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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk-Bühnenkritik Nr. 537

1. Dezember 2025

Heute: 1. Deutsches Theater – „Die Marquise von O und – “ / 2. Hans Otto Theater Potsdam – „Ein Bericht für eine Akademie“ / 3. Maxim Gorki Theater – „Androgynous“

1. Deutsches Theater - Beeindruckend und beklemmend

"Die Marquise von O. und -" im Deutschen Theater © Eike Walkenhorst

Heinrich von Kleist veröffentlichte 1808 seine Novelle „Die Marquise von O …“ Das Erschreckende damals wie heute ist sein Zusatz „Nach einer wahren Begebenheit”. Denn Folgendes soll sich zugetragen haben: Die verwitwete Marquise von O. wird bei der Erstürmung der Festung, auf der sie sich aufhält, fast Opfer eines Übergriffs, wenn der Graf F. sie nicht rechtzeitig davor bewahrt hätte. Doch nach seinem umgehenden Verschwinden stellt sich heraus, dass sie schwanger ist. Wie das? Von wem? Sie weiß es nicht und gibt die seltsame Anzeige auf, dass sie denjenigen, von dem ihr Kind stamme, wenn er sich denn bitte melden möchte, heiraten werde. Absurd! Unglaublich!

Doch in dieser neuen Inszenierung am Deutschen Theater kommt es noch drastischer, wie der Zusatz „und – “ im Titel bereits vermuten lässt. Vom Theater heißt es dazu: „In ihrer ersten Arbeit am Deutschen Theater verwebt die ungarische Regisseurin
Ildikó Gáspár drei weitere Fälle ,nach wahren Begebenheiten‘ mit dem der Marquise. Franca Viola wurde 1966 in Italien von ihrem kriminellen Ex-Verlobten entführt und vergewaltigt, um sie durch das juristische Mittel der ,Wiederherstellungsehe‘ dazu zu zwingen, doch eine Ehe mit ihm zu schließen. Erika Renner wurde 2013 von ihrem Exfreund in ihrer eigenen Wohnung attackiert, betäubt – und anschließend mit Lauge verstümmelt. Und schließlich Gisèle Pelicot, die Frau, die nach 50 Jahren Ehe von Ermittlern erfährt, dass ihr Ehemann sie über fast zehn Jahre regelmäßig betäubt, vergewaltigt und in diesem Zustand dutzenden anderen Männern im Internet zur Vergewaltigung angeboten hatte.

Dieser Abend ist also nicht nur geprägt von dem fiktiven Schicksal der Marquise von O., sondern vor allem von den realen Schicksalen der drei oben genannten Frauen.

Diese „Marquise von O und -“ ist dadurch eine beeindruckende, nein, eine beklemmende Inszenierung. Die emotionale Beanspruchung für die Darstellerinnen und das Publikum ist enorm. Immer wieder wird die „Handlung“ um die Marquise unterbrochen, um die grausamen Misshandlungen an den Opfern Viola, Renner und Pelicot mitunter detailliert zu beschreiben.

In dem Regiekonzept verwandeln sich stets mehrere Darstellerinnen und Darsteller in die jeweilige Hauptfigur, wodurch deutlich wird, dass es bei dem hier gezeigten zwar um ein einzelnes Schicksal, mitnichten aber um Einzelfälle handelt.

Es spielen Maren Eggert, Alexander Khuon, Mathilda Switala, Jörg Pose, Florian Köhler, Lenz Moretti, Almut Zilcher. Das Geschehen auf der Bühne wird durch musikalische Begleitung und Projektionen verstärkt. (Musik: Flóra Lilli Matitz, Video: András Juhász)

 

Diese Inszenierung zeigt, wie Theater mit all seinen Mitteln direkt mit der Realität in Kontakt treten und dadurch mit dem Publikum Zeitgeschehen verhandeln kann. Ein wichtiger Abend. Vom Theater heißt es warnend: „Wir weisen darauf hin, dass dieses Theaterstück sexualisierte Gewalt, Vergewaltigung und Traumabewältigung thematisiert.“ Für schwache Nerven demnach nur bedingt geeignet.

Deutsches Theater, 3. und 21. Dezember sowie 1. Januar. Hier geht’s zu den Karten.


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2. Hans Otto Theater - Bedrückend zeitlos

"Ein Bericht für eine Akademie" im Hans Otto Theater © Thomas M. Jauk

Ob Franz Kafka geahnt hat, dass er mal so auf der Bühne reüssieren wird? Es ist schon seltsam, dass Kafka, der nie ein Theaterstück geschrieben hat, doch immer wieder genau im Theater auftaucht – als Bühnenautor. Wie ist das möglich? Der „Bericht für eine Akademie“ ist eigentlich, wie der Name schon sagt, nichts weiter als eben ein Bericht. Aber dieser ist so anschaulich und mit so eindrücklichen szenischen Bildern verfasst, dass er zu einer theatralen Umsetzung geradezu herausfordert.

Im Zentrum von Handlung und Erzählung steht „Rotpeter“ – ein Wesen, irgendwo angesiedelt zwischen Tier und Mensch. Er nun berichtet von seiner Gefangennahme als Affe, von seiner Verwundung und der Schiffsreise in die „Zivilisation“. Vor die Wahl zwischen Zoo und Zirkus gestellt, entscheidet er sich für letzteren und lebt nun ein Leben zwischen Bewusstsein und Dressur, zwischen Freiheit und Anpassung.

Peter Wilms gibt den Rotpeter keinesfalls als vermenschlichtes Tier. Und trotzdem sehen wir im Laufe des Abends immer wieder auch genau das – in ihm und so auch in uns. Geschickt ist der Zuschauerraum zu einem halbrunden „anatomischen Theater“ umfunktioniert. (Bühne und Kostüme: Michelle Huning). Rotpeter entblößt vor uns seine Gedanken und Sorgen, Wünsche und Überlebenstricks. Es ist ein komplexes psychophysisches Spiel. Wir sind Zeugen einer äußeren und auch inneren Verwandlung. Aber eigentlich – und das macht die Erzählung von Franz Kafka so bedrückend zeitlos – wird uns vorgeführt, wie jemandem alle Instinkte und Affekte abtrainiert werden zugunsten dafür, dass er sich passgenau in die Gesellschaft einfügen kann. Wir nennen das heute auch Erziehung und Bildung. Für die Regisseurin Anna Michelle Hercher sind „Anpassungsdruck“ und „Unterwerfungszwang“ zentrale Vokabeln für ihr Nachdenken über dieses Werk.

Auf der Bühne befinden sich nur ein Schminktisch, ein Kleiderständer, ein begehbares Drehgestell mit Handy-Kamera für Projektionen und drei Spiegelwände. Paul Wilms verwandelt sich als eine Art Influencer permanent, reflektiert eben über diese Verwandlungen, nimmt sich dabei selbst auf und projiziert das für uns nochmal als Livestream auf eine Leinwand. Unsere Selbstwahrnehmung hat sich inzwischen vom Spiegelbild zum Selfie verschoben. Schlussendlich schiebt der Rotpeter die Spiegel auf der Bühne so zusammen, dass wir uns selbst sehen können. Wir Affen, wir dressierten. Die Äffinnen selbstredend auch.

Es ist erstaunlich, wie zeitlos auch die Sprache von Franz Kafka aus dem Jahr 1917 wirkt. Und so lassen sich Gedanken zu Identitätsverlust durch Normierungen für die Arbeits-, Lebens- und vor allem Konsumwelt hier – auch ohne vordergründige Aktualisierungen – mitdenken. Treffend die Aufschrift auf dem Rücken des Darstellers: „Common sense makes no sense at all.“ (Der „gesunde“ Menschenverstand ist völlig sinnlos.)

Wer die Reithalle nach einer Stunde verlässt, tut dies mit Sicherheit nachdenklich. Vielleicht mit der Frage beschäftigt: Wer bin ich? Wie bin ich zu dem geworden, was ich bin? Wie konnte es nur soweit kommen?

Hans Otto Theater Potsdam, Reithalle Box; 14. und 21. Dezember sowie 4. Januar. Hier geht’s zu den Karten.


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3. Maxim Gorki Theater - Angenehm didaktisch

"Androgynous" im Maxim Gorki Theater © Ute Langkafel MAIFOTO

„Androgynous“ spielt auf beeindruckende Weise mit sexuellen Identitäten. Friedrich Schiller schrieb so treffend von der Schaubühne als moralischer Anstalt und dass sie eine Schule der praktischen Weisheit sein solle. Nichts weniger als das wird hier dem Publikum geboten.

Der Untertitel der Inszenierung lautet „Portrait of an naked dancer“. Eigentllich geht es um Leben und Tanz von Anita Berber (1899-1928), einer skandalumwitterten Nackttänzerin der 1920er Jahre, die wohl alles ausprobiert hat an Lebensentwürfen, Drogen und sexuellen Orientierungen, was damals denkbar, verfügbar und lebbar war.

Für Otto Dix stand sie 1925 völlig nackt Modell. Er zog ihr dann aber auf seinem Bild ein knallrotes Kleid und einen ebenso leuchtend roten Mund an.

Vor diesem personellen und gleichermaßen historischen Hintergrund berichten Bishop Black, ein Porno-Darsteller, River Roux, ein/e genderfluide Sexarbeiter*in, und Dieter Rita Scholl, wie der Name schon andeutet, ein schlanker hochaufgeschossener Mitsiebziger, der im Laufe seines Daseins in der alten und aktuellen Bundesrepublik immer mal wieder seine Identität gewechselt hat, über ihre Lebenswege.

Für Text und Regie zeichnet Lola Arias verantwortlich. Sie schreibt: „Wie viele meiner Arbeiten ist auch „Androgynous“ eine Reise durch die Zeit und eine Übung im Reenactment. In diesem Fall werden jedoch nicht nur die Leben der Darsteller*innen rekonstruiert, sondern auch das Leben einer Figur aus der Zeit vor hundert Jahren – Anita Berber – sowie die Geschichte des Tanzes und der Performancekunst.“ Das ist ein hoher Anspruch. Aber er gelingt. Es ist unerhört spannend zu erfahren, wie die drei zu denen wurden, die sie heute sind; wie sie über ihre Herkunft und ihre Reise durch die sexuellen Identitäten, Leidenschaften, Praktiken und Erfahrungen berichten – und was das alles im Umfeld von Familie und Gesellschaft, Kunst und Kommerz bedeutet. Das Thema Androgynität wird also keinesfalls als abstrakter Diskurs vorgeführt, sondern als emotional erfahrbare Realität.

Die Inszenierung ist dabei auf so angenehme Art und Weise didaktisch, dass man eigentlich allen Pubertierenden, also Suchenden, ihren Lehrkräften und Eltern den Besuch nur wärmstens empfehlen möchte.

Die Performance lebt von Erzählung, Verwandlung, Akrobatik und Tanz. Viele Fotos und Informationen – sowohl von Anita Berber als auch von den Darsteller*innen – werden projiziert. Die Bühne (Irne Ip) ist schlicht und verwandelbar zugleich: zwei Schminktische an den Seiten, eine Bühnenfläche dazwischen, Vorhänge für die Projektionen und ein wenig zirzensisches Equipment. Am Schlagzeug links auf der Vorderbühne begleitet Katharina Ernst das Geschehen. Rhythmus ist ja das Medium für Tanz und Sex gleichermaßen.

Das Publikum der Vorstellung, die ich gesehen habe, war begeistert. Und es war keinesfalls nur die queere Comunity vertreten. „Androgynous“ ist fraglos ein besonderer Theaterabend, eine wirklich gelungene Collage. Dass die Darsteller*innen sowohl reale Menschen in einer Kunstwelt als auch ihre eigenen künstlerischen Schöpfungen in dieser realen Welt sind, macht den Abend horizonterweiternd und grenzüberschreitend. Man lernt, man lacht, man staunt – darüber wie Moral und Leben doch mitunter auseinander- und dann wieder zusammenfallen.

Maxim Gorki Theater, 19. Januar. Hier geht’s zu den Karten.

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