Heute: 1. Maxim Gorki Theater – Amerika / 2. Hans Otto Theater Potsdam – Die Zeit ist aus den Fugen / 3. Komische Oper Berlin – Die Rache der Fledermaus
Die Passagiere blicken auf die imposante Skyline Manhattans. Mit ihrer brennenden Fackel heißt die Freiheitsstatue die Neuankömmlinge aus Europa willkommen. Da wird Karl Roßmann gewahr, dass er unten in der Kabine seinen Schirm vergessen hat. Schnell will er ihn holen, bittet einen Nebenmann am Schiffsgeländer, kurz auf seinen Koffer zu achten. Doch dann erscheint ihm das Innere des Dampfers weit größer und unübersichtlicher, als er es während der Überfahrt kennengelernt hat. Karl verläuft sich. Und macht bald merkwürdige Bekanntschaften unter Deck.
Willkommen in der Zwischenwelt des Franz Kafka. Hier ist alles irgendwie immer zu groß, irritierend, die Ziele werden unerreichbar, wie in einem bösen Traum. Kafka war nie in der Neuen Welt. „Der Verschollene“ hieß ursprünglich sein Romanfragment, das nach dem Tod des Dichters sein Freund und Herausgeber Max Brod 1927 unter dem Titel „Amerika“veröffentlichte.
Im Maxim Gorki Theater sehen wir die „Rekonstruktion einer Reise“ in einer Fassung von Holger Kuhla und Sebastian Baumgarten, etwas aufgeplustert mit Auszügen aus einem Reisebericht des französischen Philosophen Jean Baudrillard von 1986 und weiteren Texten Kafkas. Baumgartens Inszenierung ist kaum kafkaesk. Eher überkandidelt, als wolle man den Winterblues vertreiben. Ja, Kafka kann auch Spaß machen. Aber der Unterhaltungswert dieses Abends ist höher als der Erkenntniswert.
Der amerikanische Alptraum
Immerhin, wir erfreuen uns am Nuancenreichtum. Zwei Schauspielerinnen (Yanina Cerón und Kenda Hmeidan) und fünf männliche Kollegen (Emre Aksızoğlu, Tim Freudensprung, Kinan Hmeidan, Falilou Seck und Till Wonka) teilen sich die Rollen, begleitet vom Live-Fotografen Marcel Urlaub, dessen Bilder an die Bühnenwand projiziert werden. Im Wechsel spielen alle den Herrn K., Karl Roßmann, der in Prag von seinen Eltern verstoßen wurde, weil ihr Dienstmädchen ihn verführt hatte.
In New York nimmt ihn zunächst sein reicher Onkel auf, doch wegen einer Lappalie erhält der 17-Jährige bald den Laufpass. Karl wandert auf der Suche nach Arbeit nach Westen, macht Bekanntschaft mit zwei Spitzbuben. Wegen denen verliert er seinen Job als Liftboy in einem Hotel. In der Wohnung, in der die Gefährten mit einer dicken Sängerin hausen, wird er als Diener ausgenutzt. Karl gelingt die Flucht, er hofft auf eine Anstellung im größten Zirkus der Welt. Mit der Zugfahrt nach Oklahoma bricht der Roman ab, es scheint wenig wahrscheinlich, dass sie für Karl zum Happy End führt.
Stete Bewegung ist das Motto im Gorki. Barbara Steiners Bühne spielt mit Amerika-Klischees, zeigt neben einer Maschinenschraube einen riesigen Turnschuh, mal als Höhle, mal als Bett oder Badewanne dienend, und einen ebenfalls überdimensionalen Burger. In vollem Tempo geht man über die schmerzvollen Momente dieser Geschichte mit all ihren Ungerechtigkeiten hinweg. Stattdessen versucht man mit Slapstick den amerikanischen Traum als Alptraum zu entblößen.
Es gibt auch andere interessante Zugänge zu Kafkas Roman, demnächst in Berlin jeweils als Einpersonenstück zu erleben. Die Vaganten zeigen Lars Georg Vogels Bühnenfassung am 23. März, einen Monat später gastiert Ex-Burgtheater-Schauspieler Philip Hochmair mit seinem Solo im Renaissance Theater.
Maxim Gorki Theater, 29.März. Hier geht’s zu den Karten.
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Ernst Lubitschs Hollywood-Film „Sein oder Nichtsein“ ist neben Chaplins „Der große Diktator“ ein Meilenstein der Kinogeschichte und die überzeugendste Antwort auf die immer neu gestellte Frage, ob man über die Nazi-Barbarei Witze machen darf. Ja, man darf. Wenn die Witze gut sind.
Auf Lubitsch trifft das zu. Der Regisseur, dessen Karriere mit Slapstickfilmchen begann, wusste, wie man Pointen setzt. So spielte er in seinem Film von 1942 gekonnt mit schwarzem Humor. Eine Komödie über eine Tragödie. Man kann annehmen, dass Lubitsch, der Jude aus Berlin, den Film ein paar Jahre später anders gestaltet hätte, im Bewusstsein des tatsächlichen Ausmaßes von Krieg und Völkermord.
„Sein oder Nichtsein“ basiert, wie andere Filme Lubitschs, auf einem Script seines ungarischen Freundes Melchior Lengyel: „Noch ist Polen nicht verloren“. Unter demselben Titel brachte der Berliner Schriftsteller Jürgen Hofmann seine Bearbeitung heraus. Sie lief 1991 mit Erfolg am Berliner Renaissance Theater sowie in Potsdam in der Regie von Günter Rüger.
„Ich heil mich selbst“
Jetzt zeigt das Hans Otto Theater das Stück wieder in einer Neuinszenierung von Tobias Rott. Allerdings trägt das Stück, das wegen Streitereien um die Urheberschaft einige Jahre pausieren musste, nun den Titel „Die Zeit ist aus den Fugen“, wiederum ein Hamlet-Zitat. So hieß übrigens auch ein Dokumentarfilm von Christoph Rüter über Heiner Müllers Hamlet-Inszenierung am Deutschen Theater.
Verwirrung und Verwechslung also, aber das passt zum Stück. Schon am Beginn, wenn im Übermaß „Heil Hitler“ gerufen wird und der Führer mit den Worten „Ich heil mich selbst“ auftritt, sind wir mitnichten im Gestapo-Hauptquartier, sondern im Stadttheater Posen. Die Theatertruppe probt dort, am Vorabend des deutschen Überfalls, eine Satire über Hitler. Bis es der Intendanz zu riskant wird.
Eitelkeiten im Theaterbetrieb
Das Stück wird abgesetzt, dafür Shakespeares „Hamlet“ gespielt. Die Traumrolle des Charakterdarstellers Josef Tura. Dessen Selbstbewusstsein leidet nach einigen Vorstellungen mächtig, denn ein junger Mann verlässt jedes Mal ausgerechnet während des Hamlet-Monologs den Zuschauerraum. Tura ahnt nicht, dass es sich weniger um einen Verächter seiner Kunst, sondern um einen Verehrer seiner Gattin Maria, ebenfalls gefeierte Darstellerin handelt, die in der Garderobe auf den jungen Piloten wartet. Aus den Eifersüchteleien wird blutiger Ernst, als die Wehrmacht Polen besetzt. Im Widerstand spielen alle die Rolle ihres Lebens, mit Hilfe echter Uniformen, Nazi-Kulissen und falschen Bärten.
Es geht also um das pure Sein oder Nichtsein. Und zugleich gibt es immer wieder köstliche Anspielungen auf die Eitelkeiten im Theaterbetrieb. So kann das Stück auch nach todernsten Dialogen schnell wieder den komödiantischen Faden aufnehmen. Mit gut aufgelegten Schauspielern wie Arne Lenk als Josef Tura, wie Nadine Nollau als charmante Diva Maria oder die sehr komische Bettina Riebesel als Souffleuse Magdalenchen, die auch abseits der Bühne die Stichworte liefert. Regisseur Rott und Bühnenbildnerin Susanne Füller bauen auf Bewährtes, inklusive der guten alten Drehbühne und Kulissen, die heftig wackeln, wenn eine Tür zu heftig geöffnet oder zugeschlagen wird, was hier öfter vorkommt.
„Unglaublich, da legt man das Schicksal Polens in die Hände eines Schmierenkomödianten“, heißt es einmal, bevor Tura todesmutig das Gestapo-Quartier aufsucht. Dorthin, wo René Schwittay als Gruppenführer Erhard am Klavier „Für Elise“ dahinstümpert, bevor er wieder Todesurteile unterschreibt. Die wirklichen Schmierenkomödianten sind die Nazis.
Hans Otto Theater Potsdam, 25. März. Hier geht’s zu den Karten.
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Was für ein Spaß. Wo jede(r) jede(n) hintergeht. Wo am Ende alles auffliegt, ohne dass es böse Folgen hat. Die Geschwister Pfister machen sich über „Die Fledermaus“ her. Das meistgespielte aller Bühnenwerke des Johann Strauss, uraufgeführt in Wien anno 1874 und die ziemlich einzige Operette, die an großen Opernhäusern ernst genommen wird. Mit seiner „Fledermaus“-Inszenierung eröffnete Walter Felsenstein vor 75 Jahren die Komische Oper Berlin.
Wenn es darum geht, das Genre Operette vom spießigen Staub zu befreien, sind die Geschwister Pfister Pioniere. Und damit auf einer Wellenlänge mit Barry Kosky, dem früheren Intendanten der Komischen Oper. „Die Rache der Fledermaus“, klamottig, zotig, und frivol in der Bearbeitung und Inszenierung von Stefan Huber, entstand 2018 für das Casinotheater Winterthur. Kosky sah die radikal reduzierte Fassung und befand, sie müsse auch nach Berlin. Eine gute Entscheidung.
Der Orchestergraben bleibt zu. Statt fünfzig Musikern erleben wir ein Quintett mit dem musikalischen Leiter Kai Tietje, den Zucchini-Sistaz und dem Berliner Jazzer Falk Breitkreuz, die gekonnt zirka dreißig Instrumente bedienen. Die Hits des Walzerkönigs verwandeln sich zu Tango, russischer Folklore, Bossa Nova, Ragtime und sogar Rock, aber bleiben doch erkennbar Musik von Johann Strauss.
Operette im Taschenformat
Die berühmte Ouvertüre erklingt hier als A-cappella-Gesang, mit dem die Vorgeschichte erzählt wird. Ein genialer Einstieg. Die Pfisters Tobias Bonn und der umwerfende Christoph Marti verkörpern Gabriel Eisenstein und seine Gemahlin Rosalinde. Während er wegen Beamtenbeleidigung ins Gefängnis muss, will sich die tugendhafte Gattin mit dem Knödeltenor Alfred (Alen Hodzovic) verlustieren. Alles läuft natürlich anders. Die Beteiligten finden sich bei der Party des russischen Prinzen Orlofsky (Stefanie Dietrich) und nach durchzechter Nacht erst mal im Gefängnis wieder.
Keine große Ausstattung. Lediglich Sitzmöbel aus den verschiedensten Epochen, jeweils passend zur Garderobe der Figuren (Bühne/Kostüme: Heike Seidler). Alles andere bleibt, in der rasanten Choreographie von Danny Costello, der Spielfreude überlassen. Der quicklebendigen Gabriela Ryffel als Stubenmädchen Adele, mit kaum noch steigerungsfähigen Wiener Schmäh Nini Stadlmann als ihre Schwester Ida. Intrigant, dabei die Lebenslust nicht vergessend, Max Gertsch, als Eisensteins Gegenspieler Dr. Falke.
Und dann Frosch, der versoffene Gefängniswärter. Stefan Kurt, gerade noch als Travestie-Star Zaza in „La Cage aux Folles“ (siehe Blog Nr. 426 vom 6. Februar 2023) gefeiert, gewinnt er sofort das Publikum als Faktotum mit Hausmeister-Kittel und Schweizer Akzent. „Komisches Gefängnis“, murmelt er immer wieder. Und: „Komische Oper.“ Recht hat er.
Komische Oper Berlin. Leider sind alle unsere Kontingente bereits ausgeschöpft, und die Inszenierung läuft in dieser Spielzeit nur noch bis zum 3. März. Wir hoffen auf die nächste Saison.
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Extra-Tipp: „Himmlische Zeiten“
Schlechte Laune? Zukunftsängste? Mangelnde Lebensfreude? Ihnen kann geholfen werden: „Himmlische Zeiten“ kehrt Anfang März zurück ins Schlosspark-Theater. Diese Revue ist ein absoluter Mutmacher. Im letzten Teil der Trilogie nach „Heiße Zeiten“ und „Höchste Zeit“ begegnen sich Angelika Mann, Nini Stadelmann (die auch in der Komischen Oper in „Die Rache der Fledermaus“ mitwirkt), Franziska Becker und Heike Jonca in der Privatabteilung einer Klinik wieder. Ein fantastisch miteinander spielendes, singendes und tanzendes Quartett. In dieser Form braucht sich niemand vor dem Älterwerden zu fürchten.
Schlosspark Theater Berlin, 2. bis 12. März. Hier geht’s zu den Karten.
1. Berliner Ensemble Rockerin mit Grips und Witz
2. Deutsches Theater Kurzer Blick in Abgründe
3. Theater im Palais Charme als Pille gegen Depression
1. Theater an der Parkaue Werden und Vergehen auf insektisch
2. Theater an der Parkaue Aufruf zum Widerstand
3. Berliner Ensemble Allein zwischen den Fronten
1. Gorki Architekten müssen träumen
2. Schlosspark Theater Lustige Märchenspielerei
3. Volksbühne Bunter Abend mit Schlachteplatte
1. Kleines Theater Schauspiel vom Feinsten
Renaissance-Theater Bitterböse, aber zu komisch
3. Grips Für getrennte Eltern und getrennte Kinder
1. Vaganten Nathan abgespeckt und aufgepeppt
2. Berliner Ensemble Remmidemmi ohne Ende
3. Atze Musiktheater Ernst gemeint im Spiel
1. Staatsballett Zwischen Laufsteg und Happening
2. Gorki Kafka wird der Prozess gemacht
3. Hans Otto Theater Vom Tod eines Unsterblichen