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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk-Bühnenkritik Nr. 540

22. Dezember 2025

HEUTE: 1. Berliner Ensemble – „Was ihr wollt“ – / 2. Komödie – „Vanya“ / 3. Friedrichstadtpalast – „Blinded By Delight“

1. Berliner Ensemble - Herzrasen im Tollhaus

"Was ihr wollt" im Berliner Ensemble © Jörg Brüggemann

Weiß man wirklich, was man will? Und weiß man, wer man wirklich ist? Sein und Schein, das sind oft zwei verschiedene Paar Schuhe, in denen wir über die schwankenden Böden unseres Daseins stolpern. Oder stürzen. Was schmerzlich sein könnte – oder glücklich machen; das Leben ist eben voller Konjunktive. Davon handelt die Verwechslungs- und Verkleidungskomödie „Was ihr wollt“; genialisch ausgeheckt von William Shakespeare. Und überraschend funkelnd im Geist unserer Zeit.

Ach, wir sind wir selber nicht.“ Das ist die Sachlage, unter der ein von seligen Trieben gepeitschtes Menschenhäuflein aneinander gerät auf dem sagenhaften, vom Meer umtosten Insel-Reich des Herzogs von Illyrien. Einer „offenen Anstalt für Verrückte“, so sagt es Thomas Brasch in seiner so trefflich bildmächtigen Übersetzung.

Da sind ein Herzog (
Oliver Kraushaar), schwer verliebt in Gräfin Olivia (Sebastian Zimmler), aber skeptisch. Also setzt er seinen Pagen Cesario, in dessen Männerkleidern Viola steckt (Amelie Willberg), als Liebesboten ein. Doch die wiederum ist verknallt in ihren Chef, den Herzog, derweil Olivia scharf ist auf Cesario, ohne zu ahnen, dass „er“ Viola ist. Nun taucht noch deren tot geglaubter Zwillingsbruder Sebastian auf (Max Gindorff), der, wie der Herzog, scharf ist auf die Gräfin – das totale Irrewirre. Von der Regie, 400 Jahre nach Shakespeare, ganz locker aufgelöst in Queerness.


Tsunami komödiantischer Spiellust


Doch bevor es nach fast drei Stunden soweit ist mit der freilich erwartbaren Pointe, lässt Antu Romero Nunes wie verrückt die Puppen tanzen in den gefährlichen Stürmen von Herzensexplosionen, bitteren Abfuhren, Seelenweh und Glücksverblendung. Ein Tsunami komödiantischer Spiellust schäumt, dazwischen krachen Gewitter des ordinär Klamottigen, die vielleicht allzu oft das Weh und Ach der Verletzungen und Vergeblichkeiten fast vergessen lassen.

Unvergesslich jedoch die illustre Sammlung praller Randfiguren, die da durch die Show geistern: Die Zofe Maria (
Pauline Knof) als kesses IT-Girl ohne Handy, dafür schlaue Sprüche klopfend („Niveau ist keine Handcreme“); der durchtriebene Suffkopp Sir Toby Rülps als unverschämter Meister säuischer Sketchparaden (Maeve Metelka); der bleiche Ritter Leichenwang als grotesker Depp (Maximilian Diehle); der ergreifend altersweise, schwermütige Narr (Veit Schubert) für die kontemplativen Momente im Irrewirre („Besuch mich, Tod…“). Wie er mit Viola-Cesario gelegentlich am Klavier hockt und leise Mozart klimpert – ein betörend melancholischer Affront gegen die kollektiven Gesangsausbrüche (auch das Publikum darf einstimmen), die groben Brüllereien („Halts Maul! Halts Maul!“) und immer wieder dreisten Ranschmisse ans begeistert juchzende Publikum.


Ein arg Gefoppter wird ganz böse


Und schließlich stolziert da noch der bösartig egomanische, grausam verkackeierte Hofmeister Malvolio durch die Turbulenzen, dem die immer wieder aufregende Bettina Hoppe schließlich doch noch mitleiderregende Züge gibt, bevor er zum Schluss apokalyptisch zerknirscht flucht: „Ausrotten! Alle ausrotten!“

Wenn ihr eine Stadt wärt, dann wärt ihr Mainz“, flötet die Zofe. Und das gilt nicht nur für Sir Rülps, sondern überhaupt für dieses karnevalesk entfesselte, virtuos betriebene Fest des Theaterspiels in bunten, aus allen Zeiten hübsch zusammengeflickten Kostümen (Magdalene Schön, Helen Stein) auf der weiten leeren Bühne, umweht von Plastikfahnen hell wie Wasser (Matthias Koch). Und der Spieltrupp, angeheizt und aufgeputscht durch überbordende Regie-Fantasien, übertölpelt uns unverschämt, aber auch beglückend im diabolisch lachenden Märchenzirkus.

Berliner Ensemble, bei uns noch wenige Karten für den 20. Januar.


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2. Komödie in Reinickendorf - Raus aus der Kartoffel

"Vanya" in der Komödie im Ernst-Reuter-Saal © Franziska Strauss

Einer für alle heißt es bei dieser großartigen Ein-Mann-Show mit Oliver Mommsen. Doch die hat nichts zu tun mit vier Musketieren, sondern mit den acht Figuren – männlich, weiblich, alt, älter, uralt –, die in Anton Tschechows gallig grundierter Komödie „Onkel Wanja“ auf einem russischen Landgut reichlich reden, Tee und noch mehr Wodka trinken, an unerfüllten Verliebtheiten nagen und auch sonst verlorenen Lebensglücklichkeiten nachtrauern. Ein letztlich liebenswürdiges, doch ziemlich verrücktes Kollektiv seelisch schwer Angeschlagener – grundsätzlich aus einem Holz geschnitzt. Ein zwar vielstimmiger Chor, aber doch Variationen des Immergleichen, zusammengefasst in einem Monolog.

Solcherart Verdichtung mag nur einem Könner der Dramatik wie dem mit Preisen überhäuften Stephen Simons gelingen (Jahrgang 1971). Doch sein „Vanya“, vor zwei Jahren in London uraufgeführt, lässt Tschechow (Jahrgang 1860) nicht etwa links liegen, sondern formt dessen bestürzend komische Daseinsbeschreibung trefflich um zum inzwischen international gefeierten, boulevardesk schillernden Solo (deutsch: Barbara Christ). – Mommsen hat die deutschsprachige Erstaufführung.


Ein Hut, ein Stock, ein Badematel


Und er kann‘s. Als begnadeter Verwandlungskünstler. Mit sekündlichem Switchen zwischen Situationen und Figuren allein durch unterschiedliche Sprachfärbungen, Dialekte und Körpergestik. Und ohne den Mummenschanz der Verkleidung, nur sparsam unterstützt durch für die verschiedenen Typen charakteristische Requisiten: Hut, Stock, Pelz, Bademantel.

Dabei entsteht das Kunststück einer erstaunlichen Durchlässigkeit fürs Heutige, fürs aufregend Allerweltsgegenwärtige – gesteuert durch die bewundernswert einfallsreiche, subtile Regie von Felix Bachmann.

Immerhin, auf der Plüschdecke auf dem Esstisch von Vanyas verrümpelter Bauernstube steht zwar noch ein Samowar; und in der Ecke stecken Birkenreiser. Doch daneben sind Kühlschrank, Spülmaschine sowie ein Regal vollgestopft mit VHS-Kassetten (Bühne: Kaspar Zwimpfer). Alles spielt statt im Altrussischen im Nordenglischen der 1970er. Und aus einem riesigen Kleiderschrank kullert – einer der aufschreckend surrealen Momente neben den zahlreich komischen – die Kartoffelernte gleich sackweise, als Mommsen versehentlich die Tür aufreißt. Sie begräbt unter sich wie der süße Brei im Märchen ein Aus- oder Umsteigen aus dem bisherigen Leben der traurig und trostlos über ihren Abgründen an den Knollen kauenden Sehnsuchts- und Vergeblichkeitsmenschen. Doch noch steht da der Wodka. Vanya kippt und stürzt – verzweifelt zorniger Abgang aus düster beklemmendem Raum. Ein Raus aus den Kartoffeln! Sein erster – oder sein letzter Versuch… Herzbewegend auch das.

 

Komödie im Erst-Reuter-Saal, bis 29.12. Unser Kontigent ist leider ausgeschöpft. Karten gibt es noch direkt in der Komödie.


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3. Friedrichstadtpalast - Glückshormone aus der Wundertüte

"Blinded By Delight" im Friedrichstadtpalast Berlin © Marcus Nass

Aus der kunstvoll aufgeschütteten Fülle prunkender Bilder sinnlicher Überwältigung funken – immer mal wieder – lieb gemeinte Apelle ans Gemüt des Publikums: „Träume! Lass Dich ein auf schöne Träume!“

Berndt Schmidt und Oliver Hoppmann, die Erfinder der neuen Palast-Show „Blinded by Delight“, meinen, ein bisschen Lebenshilfe könne nicht schaden angesichts ziemlich trauriger Wirklichkeiten. Und so trällert denn rockig oder schlagernd ein romantisches Herzblättchen-Paar froh durchs Delight. Umgarnt von vier singenden klingenden Glückstraumbeschleunigern; einem Quartett koboldhafter Glitzerwesen. Harlekineske Bespaßung, das passt schon.

Denn das heimliche Palast-Motto heißt schlicht und ergreifend: „Freude schenken!“. Und man hat sich nicht lumpen lassen: 15 Millionen Euro Produktionskosten für dieses Monumentalwerk der Unterhaltungskunst; also eine Million mehr als zur letzten Show
„Falling in Love“, die 61 Millionen Euro einspielte. Der Luxusladen wird auch diesmal wieder brummen.


Nicht kleckern, klotzen


Der Hauptgrund: Die Direktion befolgt brav die Grundregel fürs Big Showbiz: Nicht kleckern, klotzen! – Dazu gehört das Engagement des US-Amerikaners Jeremy Scott, eines Designers von Weltruf, der schon Rihanna oder Madonna in Schale warf. Gigantisch die Parade seiner 500 Kostüme – gern schalkhaft verspielt (des Meisters Markenzeichen). Besondere Hingucker die Kreationen mit knappstem Materialeinsatz oder, im Gegensatz, mit barocker Überfülle.

Und geklotzt wird auf der mit High-Tech vollgestopften größten Theaterbühne der Welt mit einem Zwei-Stunden-Rausch der Bilder (
Florian Wieder, Cuno von Hahn, Szenenbildner, die schon das Opening der Fußball-WM Katar gestalteten). Sie setzen scharfe Kontraste, erfinden raffinierteste Übergänge, unglaubliche Projektionen und Effekte zwischen Zaubergarten und Laserstrahlgewitter. Das wuchtig Pompöse, zart Poetische und flirrend Erotische zusammengedacht. Dabei permanent präsent: Die 60köpfige Ballettkompagnie (Direktion: Alexandra Georgieva) – weltweit ein Alleinstellungsmerkmal. Wenn da im Wasser frech geplanscht wird, ist der Saal perplex. Und wenn die Kick-Line gleißend aufmarschiert, tobt er. Atemberaubend, die mechanische Synchronarbeit der Gliedmaßen. Und im Gesicht bitte ein Lächeln.
Doch zwischendurch immer auch wieder ein Sortiment vom guten alten Zirkus mit internationalen Spitzenartisten.


Schillerndes Gesamtkunstwerk


Geblendet vor Entzücken“– so übersetzt Regisseur Oliver Hoppmann den prätentiösen Titel des schillernden Gesamtkunstwerks, dessen Steigerung von Mal zu Mal eigentlich unmöglich ist. Es bleibt beim bewährten Prinzip Wundertüte. Doch immer, so die Kunst der Regie, ein bisschen anders verwundernd.

Zum Schluss dichtes Gewimmel auf der Bühne dieser größten Ensuite-Show der Welt. Noch einmal dreht die Musik der Live-Band hymnisch auf, dazu noch schnell ein Ratschlag der Direktion als Rausschmeißer für uns auf den Rängen: „Halten Sie ihre Träume fest!“ – gemeint sind natürlich nur die guten. Dazu rieseln hernieder wie im Märchen sachte, sachte silberne Sterne aus hauchdünnem Stanniol.

Friedrichstadtpalast Berlin, Laufzeit bis September 2027. Hier geht's zu den Karten.


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Lametta, Silvester-Knallbonbons und Neujahrs-Feuerwerk – die Gute-Laune-Großfabrik in der Friedrichstraße hat’s. Und wir, das Bühnenkritik-Kollektiv, grüßen damit ganz herzlich unsere Leserschaft. – Dank für Ihre Treue! Am 5. Januar sind wir wieder für Sie da.

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