Sie ist wieder da! Die unvergleichliche, zu den wundersamsten Wandlungen, zu den verrücktesten Vieldeutigkeiten fähige Schauspielerin Anja Schneider. In Leipzig fing sie einst an, wurde von Armin Petras ans Gorki geholt, ging mit ihm fort nach Stuttgart. Jetzt spielt sie (danke, Ulrich Khuon) endlich wieder in Berlin, wo sie hingehört: Im Deutschen Theater.
Zum Einstand bekam sie, wie sich’s ziemt für eine solche Künstlerin, eine zünftige Rolle: Die der Amanda Wingfield, eigentlich die Hauptfigur in Tennessee Williams Sehnsuchts- und Vergeblichkeitsstück „Die Glasmenagerie“. Da kann sie so vieles in einem sein: Haus- und Muttertier, durchtriebenes Doofchen, Getretene, peinlich Lüsterne, um sich Schlagende, Komische, Biedere, Böse, Ängstliche. Eine Todunglückliche, die tapfer die Tränen wegsteckt, die immerzu aufs Daseinsglück setzt, aber leer ausgeht. Die Schneider kann da ganz groß aufdonnern. Oder ganz fein sein, hinterrücks, beiläufig, nur mit einer Geste, einem Blick, einem besonderen Ton.
„Die Glasmenagerie“ handelt von der US-Prekariatsfamilie Wingfield im tiefen, sommerheißen US-amerikanischen Süden. Der Vater hat sich längst aus dem Staub gemacht, die verlassene Ehefrau Amanda, eine dahinwelkende Schönheit, ist die energische, rechthaberische, beschützende und selbst ach so schutzlose Mama, die sich krampfhaft um Aufrechterhaltung häuslicher und restfamiliärer Ordnung müht. Und obendrein um ein womöglich doch noch sexy Liebesglück. Tochter Laura (Linn Reusse frisch von der Schauspielschule), ein fragiles Seelchen mit körperlicher Behinderung und gigantischen Minderwertigkeitskomplexen, verkriecht sich lebensscheu in der schönen Schallplattensammlung, die ihr längst getürmter Papa zurück ließ. Sowie in ihrem Zoo aus gläsernen Tierchen, eben der Glasmenagerie. Sohn Tom (Marcel Kohler) malocht als alleiniger Ernährer in der Fabrik, träumt sich heimlich im Kino fort in tolle Abenteuer und will raus aus der spießigen Enge und weit weg: als Matrose auf See.
Das schimpfende, wütende und heulende Elend der drei Frustbeulen, die sich, um ihren tristen Alltag auszuhalten, in Illusionen und Träume flüchten; die freilich sofort wieder wie schillernde Seifenblasen platzen, das ist ein Kreislauf, der immer schmerzlichere Wunden schlägt. Da kollidieren unentwegt schillernde Parallelwelten mit schmutzigen Realitäten. Als Mama schließlich ein Rendezvous mit Jim organisiert (Holger Stockhaus), damit das jüngferliche Töchterchen endlich unter die Haube kommt, geht natürlich auch das total in die Hose.
Williams gelang 1944 der internationale Durchbruch mit diesem psychologisch fein ziselierten Kammerspiel. Atmosphärisch gefärbt von den vielen Facetten einer großen Vergeblichkeit und verklemmten Erotik, die da implodieren oder explodieren im rasenden Wechsel. So gesehen passiert unheimlich viel; aber eigentlich passiert, ähnlich wie bei Tschechow, bloß erstickender Stillstand. Diese Erstickung sowie die heftig hechelnden Seelen: Was für Wechselbäder, mitunter in einem Satz; oder unausgesprochen in Mimik, Bewegungen, Augenblicken. Regisseur Stephan Kimmig ist unentwegt quasi mit der Lupe diesen Brüchen, diesen Stolperstellen über Abgründen auf der Spur. Seine Inszenierung wogt, federt und vibriert. Changiert zwischen Eis und heiß, entfesselt Stimmungen -- himmlisch entrückt im Wolkenkuckucksheim oder trostlos ernüchtert im Keller der Enttäuschung. Kimmig lässt volles Rohr Gefühle zu. Und noch dazu tief unter die Haut bohrende Ohrwürmer der Popmusik.
Seine hinreißenden Spieler lassen sich das alles nicht zweimal sagen. Immer turnen sie hohen Muts auf dem Drahtseil – turnen gar im Wortsinn als Slapstick-Komiker, toben als Tanzmäuse oder tasten sich verschämt-verschüchtert durch die Düsternis ihrer öden, verschlissenen Wohnhöhle (Bühne: Katja Haß). Doch keiner der dauerhaft unter Psycho-Hochdruck stehenden Beschädigten und Trostlosen stürzt bei all den depressiv-euphorischen Exzessen je ab in Peinlichkeit und Kitsch, ins aufdringlich Schwerblütige oder schwiemelnd Gefühlige oder gar vordergründig Plakative. Nie wird die wie Glas zerbrechliche Menagerie der Figuren denunziert. Selbst dann nicht, wenn die Bizarrerien der dramatischen Vorlage im Spielerischen gelegentlich ausschlagen (auch abschweifen – Timing!) bis ins Absurd-Groteske oder Albern-Kabarettistische. Diese sagenhaften, kultverdächtigen Virtuosen-Nummern und Extempores sind wahrlich umwerfend – und zutiefst anrührend. Wie die ganze bittere Geschichte.
Wieder einmal: Das DT auf der Höhe einer Kunst, die ihm angemessen.
(am 4., 15. Februar, 1. März)
Ein vom Krankheitswahn besessener, nach Klistieren süchtiger Hypochonder und dämlicher Geldsack dazu, der durchtrieben genug ist, mit exzentrischer Egomanie seine gesamte Umgebung zu tyrannisieren, das gibt dem Theater reichlich Futter für zünftiges und en passant vieldeutiges Komödiantentum. Für ein Austoben zwischen Groteske und Farce bis bestenfalls hin zum Tragischen.
Nicht so bei Michael Thalheimer mit seiner Inszenierung von Molières „Der eingebildete Kranke“. Da trampelt, hampelt, zappelt ein grell ausgestelltes Kollektiv kreischender Depp bei der aberwitzigen Jagd nach Einläufen, Geldbeuteln, Heiratsgenehmigungen 90 Minuten lang immerzu auf der schmutzstarren Stelle. Das komödiantische Großvermögen eines Hochleistungs-Ensemble stur und stramm reduziert auf einen einzigen kalt-schrillen Fortissimo-Ton: Grimassieren, Brüllen, Schnellquatschen bis den Exaltierten die Luft ausgeht bei albern vulgär erotischer Gymnastik.
Die Regie langweilt mit der immerhin im Technischen furiosen Performance einer paranoiden Dauerdepression und stinkenden Dauer-Diarrhoe durch (von Michaela Barth) fein ekelig-prunkvoll kostümierte, galleböse Pappnasen. Sie gefällt sich allein im platten, im immer gleichen Ausstellen eines lebenszerstörerischen Wahnsinns. Und das stets frontal an der Rampe in einem kleinen engen Kasten – dem weiß gekachelten Klo, der vollgekotzten, voll gekackten Nasszelle, der Drecksgruft als Zeichen für das Irrenhaus Welt (Bühne: Olaf Altmann). Die eine bis zur Entnervung des Publikums monomanisch demonstrierte Botschaft der diktatorischen Regie ist, um im fäkalisch vorgegebenen Bilde zu bleiben: Unser Menschendasein – alles total Scheiße. Eigentlich ganz im Sinne Molières. Der macht daraus einen höllischen Witz, Thalheimer einen peinlichen Pup.
Michael Thalheimer gilt als begnadet gnadenloser Verdichter großer Stücke der Weltdramatik, es gab da unvergessliche Erlebnisse in Hamburg, Frankfurt, Salzburg oder, schon länger her, im Deutschen Theater. Da blieb bei aller Stilisierung und Straffung noch immer viel Freiraum für die dramatische Entfaltung großer Schauspieler. Jetzt steckt dieser Regisseur in der Sackgasse der Abstraktion fest. Erstarrt in der Verklemmung des Spielerischen und Dramatischen durch prononcierte Performation eines einzigen bleiernen Sinnbilds. – Immerhin: Er kann, wenn er nur will, auch anders…
(wieder am 23., 24. Januar, 13., 14., 15., 16. Februar)
1. Theater an der Parkaue Ionesco weitergedacht
2. Berliner Ensemble Auf der Strecke geblieben
3. Kabarett-Theater Distel Wo man singt
1. Deutsches Theater Sei ein Mensch
2. Distel Lachen ist gesund
Stiftung Stadtmuseum Berlin Geschichte und Erinnern
1. Berliner Ensemble Was Covid mit den Menschen machte
2. Gorki Das Monster in uns
3. Staatsoper Gedämpfte Freude am Belcanto
1. Deutsches Theater Disruption und Wohlfühlwimpel
2. Theater im Palais Terzett mit Paul Linke, Dorothy Parker und Marlene Dietrich
3. Schaubühne Dreier in der Schlacht auf der Couch
1. Kleines Theater Reisen ohne anzukommen
2. Berliner Ensemble Nicht nur Brecht
3. Theater am Frankfurter Tor Richtig getrickst
1. Volksbühne Schönes Happening in ruinösen Zeiten
2. Deutsches Theater Toxische Frauenmacht
3. Schlosspark Theater Krawall mit Blödköppen