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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 393

Kulturvolk Blog | Reinhard Wengierek

von Reinhard Wengierek

25. April 2022

HEUTE: 1. „Draußen vor der Tür“ – Berliner Ensemble / 2. „Das Paket“ – Berliner Kriminaltheater / 3. „Werther“ – Kammerspiele des Deutschen Theaters / 4. Tipp „Das Spiel ist aus“ – Deutsches Theater, Wiederaufnahme 

1. Berliner Ensemble - Das Herz hat sich heiser geschrien

Draußen vor der Tür © Matthias Horn
Draußen vor der Tür © Matthias Horn

Ein Bild des Schönen wie noch nie: Der Himmel voller Sterne – der ganze Bühnenraum ein funkelndes Sternenmeer. Und auf der Erde, auf den Brettern einsam wankend ein Mensch. Ein Gestrandeter, gezeichnet von schwerer Lebenslast. Im dreckigen Pullover; irgendein Fundstück, schlotternd am ausgezehrten Körper. Und da, erst zögerlich, dann in aufbäumender Verzweiflung, presst und brüllt wie mit letzter Kraft das arme Menschenkind ein Lied aus sich heraus. Es ruft nach einem schönen Leben, nach Glück: „Feeling Good“ (von der Popsängerin Nina Simone). Doch es gibt nichts Schönes, nur Schlimmes. Gibt kein Glück für den Kriegsheimkehrer Beckmann. Der Krieg hat ihn kaputtgeschlagen. Allmählich verblassen die Sterne, verwandeln sich in tausend bunt blinkende Lichtpunkte. Wie Konfetti umschwirren sie verführerisch den gequälten Sänger als vielversprechendes Sinnbild des Lebens. „Alles lebt, lebe mit“, ruft mit letzter Kraft eine innere Stimme Beckmanns. Doch Beckmann kann nicht. Die Tür ins schönere, ins bessere Leben bleibt ihm verschlossen. Beckmann kann nur noch schreien. Mit einem einzigen, markerschütternd stummen Aufschrei.

Das sind die ersten zehn Minuten von Michael Thalheimers Inszenierung „Draußen vor der Tür“, Wolfgang Borcherts wortgewaltiges Drama eines Kriegers mit todwundem Herzen und zarter Seele, den das Schlachten zum Täter und zum Opfer machte. Ein Empfindsamer, der am Zuviel des erlittenen Unheils, von dem jetzt niemand was wissen will, zerschellte. Und der im Selbstmord endet. „Das Herz hat sich heiser geschrien, keiner hat es gehört.“


Expressives Ausstellen von existenzialistischem Pathos


In diesem wuchtigen Einstieg zum Antikriegs-Stück von 1946, das zum pazifistischen Klassiker der deutschen Nachkriegsliteratur wurde, in Thalheimers szenischer Ouvertüre offenbart sich auf Anhieb und zum wiederholten Male die einzigartige Kunst dieses Regisseurs: Die Konzentration auf den archaischen, den universellen Kern einer Tragödie; auf das expressive Ausstellen von existenzialistischem Pathos, auf das beständig wiederkehrende Menschheitsleid.

Ein unvergesslicher Anfang. Auch durch das sinnige Bühnenbild von Olaf Altmann, den kontrapunktischen Soundtrack von Bert Wrede und – und dies vor allem! – durch eine Protagonistin wie Kathrin Wehlisch mit ihrem suggestiven Ausdrucksvermögen. Im Ablauf des Dramas wird sie ein ganzes Kompendium von Äußerungen des Schmerzes, der Sehnsucht, Verlorenheit und Ausweglosigkeit, aber auch der ohnmächtigen Wut und des selbstzerstörerischen Selbstmitleids aufblättern. Ein Kraftakt an Sprechkunst ohnegleichen!


Fiebrige Albtraumhaftigkeit


Freilich, schon im emblematischen Vorspiel ist die Essenz des Stücks erzählt. Was in den neunzig folgenden Minuten von Borcherts Stationendrama draußen vor den für Beckmann verschlossenen Türen des Lebens sich ausbreitet, wird da, nun ja, beinahe nebensächlich. Wäre da nicht die unerschütterlich poetische Stärke des Autors. So sind wir, trotz des allzu oft sich wiederholenden Tremolos heulender Klage und gellender Anklage, gebannt von einer fiebrigen Albtraumhaftigkeit. – Etwa bei Beckmanns Begegnungen mit dem hilflosen Gott (Peter Luppa), dem von Leichen gemästeten Tod (Jonathan Kempf), dem horrorhaften Einbeinigen (Oliver Kraushaar) oder brutal großkotzigen Oberst (Veit Schubert), der mitleidvollen Elbe (Josefin Platt) oder hartherzigen Spießerfrau Kramer (Bettina Hoppe), dem zynischen Kabarettdirektor (Tilo Nest) und des vergeblich trostsuchenden Mädchens (Philine Schmölzer). Sie alle streuen bloß neues Salz in Beckmanns unheilbare seelische Wunden.

Das groteske Ganze gleicht einem Panoptikum der Entsetzlichkeiten. In ihm irrt Beckmann umher in heilloser Verbitterung angesichts des weltstürzenden Grauens und darüber hinaus: angesichts des allgemeinen Ignorierens von Mitschuld, des Verdrängens von Mitverantwortung. „Wer kann da noch eine Minute leben, ohne zu schreien.“ Da will Beckmanns Herz „nur noch pennen tief in der Elbe“. So wird das Wasser sein Grab. Und wir bleiben draußen. Und sind schon wieder – und waren es eigentlich immer – im Krieg; weit draußen oder, wie jetzt, direkt vor der Tür. – Ein beklemmender; alles in allem ein großer Abend.

Wieder am am 1. und 15. Mai. Hier geht es zu den Karten.

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2. Berliner Kriminaltheater - Grusel, Grusel

Das Paket © Herbert Schulze
Das Paket © Herbert Schulze

Plakate so groß wie Haustüren in den Zentren deutscher Großstädte – nein, keine übliche Werbung für Neu-Digitales, sondern, ziemlich ungewöhnlich, für Bücher. Genauer: für ein Buch; für den Kriminalroman „Schreib oder stirb“ von Sebastian Fitzek.

Kenner der Szene wissen Bescheid: Fitzek, Berliner, Jahrgang 1971, gelernter Jurist (Promotion im Urheberrecht), ist der Superstar unter den Autoren fürs Grusel-Genre. Seit seinem Debüt 2006 mit „Die Therapie“ steht er mit seinen Büchern fest wie eine Eiche an der Spitze der Bestsellerlisten. Und der Mann, Sohn eines Oberstudiendirektors, verheiratet, vier Kinder, produziert wie am Fließband. Verkaufte Ausgaben bislang: 15 Millionen Exemplare. Millionen!

Lexika führen ihn als „erfolgreichsten deutschen Schriftsteller des 21. Jahrhunderts“; das Magazin Der Spiegel feierte ihn als „professionellsten und handwerklich zuverlässigsten Thriller-Autor Deutschlands“. Freilich, es gibt auch Gegenstimmen aus hochmögenden Kritik-Gefilden („Nulllinie der Gegenwartsliteratur“). – Doch was solls: Als erster deutscher Autor wurde Sebastian Fitzek mit dem Europäischen Preis für Kriminalliteratur ausgezeichnet, seine Werke sind weltweit zu haben, übersetzt in 36 Sprachen. Auch dienen sie als Vorlage für internationale Filmproduktionen sowie Theateradaptionen.

Erstaunlicherweise gelang es dem kleinen, feinen, privaten Kriminaltheater bereits vor einem Jahrzehnt, den Fitzek-Bestseller „Der Seelenbrecher“ auf seine Friedrichshainer Spezialitätenbühne zu bringen. Die blutunterlaufene Geschichte um einen Psychopathen ist bis heute ein Dauerbrenner. Wie auch die Fitzek-Bühnenbearbeitungen „Die Therapie“ und „Passagier 23“.


Betäuben, Vergewaltigen, Haar abschneiden


Und nun wieder und zum vierten Mal ein Fitzek: Den Psychothriller mit zunächst harmlos klingendem Titel „Das Paket“. Doch was da verpackt ist im Stück, ist das Entsetzen pur. In verrückten Zeitsprüngen werden jede Menge falsche Fährten ausgelegt, unglaubliche Was-wäre-wenn-Konstrukte gebaut, seelische Erregungen zur Explosion gebracht und sämtliche Mutmaßungen des Publikums irrwitzig auf den Kopf gestellt. Nur so viel sei verraten: Das Paket ist bloß der Auslöser einer unheimlich fortschreitenden Psychose der jungdamenhaften, sexy Psychologin Dr. Emma Stein (Alexandra Maria Johannknecht), die in ihrem feinen Grunewalder Hotelzimmer erst betäubt, dann vergewaltigt wird, wobei ihr auch noch die Haare abrasiert werden – so wie es ein polizeilich mit Hochdruck gesuchter Serienmörder („der Frisör“) zu tun pflegt, der nach der Rasur zusticht. Doch Frau Dr. Stein wurde eben nicht ermordet. Gibt es da etwa einen Zweit-„Frisör“? Verdächtigt wird das gesamte (akademische) Umfeld des Opfers, in dem – typisch ausgebufft Fitzeksches Verwirrspiel – im Laufe der Ermittlungen weitere Gräueltaten anfallen… Da hat man (wie auch die Regie) zu tun, sich im Irrgarten des Grauens zurecht zu finden, ohne die Nerven zu verlieren. Weshalb Regisseur Wolfgang Rumpf das Ausspielen der seelischen Befindlichkeiten des Personals eher vernachlässigt und sich klüglich aufs spannende Ausbreiten des horrorhaften Intrigengespinsts konzentriert.

„Das Paket“ wieder am 26. April; 5., 10.-12., 16.-17., 24.-26. Mai. Auch Termine im Juni und Juli. Hier geht es zu den Karten.
„Passagier 23“ am 30. April; 4., 14., 23. Mai; 20. Juni; 8. Juli. Hier geht es zu den Karten.
„Die Therapie“ am 25. Mai; 9. Juni; 1. Juli. Hier geht es zu den Karten.


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3. DT-Kammer - Herzschmerz, Weltschmerz, Weltuntergang – Peng!

Auf dem Bild: Regine Zimmermann, Paul Grill, Thorsten Hierse, Natali Seelig © Arno Declair
Auf dem Bild: Regine Zimmermann, Paul Grill, Thorsten Hierse, Natali Seelig © Arno Declair

Wenn Triebe toben, ist der Verstand im Eimer – lästert der Volksmund über heftig lodernde Gefühle der Liebe. Anno 1774 schrieb Goethe, just 25 Jahre alt, über diese uralte Geschichte ein Romanchen im Westentaschenformat, das ihn auf Anhieb zum Star machte. „Die Leiden des jungen Werther“, eigentlich bloß ein fiktiver Briefwechsel des jungen Leidenden mit seinem Intimus Wilhelm über seine unglückliche Liebe zu einer verheirateten Lotte. Und prompt knallt sich der jugendlich stürmende und drängende Heißsporn – immer in provokant gelber Weste (sie sollte seinerzeit Kult werden) – vor Wut gegen sich und alle Verhältnisse Klock 12 Uhr überm rechten Auge eine Kugel in den Kopf. „Und Gehirn spritzte an die Wand.“

Soweit Goethe in seinem bekannt tollkühnen Bestseller. Was mir bislang unbekannt blieb ist, dass Werther nach dem Schuss noch zwölf Stunden in einem „Dämmerzustand“ fortexistierte. Der polnische Dramaturg und Autor Jarosław Murawski teilt es im Programmheft mit, und stellt in sofort die Frage: „Was ist während dieser Zeit in seinem Kopf passiert?“

Davon ist nun in Murawskis „Nach- und Neuerzählung“ mit dem Titel „Werther“ zwei Stunden lang die Rede. Freilich ohne, dass dabei Interessantes oder gar Neues zutage getreten wäre. Werther (Marcel Kohler) als eitle Rampensau leckt hingebungsvoll seine Seelenwunden (zuweilen in englischer Sprache). Sein Freund Wilhelm (Thorsten Hierse) gibt den Trauerkloß des ewig zu kurz Gekommenen und ist nebenbei ein bisschen verliebt in Werther, den er hingebungsvoll abknutscht.

Lottes Ehemann Albert, der Gehörnte (Paul Grill), macht mit viel spießigem Cool-Getue („ich bin wohl ganz gut im Bett“) auf Eifersucht. Und Lotte selbst (Regine Zimmermann) rollt angesichts dieser leidenschaftslosen, endlos quasselnden, kleinmütig selbstverliebten Männertruppe bloß genervt mit den Augen. Immerhin hat sie das emanzipatorisch angehauchte Schlusswort: Die Kerle verwandelten „immer alles in Scheiße“, weil sie Liebe mit Eigentum verwechselten. Peng!


Endloses Gelaber eines Deppen-Trios


Und weil man den trefflich pointierten Goethe-Text für altmodisch befand, erfand man – für die Stille nach dem Schuss – das monologisch-egomanisch verblasene Endlosgelaber eines sich und uns langweilenden Deppen-Trios. Modisches Motto: Männer sind scheiße. Und weil derart Monothematisches wenig theatertauglich ist, bemüht sich die polnische Regisseurin Ewelina Marciniak als Verkunstungs-Künstlerin, indem sie den „szenischen Text“ ihres Landsmanns durch unverständlich performativen Aktionismus mit vermeintlich vielsagenden Metaebenen aufmotzt. Da steht der Narzissmus der Regie dem der Figuren nicht nach. Kitschiger Gipfel der Albernheiten: Akrobatische Dreier-Tänze nach Choreografien von Dominika Knapik mit Musik von Jan Duszyński. Und unentwegt schweben überm schwarzen Bühnenloch riesige Kuheuter-artige Säcke auf und nieder (Bühne und Licht: Mirek Kaczmarek). Vielleicht die schweren Schlechtwetterwolken der Melancholie. Oder eben bloß Luftsäcke für eine aufwändige Luftnummer.

Warnung für Pädagogen und Eltern: Das ist kein Beitrag, der bildungshungrigen oder bloß unterhaltungssüchtigen Jugend einen Klassiker näherzubringen.

„Werther“, wieder am 5. Mai. Hier geht es zu den Karten.

Hinweis: Ewelina Marciniak ist eingeladen zum diesjährigen Berliner Theatertreffen mit ihrer Inszenierung von Schillers „Die Jungfrau von Orleans“ im Nationaltheater Mannheim. Eine TV-Aufzeichnung gibt es am 11. Mai 20.15 Uhr in 3sat.

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4. DT-Tipp - Sartre-Wiederaufnahme

Auf dem Bild: Judith Hofmann (Eve), Ole Lagerpusch (Pierre) © Arno Declair
Auf dem Bild: Judith Hofmann (Eve), Ole Lagerpusch (Pierre) © Arno Declair

Nach langer Liegenzeit gibt es am 11. Mai um 19.30 Uhr (Folgevorstellung 19. Mai) im Deutschen Theater die Wiederaufnahme von Jette Steckels einem Bilderrausch gleichenden Inszenierung von Jean-Paul Sartres politisch-philosophischem Denkspiel „Das Spiel ist aus“.

Bitte zurückblättern auf Kulturvolk-Blog Nr. 81 vom 7. April 2014.

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