer in kollektivem Bordeauxrot, eine Ansammlung von Liftboys, Pagen und Serviermädchen. Sinnbild für die engen Konventionen, gegen die Hamlet und Ophélie nicht ankönnen, für die große Heuchelei, als die Hamlet die Hochzeit seiner Mutter anprangert.


Surrealistische Bilder


Na ja, Regieeinfall, denkt man anfangs. Doch der Abend wird atmosphärisch immer dichter.
Wenn unter dem Vorhang der Geist des ermordeten Vaters langsam zum Vorschein kommt, erst eine Hand, dann ein Bein, schließlich der gesamte, mächtige Körper des eindrucksvollen Basses Jens Larsen, dann entwickelt sich eine Art Gruselstück. Wir sehen Totengräber mit Melone, Anzug und Aktenkoffern. Nachher, wenn sie Ophélie ins Jenseits begleiten, erscheinen sie kopflos, surrealistische Bilder wie auf einem Gemälde von Magritte. Wenn das frisch vermählte Königspaar und auch Ophélies Vater Polonius mit ihrem Frevel konfrontiert werden, wenn bei Hamlet der gespielte Irrsinn in wahrhaften Wahn umschlägt und seine Geliebte in Verzweiflung sich das Leben nimmt, dann entwickelt die Szenerie neue Stärke.

Das Haus zerfällt, die Fäulnis im Staate Dänemark zeigt Wirkung, der Ort ähnelt immer mehr einem Friedhof. Hier denkt der neue Herrscher Claudius (Tijl Faveyts) am Grab seines von ihm ermordeten Bruders über den Sinn des Lebens und ein Leben nach dem Tode nach. Von immenser Intensität auch die Szene, in der Hamlet seine Mutter, Königin Gertrude, die stimmlich wie darstellerisch großartige Karolina Gumos, brutal ins Gebet nimmt, sie beinahe vergewaltigt, Freuds Ödipus lässt grüßen. Ebenso gut gelöst sind die in der Grand Opera obligatorischen Ballett-Einlagen. In Thomas Wilhelms Choreografie zeigen Doubles des tragischen Liebespaares, wie sich die verzweifelte Ophélie ihre Traumhochzeit ausmalt, die durch die Intrigen unmöglich wurde.


Grausames Happy End


Marie Jacquot
, die junge französische Dirigentin, deckt klangmächtig die vielen Facetten der Partitur auf, bei den lyrischen Momenten könnte sie sich gern ein wenig zugunsten der Solisten zurückhalten. Die amerikanische Sopranistin Liv Redpath zeigt eine beeindruckende stimmliche Entwicklung zwischen Ophélies anfänglicher Schüchternheit als braves Mädchen bis zu den waghalsigen Koloraturen in der berühmten Wahnsinnsarie auf. Genau glücklich ist der Hamlet besetzt mit dem englischen Bariton Huw Montague Rendall, ein schwieriger Name, den man sich merken sollte.

Nachdem Hamlet schließlich Claudius getötet hat, wird er selber zum König gekrönt. Ein „Happy End“, das grausamer ist als der Tod.

Komische Oper, 14., 20, 31. Mai und und 7. Juni. Hier geht’s zu den Karten.


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2. Berliner Ensemble - Das Recht auf Selbstzerstörung

"Herr Puntila und sein Knecht Matti" im Berliner Ensemble © JR Berliner Ensemble

Puntila kotzt. Nichts für sensible Gemüter. Zumal der Blecheimer, in den sich der Gutsbesitzer übergibt, die ekligen Geräusche noch verstärkt. Herr Puntila ist in diesem Moment eine Aquavit-Leiche. Zwei Tage lang hat er sich, verzweifelnd an seiner Macht, seinem Besitz und der damit verbundenen Einsamkeit, mal wieder furchtbar besoffen. In diesen Phasen ist der Ausbeuter ein Menschenfreund, möchte die Welt, sprich seine Untergebenen umarmen, sieht sich sogar als Kommunist. Nur wenn er „sternhagelnüchtern“ ist, muss man aufpassen. Das hat auch Matti, sein Chauffeur erkannt. Er weiß, was er von Puntilas Angebot, seine Tochter Eva zu heiraten, halten muss.

Vielleicht kennen Sie das von Betriebsfeiern. Im Suff darf man den Chef oder die Chefin mal duzen. Tritt danach der nüchterne Alltag ein, werden die Verhältnisse schnell wieder gerade gerückt. So ähnlich, wenn auch gesellschaftskritisch überhöht, verhält es sich in „Herr Puntila und sein Knecht Matti“. Eine Komödie mit Volksstückcharakter, zu dem Bertolt Brecht unter anderem durch das Stück „Sägemehlprinzessin“ der Dichterin Hella Wuolijoki angeregt wurde, auf deren Gut der Dramatiker während seiner Exilzeit in Finnland weilte. Sein Stück über den Gutsherrn Puntila und die Reformunfähigkeit des Kapitalismus steht in engem Zusammenhang mit der Gründung des Berliner Ensembles am Schiffbauerdamm.

Ich habe mir nicht die Mühe gemacht, herauszufinden, wie oft dieses Stück in diesem Theater inszeniert wurde. Was macht nun eine junge Regisseurin wie Christina Tscharyiski, die am BE zuvor unter anderem Brechts „Die Mutter“ (siehe dazu auch Blog Nr. 366 vom 21. September 2021) auf die Bühne brachte, an diesem heiligen Ort mit diesem Stück? Sie zerpflückt es nicht, bleibt nah am Textbuch, betreibt gleichwohl keine Denkmalpflege und setzt auf das komische Potenzial.


Wer beutet heute wen aus?


Kaum Klassenkampf alter Sorte, trotz roter Fahnen. Wer beutet heutzutage wen aus, und wie? Darum geht es in einer Zeit, in der man auch in Berlin täglich mit Streiks, Klimaklebern und anderen Protestaktionen konfrontiert ist. Solistinnen und der 14-köpfige Chor tragen Warnwesten. Kapitalistischer Druck geschieht heute eher individuell. Im digitalen Bereich, in der scheinbaren Selbstständigkeit, mit prekären Verhältnissen, etwa im Journalismus oder im Kulturbereich. Dass die Ausbeutung auch die Natur betrifft, unterstreicht die holzhaltige Bühne von Thilo Ullrich, sie könnte in den finnischen Wäldern gezimmert und gesägt worden sein. Und es geht auch um das Verhältnis der Geschlechter. Mattis Forderung an Eva, was die Arbeiterfrau alles können muss, Putzen, Kochen, Stricken, Nähen, ist ja nun alles andere als fortschrittlich.

Kapitalismus bedeutet hier auch das Recht auf Selbstzerstörung. Sascha Nathan, der Mann fürs Grobe am BE, darf als Puntila in dieser Beziehung die Sau rauslassen, ohne Rücksicht auf Verluste. Schon das lohnt den Besuch. Eine Type, vor der man sich ekelt. Mit der man sich im nächsten Moment aber gern verbrüdern würde. Ein Riesenbaby, das sich nackt in der Sauna mit kaltem Wasser abspritzen lässt, dem man aber auch die in ihm schlummernde Brutalität anmerkt.

Ebenso interessant, wie feinnervig Peter Moltzen den Matti spielt. Kein unterdrückter Knecht, sondern ein gewiefter Taktiker, der auf seine Chance lauert. Dagegen sind Puntilas Tochter Eva (Nora Quest) als verzogene Göre und ihr offizieller Ehekandidat, der Attaché (Pauline Knof) von der Regie als Karikaturen angelegt. Gekonnt, sehr komisch, aber inhaltlich ein bisschen verschenkt.

Gut, Arm und Reich passen einfach nicht zusammen, das haben wir verstanden. Aber man ist doch hin und her gerissen bei der Frage, was eigentlich erzählt werden soll. Es gibt großartige Momente, wie den Gesindemarkt, der unter Mitwirkung des Publikums im Parkett stattfindet. Da denkt man, in diese Richtung könnte es weitergehen. Doch dann wechselt der Fokus wieder. Am Ende erinnert der schwer angeschlagene Gutsherr ein wenig an den Trinker bei Hans Fallada. So ist es auch ein Stück über die Sucht, über die Lügen der Betroffenen, der Umwelt und vor allem sich selbst gegenüber.

Berliner Ensemble, 28. Mai und 26. Juni. Hier geht’s zu den Karten.


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3. Neuköllner Oper - Du bist, wie du wohnst

"Schöner Wohnen" in der Neuköllner Oper © Thomas Koy

Willkommen im I-Home! Das bedeutet digitales Wohnen auf Zeit. Die scheinbar ideale Lösung für Globetrotter und Digital Nomads wie Daniel (Patrik Cieslik), der eigentlich nirgendwo zuhause ist und, weil im Online-Handel beschäftigt, von überall auf der Welt arbeitet. In Berlin angekommen, versucht sich der junge Mann im smarten Wohnen. Alles in der kleinen Unterkunft wird per App gesteuert, fast alles muss aber auch extra gebucht werden. Der Blick aus dem Fenster, das Essen im Kühlschrank, die Dusche und sogar die Klospülung.

Mit „Schöner Wohnen“ landete die Neuköllner Oper auf ihrer Studiobühne einen Publikumserfolg. Das „Abstellkammerspiel“ von Amy Stebbins, die auch Regie führte, und Sir Henry, dem Musikchef an der Volksbühne, feierte vor einem Jahr Premiere, jetzt ist es zurück auf dem Spielplan. Ein großer Spaß, angereichert mit Musik zwischen Elektropop, Rap und Ragtime, der zugleich zum Nachdenken anregt.


Realität hat die Fiktion eingeholt


Das Stück entstand in den Jahren 2020 bis 2022. Eine Zeit, in der Fiktion durch Corona immer mehr Realität wurde. Homeoffice löste die Grenzen zwischen Freizeit und Arbeit, zwischen Wohn- und Arbeitsraum auf. Der Bewegungsradius wurde minimal, während man zugleich vom PC aus mit der ganzen Welt kommunizierte.

Du bist, wie du wohnst. Das gilt nun auch für Daniel, der sich in seiner digitalen Behausung, die zugleich schöne neue Arbeitswelt ist, zurechtzufinden sucht. Eine Mauer aus Umzugskartons wird zur Projektionsfläche der virtuellen Wohnung, ein genialer Einfall der spanischen Bühnenausstatterin Belén Montoliú. Die grenzenlose Freiheit von „New Work“ bedeutet letztlich grenzenlose Selbstausbeutung, soziale Ungerechtigkeit und Heimatlosigkeit.


Besuch aus der Vergangenheit


Plötzlich sitzt da eine Frau mit einer riesigen Nähmaschine und flickt Daniels zerrissene Hose, kocht Bohnenkaffee, in einer alten Kanne, scheint überhaupt aus der Zeit gefallen, so wie ihr Vorname. Erna (Claudia Renner) stellt sich vor als Vermieterin, sie lebte in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, laut Daniel „ein Jahrhundert zum Wegwerfen“, vermittelte Schlafplätze auf Zeit an so genannte Schlafburschen, und engagierte sich in der Arbeiterbewegung.

Welten prallen aufeinander. Doch schnell wird deutlich, dass die Unterschiede zu damals gar nicht so groß sind. Wohnraum war und ist Mangelware, Homeoffice hieß Heimarbeit, regionale vegane Küche, Kohl mit Wasser, gehörte auch zu Ernas täglicher Nahrung. Wie auch die selbst angebauten Preußischen Kartoffeln, zwischen denen Erna, vom furchtbaren Husten dahingerafft, ihr Grab findet. Während Daniel sich als multiplanetarer Nomade ins Weltall aufmacht.

Am Ende sitzt nur noch Sir Henry auf der Spielfläche. Als Vermieter, der am Telefon Bewerbungen verzweifelter Wohnungssuchender entgegennimmt. Womit wir wieder direkt in der Berliner Realität wären.

Neuköllner Oper;
18., 19., 20., 21. und 25. Mai. Hier geht’ s zu den Karten.

 

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