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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 428

Kulturvolk Blog | Reinhard Wengierek

von Reinhard Wengierek

20. Februar 2023

HEUTE: 1. Berliner Ensemble – „Iwanow“ / 2. Berliner Ensemble Neues Haus – „Einsame Menschen“  / 3. Deutsches Theater –„Leonce und Lena“

1. Berliner Ensemble - Biedermeier in Gütersloh

"Iwanow" am Berliner Ensemble © Matthias Horn

Die Ankündigung, da kommt ein Klassiker, hätte man sich sparen können. Doch berühmte Namen sind eben immer gut fürs Geschäft. wie beispielsweise Tschechow.

Den hat die aus Litauen stammende, in Schweden lebende und deutsch so gut wie russisch sprechende US-amerikanische Regisseurin
Yana Ross inszeniert: Iwanow“, freilich „frei nach Anton Tschechow“. Also mit weitgehend eigenem Text. 

Darf sie das? Aber ja! Und besser wäre, sie hätte das „frei nach“ einfach weggelassen und das komische sowie ein bisschen traurige Stück selbstbewusst zu ihrem ganz eigenen Ding erklärt, gerne mit Grüßen von A.T. aus weiter Ferne. 

Dann hätte die Tschechow-Gemeinde wenig zu maulen, denn der Ross-„Iwanow“ (der nun Nicolas heißt) ist saftiges, amüsantes, also höchst kurzweiliges und noch dazu frech gegenwärtiges, flott, locker und gut gespieltes Theater. Kontrapunktiert mit pässlichen Musik- und Gesangseinlagen. Geht die Post ab. 


Tragödie, Komödie, Boulevard 


Übrigens, Tschechow selbst nannte sein Frühwerk von 1887, da war er Ende zwanzig, mal Komödie, dann wieder Tragödie. Egal, beides gehört ja ohnehin ziemlich zusammen. Ross entschied sich eindeutig für Komödie und lieferte eine, sagen wir, ordentliche Boulevardkomödie – aber Achtung, kein Komödienstadel.

Und Tschechow meinte, mit „Iwanow“ all das zu summieren, „was bisher über die jammernden, melancholischen Menschen geschrieben wurde“. Man könnte sagen, sein „Iwanow“ ist eine Endlosschleife aus Entfremdung und Ermüdung, in der hypochondrische Weicheier eiern. 

Diese Essenz hat die sehr erfahrene Regisseurin sehr wohl auch jetzt getroffen; allein schon auf Grund ihrer reichen Erfahrungen. Immerhin inszenierte sie bereits erfolgreich – mehr oder weniger stark überschrieben – diverse Zentralgestirne Tschechows wie „Wanja, „Kirschgarten“, „Möwe“, „Drei Schwestern“.


Gepflegter Spießerstand im Clinch


Ihr „Iwanow“ jetzt spielt im solide spießigen Vereinslokal „Netzroller“ eines Tennisclubs im Provinznest Gütersloh (Bühne: Bettina Meyer). Dort trifft der gepflegte Mittelstand aufeinander und gerät zunehmend aneinander. Eheprobleme, Krankheiten, ein elender Krebstod, eine Studentin aus stur woken Berliner Universitätskreisen, eine polyglotte Influencerin, ein verlotterter Graf, triumphierende Neureiche und geschäftlich schwer Verschuldete sind die generationenübergreifende Mischung, mal treibend ins Wilde, mal ins Banale. Liebe, Lüge, Verrat, Intrigen, Eifersucht, Weltschmerz und Lebensgier im flotten Wechsel. Also Gütersloher Biedermeier mit frappierendem Identifikationspotenzial. 


Satire hin gebrettert


Das ist doch was! Was will man mehr von einem satirisch hingebretterten Unterhaltungsstück. Zugegeben, das Seelische wird kaum ausgespielt, aber ordentlich angedeutet. Erregend tiefe Psychoanalyse entfällt. Na und? 

Schauspielerisch ist alles – wie immer am BE – klasse. Nicolas, die Titelfigur spielt
Peter Moltzen schwer verklemmt, larmoyant, mit vom Alter und Sport lädierten Knochen, was ihn nicht davon abhält, der studentischen Verführungskraft – sie ist halb so alt wie er (Amelie Willberg) – lustvoll (?) seufzend zu erliegen, derweil in seiner Ehefrau (Constanze Becker) der nagende Krebs sein tödlich Werk vollendet.

Der finale geniale Regie-Coup: Bei Feuerwerk und brüchig guter Laune greifen sich all die verkorksten Gütersloher Normalos ein Instrument. Erst zögerlich verkrampfte Töne. Zum Schluss wird gerockt, was das Zeug hergibt. Eine Art Befreiung. Wenigstens für den Moment.

Berliner Ensemble, 11. März, 1. und 2. April. Hier geht’s zu den Karten.


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2. Berliner Ensemble Neues Haus - Co-Working im Stadtrand-Idyll

"Einsame Menschen" am Berlner Ensemble, Neues Haus, v.l. Gerrit Jansen, Nina Bruns © Matthias Horn

Nun nochmal das gleiche Prinzip. Überschreiben. Diesmal das Gerhart-Hauptmann-Stück „Einsame Menschen“ von 1890. Es spießt gutbürgerliches Spießertum auf, demontiert ein brüchiges, verlogenes Familien-Glück am Häuschen-Rand der Reichshauptstadt.

Neu-Schreiberin
Felicia Zeller, sich selbst nennt sie „Wirtschaftsdramatikerin“, wurde bekannt für ihre spitz und präzis formulierten, höchst unterhaltsamen Stücke („Der Fiskus“, „Der Geldkomplex“), die das gespannte Verhältnis zwischen Individuum und Arbeitswelt aufregend anschaulich ausleuchten. 

Jetzt also alte „Literaturdramatik“ überformt. Da wird aus Hauptmanns altfränkischem Stadtrand-Idyll ein schickes Co-Working- / Co-Gardening-Space für internationales Sharing. Motto: Landleben in eins mit urbanem Anspruch ‑ nur 40 Minuten S-Bahn bis Berlin-Mitte.


Rudel- und schwarmfähige Tiere 


Bewohnt wird das Anwesen von Marie (
Sina Martens), taffe Architektin mit Baby, zuständig für die zeitgemäß digitale Ertüchtigung des Gehäuses und vernachlässigte Ehefrau von Gerhart (Gerrit Jansen), genervt vom lautstarken Babybetrieb, ignorant, wehleidig, hochmütig und dauerpromovierend in Sachen Angewandte Tiersoziologie. Das Thema seiner Doktorarbeit: „Die Erhaltung von Lebensräumen rudel- und schwarmfähiger Tiere und deren Möglichkeiten zur Eröffnung eines Vorstellungsraumes zur Gestaltung menschlicher Sozialorganisation unter besonderer Berücksichtigung …“ – in ganzer Länge 13 Zeilen im Textbuch.

Neben den beiden Schwiegermama Erika (
Corinna Kirchhoff), verbiesterte Esoterikerin und Heilpraktikerin nach Methode „Rugel“ (ein Gymnastikball ist Erde, ein anderer ist Sonne) sowie Hausfreund Bölsche, Klimaaktivist im grünen Overall mit Gipsbein (Oliver Kraushaar), weil während eines widerständigen Waldcamps aus dem Baumhaus gefallen. Und als gemeinschaftssprengender first guest im Space die digitale Nomadin im sexy Lederröckchen Margarete (Nina Bruns), tätig für Internetportale als Headlinerin; ihr Metier also Kurztexte wie etwa „Schock der Stille“; dies ganz im Gegensatz zum schreibenden Gerhart, dem sie an die Wäsche geht und der es länger liebt. 


Narzisstische Egomonster 


Wir wissen um die aberwitzig verschwurbelte Headline seiner Diss… Allein das schon ist eine generelle Ansage: Zellers aktivistische Mitarbeiter der Weltrettungsbewegung sind zwar wie bei Hauptmann letztlich einsam und insgeheim bedrückt von verlorenen Lebensträumen. Doch werden sie – weg von Hauptmann – als narzisstische Egomonster einer sich für avantgardistisch haltenden Intellektuellenblase ohne psychologische Feinzeichnung rigoros ins ätzende Licht einer scharfen Zeitgeistsatire gestoßen.

Eine kalte, plakative Bloßstellung, ein sarkastisches Warnstück vorm Wahn, spielerisch inszeniert von Bettina Bruinier. Dabei konzentriert auf Zellers Sprachkunst, die präzise abgelauscht ist dem dünkelhaften Milieu jener Selbstgerechten, die sich als nachhaltig gute Menschen fühlen. 

Zellers Extra-Trick: Die gesprochenen Sätze enden abrupt, bleiben sozusagen stummelhaft. Was heißt: wir wissen schon, was da kommt. Das immergrüne Blabla in monologischen Wiederholungsschleifen.

Zugegeben, das Blabla, die Schleifen, die Stummel – es ist ein bisschen Zuviel im tollen Zwei-Stunden-Typenkabarett. Bitte eine halbe Stunde streichen. Das wäre der Tollheit Spitze.

Bravo!
Ob nun frei nach Tschechow oder frei nach Hauptmann, das BE liefert mit Yana Ross und Felicia Zeller ein Doppel unterhaltsames zeitgenössisches Theater eigener Art. 

Berliner Ensemble, Neues Haus,
2. und 3. März. Hier geht’s zu den Karten.


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3. Deutsches Theater - Exzessiver Polit-Wumms

"Leonce und Lena" am Deutschen Theater, Marcel Kohler, Enno Trebs, Linda Pöppel, Zazie Cayla, Toni Jessen, Yannik Stöbener, Ingraban von Stolzmann, Philipp Lehfeldt, Alida Stricker © Arno Declair

Wer ist der Staat?“ Die Frage kracht als erstes chorisch aus dem Bühnendunkel wie Donnerhall aufs Publikum. Sie ist der programmatische Einstieg in eine exzessiv ausladende Georg-Büchner-Performance.

Deren Titel „
Leonce und Lena“ freilich ist einigermaßen irreführend. Denn Ulrich Rasche, dem Regisseur, der auf hierzulande einzigartige Weise exzessiv machtvolles, an den Grenzen des Erträglichen kratzendes Überwältigungstheater zelebriert (zuletzt am DT schmerzlich suggestiv „4.48 Psychose“ von Sarah Kane), diesem manischen Formalisten mit Vorliebe fürs archaisch Chorische geht es eher nebenbei um Büchners schwer melancholisches Märchen um die Weltverlorenheit und Liebe des Prinzen Leonce aus dem Reiche Popo und der Prinzessin Lena aus dem Reiche Pipi. 


Wehes Märchen, absurdes Spektakel


Büchner schrieb dieses wehe, hochphilosophisch blödelnde, tiefsinnig menschelnde und weit ins Absurde greifende Spektakel mit gerade 22 Jahren (1836). Da hatte der gleichermaßen geniale (promovierte) Jungakademiker wie Dichter die „Lenz“-Novelle hinter sich (Psychodrama) sowie die Flucht aus seiner Heimat wegen dem vormärz-revolutionär wütenden „Hessischen Landboten“ (Politdrama). 

Was Büchner komischerweise „Lustspiel“ nennt, ist im Grunde eine zynisch nihilistische Satire. Sie umspielt wundersam wortspielverrückt die Allmacht allgegenwärtigen Todes sowie die Ohnmacht des Lebens gegenüber seinen Zwängen, dem martialischen „Zurechtstutzen“ des Einzelnen zum „nützlichen Mitglied der Gesellschaft“ – mithin die rücksichtslose Selbstbezogenheit aristokratischer Herrschaft. 


Das Volk wie Dünger 


Das passt zur eingangs gestellten Frage nach dem Staat. Büchners Antwort: „Alle!“ ‑ Aber mit gravierenden Unterschieden. Denn „das Volk liegt vor den Vornehmen, deren Leben ein langer Sonntag ist, wie Dünger auf dem Acker; sein Schweiß ist das Salz auf dem Tische“ der Oberen. 

Doch das sagen nicht Leonce und nicht Lena. Das sind „systemkritische“ Passagen aus besagt hessischer Flugschrift; ähnliches folgt aus „Lenz“, aus „Dantons Tod“.  

Alles hammerstarke Texte. Von elf dunklen Gestalten unter einer riesigen, bedrohlich schwebenden, schimmernden, gleißenden Neonlichtskulptur (
Ulrich Rasche, Nico Hoppe) in rhythmischer Bewegung auf immerzu rotierender Drehscheibe herausgeschleudert ins Düstere; herausgewürgt, herausgeflüstert. Dazu ein Soundtrak (Nico van Wersch) von vier Instrumentalisten an Elektrogeräten: stampfend, schlagend, schneidend, gelegentlich wie von fern rauschend. ‑ Und noch dazu Zitate reichlich aus Büchner-Briefen: „Ich fühle mich wie zernichtet unter dem grässlichen Fatalismus der Geschichte. Ich finde in der Menschennatur eine entsetzliche Gleichheit, in den menschlichen Verhältnissen eine unabwendbare Gewalt…“ 


Systemkritik mit Büchner 


Wir begreifen: Dieser mit gut drei Stunden zuweilen quälend überlange, ins Monumentale, martialisch Monotone emporgewuchtete Büchner-Monolog macht – freilich zwingend kunstvoll – Systemkritik mit Büchner. Also nichts mit „Lust“ und nichts mit „Spiel“. Keine Figuren, keine Dialoge, kein Drama. „Leonce und Lena“ dient hier höchstens für einige wenige, immerhin berückende Kontrastmomente zwischen dem Zarten, dem Poetischen und dem brutal aufrührerischen, ohrzerreißenden Polit-Wumms. 

Zum Schluss die Frage: Was von damals gilt noch heute? Man darf, man soll, man muss darüber grübeln! 

Deutsches Theater, 25.und 26. März. Hier geht’s zu den Karten


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4. Zwei Extra-Tipps: 
Großes Schauspielertheater – Wiederaufnahme „Die Glasmenagerie“ von Tennessee Williams im Deutschen Theater am 24. Februar. (siehe Blog 199 vom 23. Januar 2017). 

Tolles Musical im Taschenformat – Die Bettwurst“ von Rosa von Praunheim, mit Anna Mateur und Heiner Bomhard in der Bar jeder Vernunft. Noch bis zum 26. Februar. (siehe Blog 407 vom 12. September 2022). 

 

 

 

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