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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 402

Kulturvolk Blog | Uwe Sauerwein

von Uwe Sauerwein

27. Juni 2022

HEUTE: 1. „TURANDOT“ – STAATSOPER UNTER DEN LINDEN / 2. „DIE MEISTERSINGER VON NÜRNBERG“ – DEUTSCHE OPER BERLIN / 3. „RIO REISER. MEIN NAME IST MENSCH“ – KOMÖDIE AM KURFÜRSTENDAMM IM SCHILLER THEATER

1. Staatsoper - Prinzessin des Todes

"Tödliches Ratespiel": Philipp Stölzl inszeniert in der Staatsoper Puccinis "Turandot" mit einer überdimensionalen Marionette. © Matthias Baus

„Nessun dorma! – Niemand schlafe!“ Selbst wer noch nie ein Opernhaus von innen sah, kennt diese Arie. Oft nicht wissend, dass es sich um den Gesang des Prinzen Calaf zu Beginn des dritten Aktes von Turandot, der letzten Oper von Giacomo Puccini handelt. Tenöre aller Länder, Superstars des Belcanto wie singende Postboten, interpretierten diese ergreifende Melodie. In der Staatsoper Unter den Linden packt Yusif Eyvazof die Seele des Publikums, mit mächtig Timbre und ebensoviel Gefühl für die Feinheiten. Allerdings mag man kaum hinschauen. Denn um den Prinzen herum werden massenhaft Menschen gefoltert, gemordet und dann in eine Grube geworfen. Die Brutalität stößt bei der Premiere auf Proteste.

Die Inszenierung des Bühnen- und Filmregisseurs Philipp Stölzl, letzte Neuproduktion der aktuellen Spielzeit, verspricht großes Kino. Und zugleich ein Fest für die Staatsoper, zur Premiere mit parallelem Public Viewing unter heißer Sonne auf dem Bebelplatz, mit Live-Stream und TV-Übertragung. Bis in Nebenrollen besetzt mit internationalen Opernstars, einem renommiertem Leitungsstab und dem 86-jährigen Altmeister Zubin Mehta am Pult, der mit der Staatskapelle monumentale Klänge mit exotischem Touch heraushaut.

In der Oper allgemein geschehen zu wunderschöner Musik oft schreckliche Dinge, so auch in „Turandot“. In der Kaiserstadt Peking muss jeder Mann, der um die Hand der Prinzessin anhält, drei Rätsel lösen. Gelingt ihm das nicht, ist er zum Sterben verurteilt. So will es die stolze Turandot. Ein Berg von Totenschädeln zeigt, wie viele Opfer diese Taktik schon gefordert hat. Das gleiche Schicksal dürfte auch Calaf zu ereilen, Prinz aus Persien, der nach China reiste und hier eher zufällig seinen Vater Timur (relativ glanzlos: René Pape) und die Sklavin Liù trifft. Trotz drohender Hinrichtung versucht er unverdrossen, die kaltblütige Turandot für sich zu gewinnen. Die drei kaiserlichen Beamten Ping, Pang und Pong (in jeder Hinsicht überzeugend: Gyula Orendt, Andrés Moreno García und Siyabonga Maqungo) wünschen sich, dass ihre „Prinzessin des Todes“ sich endlich durch Liebe erweichen lässt und damit den vom Volk ersehnten Frieden bringt.


Tragikomisches Märchen


Das Libretto schrieben Giuseppe Adami und Renato Simoni nach dem gleichnamigen Theaterstück (1762) von Carlo Gozzi. Die Oper mit zahlreichen Bezügen zur musikalischen Moderne wurde von Franco Alfano nach den Skizzen des verstorbenen Komponisten vollendet. 1926, gut anderthalb Jahre nach Puccinis Tod, erklang „Turandot“ unter Arturo Toscanini erstmals in der Mailänder Scala.

Für Regisseure ist der Zugang zu dem tragikomischen Märchen nicht leicht. Lange Zeit wurde „Turandot“ im China-Dekor präsentiert. Das kann man heute nicht mehr machen, selbst wenn Puccini mächtig und klangprächtig exotisiert. Wobei man bemerken muss, dass sich der italienische Komponist abseits von Chinoiserie ernsthaft mit Notationen von chinesischer Musik beschäftigte.

Bis auf die ironisch eingesetzten Papierschirme der drei komischen Minister verzichtet Stölzls düster-surreale Inszenierung auf asiatische Bezüge. Mit den Chören (vortrefflich einstudiert von Martin Wright) sowie einem Großaufgebot an Komparserie und Stuntmen zeichnet er ein brutales totalitäres System, das an keinen Ort, keine Zeit gebunden ist. Kostümbildnerin Ursula Kudrna lieferte graue Einheitskleidung für das Volk und rötliche Overalls für die erbarmungslosen Schergen der Machthaber.


Im Schatten einer Puppe


Eigentlich sollte das Star-Aufgebot Anna Netrebko in der Titelrolle krönen. Dazu kam es nicht, aus bekannten Gründen. So erlebt man andere Sängerinnen mit russischem Background, Elena Pankratova, der gefeierte hochdramatische Sopran als Turandot, und als Liù die großartige Aida Garifullina (das Programmheft verschweigt nicht, dass sie 2018 mit dem heute geschmähten Putin-Intimus Waleri Gergijew bei der Fußball-WM in Russland auftrat). Auch Netrebkos Mann, der aus Baku stammende Tenor Yusif Eyvazof, ist als Calaf dabei und wird begeistert gefeiert.

„Turandot existiert nicht“, erklären die drei Minister an einer Stelle. Sie erscheint tatsächlich erst nach gut einer Stunde in der Oper auf der Spielfläche. Clou der Inszenierung, für die Stölzl wie gewohnt auch das Bühnenbild entwarf, ist eine überdimensionale, live animierte Puppe. Sie beherrscht die gesamte Szenerie, als Götzenfigur, Trugbild, Denkmal oder Göttin, ihr riesiger Reifrock dient zudem als Palast des Kaisers (leider schwachbrüstig: Siegfried Jerusalem). Ein Hingucker, wie schon der gigantische Clownskopf in Stölzls „Rigoletto“-Inszenierung bei den Seefestspielen in Bregenz.

Nicht zuletzt erinnert die riesige Puppe an eine Vorfahrin der Prinzessin, die einst von Tataren ermordet wurde. Aus Rachsucht agiert Turandot so grausam. Wirklich neue Lesarten liefert das Ungetüm, mit dem ein halbes Dutzend Marionettenspieler beschäftigt sind, aber nicht. Ganz nebenbei nimmt die Puppe so viel Platz ein, dass die Solisten sich oft am Souffleurkasten versammeln müssen.


Sehnsucht nach Erlösung


Das Stück, in dem Rätsel über Leben und Tod entscheiden, gibt selbst viele Rätsel auf. Die echte Turandot tritt als Ebenbild der Puppe auf, mit dem gleichen Kostüm, mit Maske, kahlköpfig unter der alsbald verschwundenen Perücke. Fast mechanisch, wie die Olympia in „Hoffmanns Erzählungen“. In diesem Sinne setzt Elena Pankratova, mit Mut zur Hässlichkeit, ihre Stimme auch fast metallisch gewalttätig ein, und man fragt sich, ob sich Netrebko auf diese Deutungsart eingelassen hätte.

Es geht um Machtspiele und Obsessionen. Was die handelnden Personen antreibt, wird nicht richtig klar. Warum unternimmt Calaf die lebensgefährliche Reise nach Peking, um das Herz einer eiskalten, auch äußerlich abstoßenden Frau zu gewinnen? Am Ende gelingt es ihm, jedenfalls laut Libretto, mit einem Kuss.

Eine Lösung, die für Stölzl zu simpel und nicht zeitgemäß ist. So scheint Liú, die ihren Calaf nicht verraten will und vor ihrem Selbstmord die Macht der Liebe besingt, die Prinzessin zur Umkehr zu bewegen, eine der stärksten Szenen der Aufführung. Turandot öffnet sich danach dem persischen Prinzen, zum Happy End kommt es aber nicht. Die Sehnsucht nach Erlösung, man denkt an Kundrys Schicksal in Wagners „Parsifal“, führt auch bei Turandot in den Freitod. Eine Deutung, die im Publikumsraum hörbar nicht alle zufrieden stellt. Trotzdem darf man einen spannenden Opernabend konstatieren.

Staatsoper Unter den Linden, weitere Vorstellungen 29. Juni, 1., 3., 8., und 10. Juli. Hier geht es zu den Karten.

2. Deutsche Oper - Sängerkrieg in der Schulaula

Musikschule statt Festwiese: Johan Reuter als Schlagzeuglehrer Hans Sachs vor dem Kollegium in Wagners
Musikschule statt Festwiese: Johan Reuter als Schlagzeuglehrer Hans Sachs vor dem Kollegium in Wagners "Die Meistersinger von Nürnberg" an der Deutschen Oper © Thomas Aurin

Wagner macht mich immer misstrauisch. Schon als Student konnte ich mich in seine Musik, so genial sie auch ist, emotional nie so fallen lassen wie bei Verdi oder Mozart. Zu viel schwang in meiner Wahrnehmung mit, was in Wagners Namen so alles passiert war. Besonders wenig anzufangen wusste ich mit Die Meistersinger von Nürnberg“, auch nach dem Besuch verschiedener Aufführungen. Warum amüsieren sich alle um mich herum über Beckmesser? Was soll das mit der „heil’gen“ deutschen Kunst? Und wenn am Ende noch alle „Heil“ sangen, dann war es bei mir ganz aus.

Natürlich tut man damit der komplexen Komposition Unrecht, der seinerzeit neuen, aus vielen Quellen schöpfenden Musiksprache des Tondichters. Für Richard Wagner bedeutete 1868 die Münchner Uraufführung seiner heiteren Oper, bürgerliches Gegenstück zu Tannhäusers Sängerkrieg auf der Wartburg, einen positiven Wendepunkt im Leben und Wirken. Ausgehend vom vokalen Wettstreit unter Handwerkern im alten Nürnberg stellt Wagner Fragen zur Kunstfreiheit, zu Stillstand und Innovation.

Jossi Wieler, Sergio Morabito und Bühnenbildnerin Anna Viebrock, ein seit Jahren eingespieltes Regieteam, versuchen an der Deutschen Oper, knapp drei Jahrzehnte nach der Götz-Friedrich-Inszenierung, das oft missbrauchte Werk vom Ballast seiner Rezeptionsgeschichte zu befreien. Frei nach Wieland Wagner, „Hier gilt’s der Kunst“, rücken sie erst einmal den Gesang in den Mittelpunkt und verlegen das Geschehen aus dem Nürnberg der Reformationszeit in die 1990er Jahre. Keine mittelalterlichen Gassen (wer erwartet die heute überhaupt noch bei den „Meistersingern“), sondern eine Musikhochschule. Trist statt pittoresk also; eine holzvertäfelte pädagogische Einrichtung mit Aula, Verwaltung und Zimmern fürs Lehrpersonal ziert die Bühne.


Mikrokosmos Musikhochschule


Veit Pogner, Goldschmied in Wagners Dichtung, erleben wir nun als Gründer und Leiter eines privaten Konservatoriums. Der historische Schusterpoet Hans Sachs arbeitet hier als Schlagzeug-Dozent und Therapeut und ist daher mit Trommelstöcken und Yogamatte unterwegs. Sixtus Beckmesser leitet die Prüfungskommission. Das Institut als Mikrokosmos mit Gutmenschen und Bösewichtern, mit Kümmerern, Strebern, Intriganten und Machtbesessenen: Wer an diesem Abend auf der Bühne oder im Graben agiert, kennt solch einen Betrieb sicher aus eigener Erfahrung.

Das Drama kommt ins Rollen, weil Dr. Pogner sich zur Ruhe setzen und seine Schule der Öffentlichen Hand übergeben will. Sein Nachfolger soll am bevorstehenden Johannistag durch eine Gesangsprüfung vor Publikum ermittelt werden. Nach der Devise, man muss auch mal loslassen können, aber nicht ganz, stellt der scheidende Patriarch Pogner die Bedingung, dass der neue Chef seine Tochter Eva ehelichen soll. Über sie hofft er nämlich noch die Geschicke des Instituts mitbestimmen zu können (man kennt so eine Taktik unter anderem von den Bayreuther Festspielen).

Nur weiß Pogner nicht, dass seine Tochter was mit Hans Sachs hat. Aber bereits zu Beginn, als hinter der Szene der Chor mit religiöser Inbrunst „Da zu dir der Heiland kam“ intoniert, ist Eva libidinös heftig mit Walther von Stolzing zugange, einem Adligen, der mit der Musikschule und der Sangeskunst bisher nichts am Hut hatte. Hans Sachs, auf Demokratisierung bedacht, setzt durch, dass auch Stolzing am Gesangswettbewerb teilnehmen darf. Gegen den Protest von Beckmesser, der selbst Hoffnungen auf Thronfolge und Braut hegt.


Schatten der Vergangenheit


In rund viereinhalb Stunden reiner Spieldauer (bei zwei längeren Pausen) wird das Geschehen von exakt 24 Stunden erzählt. Eine digitale Uhr schmückt das Bühnenbild. Anna Viebrock zitiert bekanntlich gerne real existierende Räume. Hier ist es zum Teil die Münchener Musikhochschule, die sich im ehemaligen „Führerbau“ befindet. So tanzen im dritten Akt die Schatten der Vergangenheit durch die Szene.

Weit gegenwärtiger erscheinen Me-Too-Debatten und Missbrauchs-Vorwürfe, die mit dem Institut verbunden sind. Das greift die Inszenierung aber nicht wirklich auf. Gut, Gesangslehrerin Magdalena und Hans Sachs’ Schüler David verbindet mehr als die Liebe zur Musik. Ansonsten sind die Studierenden aber gerade in der Johannisnacht ausschließlich untereinander sexuell beschäftigt. Mit der gleichen plumpem Erotik, mit der sich Eva über Hans Sachs hermacht. Heidi Stober legt die Partie in ihrem recht gelungenen Debüt offensiver an als von dieser Rolle gewohnt.

Johan Reuter als Hans Sachs brilliert mit stimmlicher Vielseitigkeit, darstellerisch bleibt sein dichtender Schuster fast bis zum Ende auf den Sponti im Schlabber-Look reduziert, der ironischer Weise meist barfuß auftritt. Was sein Handwerk betrifft, hantiert er mit einem Sack bunter Kunststoff-Schuhe, also nix mit deutscher Wertarbeit. Überhaupt fragt man sich, was die ganzen, allesamt männlichen Vertreter der deutschen Zünfte in einem Konservatorium der Neuzeit zu suchen haben. Aber das Regieteam verweigert wohl mit Absicht seinem Publikum viele Antworten.


Beckmesser wird zum Sündenbock


Es ist auch eine Oper über das Dazu-, bzw. nicht Dazugehören. Stolzing gelingt mit dem Sängerwettstreit der Einlass in die für ihn fremde Welt der Meistersinger, um sich dann mit seinem Evchen zu verabschieden, weil beide mit dem ganzen Klüngel nichts zu schaffen haben möchten. Beckmesser wiederum wird zum Sündenbock, welcher der Mehrheit ein stärkeres Gefühl der Zusammengehörigkeit ermöglicht. Ein Aspekt, den auch das Deutsche Museum mit einer aktuellen Ausstellung über Wagner aufgreift (Hier zurückblättern auf Kulturvolk-Blog Nr. 392). Der junge deutsche Bariton Philipp Jekal zeichnet die oft als antisemitisch empfundene Figur Beckmesser in seinem starken Rollendebüt eher als bürokratischen Pedanten, der verzweifelt nach seiner künstlerischen Ader forscht.

Überhaupt gilt der Jubel des Premierenabends den Vokalkünsten. Dem mächtigen Albert Pesendorfer als Pogner, der feinsinnigen Annika Schlicht als zwischen Fürsorge und Lebensfreude hin und her gerissener Magdalena. Der Tenor Ya-Chung Huang begeistert stimmlich und mit sportlichem Körpereinsatz als David und entwickelt sich immer mehr zum Publikumsliebling. Als Idealbesetzung für den Stolzing erweist sich wieder mal Strahletenor Klaus Florian Vogt, der die Partie auch bei den Bayreuther Festspielen in Barrie Koskys Inszenierung sang, die 2017 den Finger in die Antisemitismus-Wunde legte. Günther Groissböck, der weltweit gefragte Bass, der in Bayreuth den Pogner gab, erklingt in Berlin aus der Konserve als Stimme des Nachtwächters. Einer von vielen Gags dieser Produktion.

Generalmusikdirektor Sir Donald Runnicles musste aus medizinischen Gründen passen. Markus Stenz, der für ihn übernahm, dirigiert solide, man könnte es auch hausbacken nennen. Dafür bekam er bei der Premiere ein paar Buhs ab, wohl auch wegen der hörbaren Mühe, das große Ganze aus Orchester, Bühnenmusik, Chor und Solisten zusammenzuhalten.


Populistische Parolen


Szenisch ist der Sängerkrieg in der Schulaula gut gelöst, auch die politisch brisante Schlussszene, wenn Hans Sachs von deutscher Kunst schwurbelt, die sich gegen den „welchschen Tand“ durchsetzen wird. Die identitären Parolen werden vom Großteil des Lehrer*innen-Kollegiums mit Verwirrung, ja Bestürzung aufgenommen, während die Volksmenge Sachs wie einen Popstar begeistert auf den Schultern trägt.

Wie auf der Bühne, so auch im Premierenpublikum: Jubelschreie, aber auch heftige Proteste gegen das Regie-Trio. Vielleicht geht das auch nicht anders bei den „Meistersingern“. Würden sich alle einig sein, wäre bestimmt was faul.

Deutsche Oper Berlin, weitere Vorstellungen 29. Juni, 2. und 9. Juli. Hier geht es zu den Karten.

3. Komödie im SchillerTheater - Hommage an den „König von Deutschland“

Rebell und Feingeist: Philip Butz gibt stimmlich und körperlich alles im Schauspielmusical
Rebell und Feingeist: Philip Butz gibt stimmlich und körperlich alles im Schauspielmusical "Rio Reiser. Mein Name ist Mensch". © Franziska Strauss

Auf dem Alten St.-Matthäus-Kirchof in meinem Heimatbezirk Schöneberg findet man, wie auf vielen Berliner Friedhöfen, Gräber bedeutender Menschen. Persönlichkeiten von den Brüdern Grimm bis Rolf Hochhuth ruhen hier, und mittendrin, wenige Meter entfernt vom Grab des Boxers Graciano „Rocky“ Rocchigiani, der Rockmusiker Rio Reiser, bürgerlich Ralph Christian Möbius.

Gestorben ist er 1996, viel zu früh mit 46 Jahren. Aber erst seit 2011 liegt er in Berlin. Denn zunächst wurde Rio Reiser auf seinem Grundstück in Nordfriesland begraben, wo er ein altes Bauernhaus bewohnt hatte. Nach dem Verkauf des Geländes bettete man den Leichnam um, in Rios Geburtsstadt. Anlass für alte Weggefährten, auf dem Schöneberger Friedhof ein Happening abzuziehen. So mancher Kronkorken am und sogar auf dem Grabstein heute lässt vermuten, dass nach wie vor an der (hoffentlich) letzten Ruhestätte des „Königs von Deutschland“ angestoßen wird.

Im Schiller Theater, dem Ausweichquartier der Komödie am Kurfürstendamm, kann man den rebellischen und feinfühligen Sänger und Dichter verdammt lebendig erleben. Das Schauspielmusical Rio Reiser. Mein Name ist Mensch ist für einige Zeit zurück. Wer es noch nicht kennt, sollte es nicht verpassen. In der Wiederaufnahme-Premiere saßen um mich herum einige Leute, die das fulminante Stück bereits gesehen hatten. Man muss nicht unbedingt Rio-Fan sein, um hier eine Wiederholungstat zu begehen.


Rio Reisers Bruder als Co-Autor


Das rockige und zugleich sehr poetische Musiktheater über den Ausnahmekünstler basiert auf einem Stück, das der Autor und Regisseur Frank Leo Schröder 2017 im Potsdamer Hans Otto Theater auf die Bühne gebracht hatte. Trotz des großen Erfolgs hatte Schröder das Gefühl, zu einem gerechten Bild von Rio würde noch etwas fehlen. Für die Berliner Fassung, die 2019 Premiere feierte, tat er sich mit Rio Reisers Bruder Gert C. Möbius als Co-Autor zusammen, nicht zuletzt, um die politischen Umstände in der Karriere des so einflussreichen wie einfühlsamen frühen Punkers stärker aufzuzeigen.

So ist es ein Stück vor allem über die bewegten West-Berliner Jahre, beginnend 1970 in einer WG am Tempelhofer Ufer. „Keine Macht für Niemand“: Vor dem subversiven Hintergrund von Hausbesetzungen, Kommune 1, LSD, der Gründung der RAF entwickelte hier die Band Ton Steine Scherben mit ihrem charismatischen Sänger aufmüpfige Töne. Wer glaubt, dass zuerst Udo Lindenberg und Nina Hagen deutsche Texte in der Rockmusik etablierten, wird hier daran erinnert, dass Rio Reiser schon früher auf seine Muttersprache setzte.

Philip Butz, der in der Titelrolle mit Frédéric Brossier alterniert, kommt Rio Reiser in Habitus und Tonfall verblüffend nah, wenn er beim Gesang zum Beispiel die Zwielaute, also „ei“ und „au“, eigentümlich dehnt. Dabei authentisch und eben nicht parodistisch zu klingen, ist eine große Kunst.


Rasante Rollenwechsel


Musikalisch bringt die virtuose Band unter Leitung von Juan Garcia die Aufbruchstimmung von damals druckvoll, aber nicht ohrenbetäubend rüber. Die Bandmitglieder sind nicht nur tolle Musiker, sie schlagen sich auch darstellerisch brillant. Denn sie absolvieren mit den Schauspielerinnen und Schauspielern zahlreiche rasante Rollenwechsel, von den einzelnen Musikern über historische Persönlichkeiten wie Rudi Dutschke oder Benno Ohnesorg, hinterlistige Verfassungsschützer, halbseidene Plattenproduzenten, doofe Pressevertreterinnen bis zum medizinischen Personal in Rios schwersten Stunden.

Katrin Hauptmann zum Beispiel erlebt man als Marianne Rosenberg, die auch mit Hilfe von Rio Reisers Texten ihr Image als Schlagertante ablegte. Stine Fischer spielt unter anderem herrlich zickig Claudia Roth, die heutige Kulturstaatsministerin, die für kurze Zeit als Managerin das Schicksal der „Scherben“ mitbestimmte.

Trotz der wachsenden Anhängerschaft kam die Gruppe finanziell nicht wirklich auf einen grünen Zweig. Was auch daran lag, dass ein Teil des links orientierten Publikums von Musikern gern Solidarität einforderte, aber schnell mit dem Vorwurf der kapitalistischen „Abzocke“ kam, wenn ein Künstler sein Brot verdienen wollte.


In den Fängen der Verehrung


Überhaupt litt die Band, und auch Rio in seiner Solokarriere nach Auflösung von Ton Steine Scherben 1985, unter latenter Vereinnahmung, von den 68ern über die Friedens- und Umweltbewegung, den Grünen und schließlich der PDS, deren Mitglied Rio Reiser als Kritiker der auf die Kräfte des Marktes setzenden Wiedervereinigung war. Ausgerechnet seinen Hit „König von Deutschland“ nutzte die SED-Nachfolgepartei für den Wahlkampf, worauf der Song von Sendern boykottiert wurde.

Reiser hat unter Missbrauch und Missverständnissen viel gelitten. Hinter dem Raubein steckte, das macht das Musiktheaterstück immer wieder deutlich, ein sehr verletzlicher Mensch. Auch sein Coming Out verlief nicht ohne Konflikte. Liebe unter Männern war in der linken Bewegung lange verpönt, und als Rockstar hielt man sein Schwulsein ebenfalls besser im Verborgenen, um Fans nicht zu verprellen. Seelischen Verletzungen begegnete Rio auch mit übermäßigem Alkoholgenuss, eine Ursache für sein frühes Ableben.

„Doch jetzt tut's nicht mehr weh“, heißt es am Ende, wenn Rio aus dem Jenseits grüßt. „Bye bye Junimond“: Ein Moment, in dem das Publikum kollektiv einen Kloß im Hals hat.

Komödie am Kurfürstendamm im Schiller Theater, bis 24. Juli. Hier geht es zu den Karten.

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