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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk-Bühnenkritik Nr. 538

8. Dezember 2025

Heute: 1. Grips Theater – "Kuckucksnest" / 2. Theater an der Parkaue – "On Air On Fire" / 3. Theater am Frankfurter Tor – "Für mich soll's rote Rosen regnen"

1. Grips - Alleinerziehende Kinder

"Kuckucksnest" im Grips Podewil © David Baltzer

„Kuckucksnest“ – so der Titel des Stücks der niederländischen Autorin Nina von Tongeren, das das GRIPS als deutsche Erstaufführung im Podewil zeigt.
Mir erschloss sich der Titel nicht ohne weiteres. Erst ein Gespräch mit einer Freundin und eine Recherche ergaben, dass „Cuckoo“ (Kuckuck) in der amerikanischen Umgangssprache auch die Bedeutung für „verrückt“ hat. Und nebenbei verstand ich nach 50 Jahren erstmals den Titel des berühmten Films mit Jack Nicholson „Einer flog übers Kuckucksnest.“


Zwei Schwestern, Saffa und Nim, sind im Umkleideraum der Turnhalle ihrer Schule eingesperrt. Wobei eingesperrt nicht das richtige Wort ist; aber sie sollen dort bleiben, bis ihnen ein Lehrer oder der Hausmeister erlauben rauszukommen.

Was ist passiert? Auf dem Dach der Schule sitzt die Mutter der beiden Mädchen und singt. Der Hausmeister hat es bemerkt und dafür gesorgt, dass die Mädchen „in Sicherheit“ sind.
Beide wollen so schnell wie möglich raus aus diesem Raum, sie wollen sehen, was mit der Mutter geschieht, aber sie werden immer wieder von den Erwachsenen zurück geschickt.

Saffa findet das mit dem Singen nicht so schlimm, die Mutter singt eben gern, aber Nim ist sicher: Die Mutter ist verrückt.
Dass die Mutter krank ist, weiß Saffa ebenso wie die kleine Schwester Nim. Schließlich gehört es zu ihrer beider Alltag, dass die Mutter mal wie ein Wirbelsturm durch die Wohnung und von einem Gefühlsausbruch in den nächsten braust und dann wieder teilnahmslos wie eine traurige Zimmerpflanze da hockt und die Wand anstarrt. Oder eben auf einem Dach sitzt und singt.


Vor allem Angst


Saffa als die Ältere übernimmt Verantwortung, ist immer darauf bedacht, die kleine Schwester zu beschützen. Nim scheint es ihr in keiner Weise zu danken; sie wehrt sich, beschimpft Saffa. In Wahrheit haben beide Angst, Saffa um die Mutter und dass sie selbst versagt in ihrem Beschützerinstinkt; Nim hat ebenfalls große Angst um die Mutter und Angst, dass sie auch einmal so wird. Krank wird. Verrückt wird.

Klemens Kühn hat zwei Garderobenschrankwände versetzt in den Raum gestellt, davor eine Bank, wie sie in jeder Umkleide zu finden ist. Die Türen der blassblauen und blassgelben Spinde sind bekritzelt mit Strichmännchen, Zahlen, Sprüchen. Licht fällt aus Neonröhren, die über der Bühne und den Zuschauern hängen. Kein schöner Ort. Kalt.


Ein zu schwerer Rucksack


Beide Mädchen tragen große weite Strickpullover, die schon besser Tage gesehen haben, am Saum hängen Wollfäden heraus. Die Ärmel sind überüberlang. In denen kann man sich verkriechen, man kann so aber auch Distanz schaffen, um sich schlagen.

Sabine Trötschel setzt in ihrer Regie ganz auf die beiden Darstellerinnen, und was Victoria Schreiber als Nim und Lara-Sophie Milagro als Saffa da aufbieten an Intensität, Zusammen- und Gegeneinander-Spiel reißt mit, wirft Fragen auf. Beide Spielerinnen scheinen zu platzen angesichts dessen, was sich in ihnen aufgestaut hat.

Wie sie mit sich selbst und mit der Schwester ringen, wie sie ganz dicht beieinander sind und sich halten und sich im nächsten Moment wieder wegstoßen, einfach, weil die psychische Krankheit der Mutter eine zu große Aufgaben ist für zwei Kinder, die sich selbst helfen müssen. Eingezwängt in die Gänge zwischen den Schränken, in denen Verstecken auch keine Lösung ist, bleibt nur, miteinander zu reden. Das hilft durchzuhalten.

GRIPS Podewil, 20. Dezember und 18. Januar. Hier geht’s zu den Karten.


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2. Theater an der Parkaue - Geschichte im Radio

"On Air On Fire" im Theater an der Parkaue © Sinje Hasheider

Jungen Erwachsenen von heute die Ereignisse, die zum Fall der Mauer und zur deutschen Einheit geführt haben, nahe zu bringen, ist nicht nur für Pädagogen oder (Groß)Eltern schwer. Zu weit weg für die Kinder.

Einen Versuch auf der Bühne macht jetzt Alexander Riemenschneider im Theater an der Parkaue. Er verwendet dazu eine dokufiktionale Zeitreise von Marion Brasch, bekannt als Moderatorin von radioeins und Autorin mehrerer Bücher, u.a. "Ab jetzt ist Ruhe“, ein Roman, in dem sie ihre eigene Familiengeschichte aufarbeitet. Auch in „On Air On Fire“ greift sie auf ihr Leben zurück. Sie gehörte als junge Frau zum Team von DT64, einem Sender vor allem für junge Menschen, der nicht nur coole Musik spielte, sondern seine Hörerinnen und Hörer direkt im Radio zu Wort kommen ließ. Einzigartig in der DDR.


Standhaft trotz Einschüchterung


Auf der Bühne beginnt die Geschichte am 5. Juni 1989. Wir befinden uns im Studio, bzw. in der Radaktion von DT64. In Peking sind auf dem Platz des Himmlischen Friedens die Panzer gerollt, haben die Proteste der jungen Menschen brutal niedergewalzt. Leo, Nachrichtensprecher, weigert sich, die Meldung dazu im Radio zu verlesen. Er meint, die Meldung klingt, als fände die Redaktion das gut; für ihn sind die Studenten keine Konterrevolutionäre, sondern Menschen, die für Demokratie eintreten, die ihre Meinung friedlich zum Ausdruck bringen wollen.
Weder die eindringlichen Versuche seiner Redakteurin, ihn umzustimmen, noch die subtilen Drohungen des Chefredakteurs ändern seine Haltung. Er verliest die Meldung nicht.

Am Beispiel des Redaktionsteams werden die Abläufe von Juni '89 bis Mai '93 erzählt – trotz langanhaltender Proteste in vielen Städten wurde DT64 abgeschaltet.
Aber diese Zeitreise vermittelt nicht nur geschichtliche Abfolgen mit den Mitteln des Theaters, sondern lässt immer auch die Frage mitschwingen, wie sich jeder und jede in Entscheidungssituationen verhält. Wer macht wann den Mund auf, wer bleibt bei seiner Meinung, wer gibt klein bei, sei es aus Angst oder aus Karrieregründen?

Auf der Bühne 3 im Hof der Parkaue sitzen die Zuschauer in zwei Blöcken, dazwischen die Schreibtische der Redaktion, die Sprecherkabine, das Mischpult für die Aufnahmeleitung. Über einem Zuschauerblock thront der Chefredakteur. Auf transparenten Vorhängen, die schnell auf- und zugezogen werden können, illustrieren Videos das Geschehen von vor 35 Jahren (Bühne und Kostüme: Maria-Alice Bahra).


Aufforderung zum Tun


Jan Tsien Beller, Eisabeth Heckel, Theresa Henning und Ilona Raytman entern diesen Raum; voller Energie, voller Enthusiasmus. Es wird gestritten, es wird gefeiert, es wird gerannt, es wird gerockt. Zum Mauerfall flattern Luftschlagen durch den Raum, das Publikum wird aufgefordert, auf die andere Seite zu wechseln, die jetzt offene Grenze zu passieren, den Perspektivwechsel zu wagen. Das bringt ordentlich Unruhe in die Zuschauerreihen, in denen die 15- bis 16jährigen der Aufführung ansonsten ungewöhnlich ruhig und gebannt folgten.

Jakob Krazes Chefredakteur ist natürlich Genosse, zwar kein Betonkopf, doch schon einer, der den Spagat versucht, der Linie zu folgen und sich trotzdem vor seine Mitarbeiter zu stellen. Aber die Zeit geht über ihn hinweg. Bleibt ihm nur, mit hängenden Schultern abzutreten.

Die Schlussszene spielt in der Nacht der Abschaltung und endet in dem Satz: „Wenn die uns hier das Licht ausmachen, machen wir’s woanders einfach wieder an. Oder ihr.“
Eine Aufgabe, die bleibt.

Theater an der Parkaue, diverse Termine bis 15. Februar. Hier geht’s zu den Karten.


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3. Theater am Frankfurter Tor - Rote Rosen bleiben ewig

"Für mich soll's rote Rosen regnen" im Theater am Frankfurter Tor © Michael Joch

Hildegard Knef wäre in diesem Jahr einhundert Jahre alt geworden. Grund genug, dass sich heutige Künstler und Künstlerinnen dieser außergewöhnlichen Frau widmen, den eigenen Zugang, die eigene Interpretation ihrer Lieder finden wollen.

Allein in Berlin standen oder stehen in der Bar jeder Vernunft, im Renaissance-Theater, im Theater im Palais und im Konzerthaus Abende zu Hilde, wie sie von Freunden und Fans liebevoll genannt wurde, auf dem Spielplan. Nicht zu vergessen der Dokumentarfilm Ich will alles“ von Lucia Schmid, der im Frühjahr in die Kinos kam, und der immer noch zu sehen ist, zum Beispiel in der Astor-Filmlounge, direkt an Knefs Geburtstag, dem 28. Dezember.

Auch das Theater am Frankfurter Tor hat sich der Knef angenommen unter dem Titel „Für mich soll’s rote Rosen regnen – Hildegard Knef, ihr Leben in Liedern“.
Wolfgang Seppelt zeichnet für Buch und Regie verantwortlich; Cora Chilcott spielt die Knef, unterstützt von E-Klavier (Carly Quioz), Schlagzeug (Tilman Person) und Bass (Carnelo Leotta).

Gekleidet in den bekannten Hilde-Trenchcoat samt Herrenhut mit breiter Krempe und mit einem Koffer betritt Cora Chilcott die kleine Bühne des Theaters am Frankfurter Tor. Viel Platz lässt ihr die Band nicht, lediglich am vorderen rechten Bühnenrand kann sie auch spielerisch agieren. Eine Minigarderobe mit beleuchtetem Spiegel und Stuhl und ein Garderobenständer dienen als Bühnenraum und Requisiten.


Knefs Lieder bleiben


Die Lieder, so oft man sie auch gehört hat – nicht wenige Menschen im Publikum sah ich die Lippen bewegen und stumm mitsingen – bestechen durch ihre Wahrhaftigkeit, ihre Lebensklugheit und ihre Poesie. Und sind einfach nicht totzukriegen.

Chilcott erzählt zwischen den Liedern anhand von Texten aus Knefs Autobiographie „Der geschenkte Gaul“, die 1970 veröffentlicht wurde – da war die Knef dreiundfünfzig – , das Leben der Frau nach, in dem sich Höhenflüge und Abstürze die Waage hielten, die verehrt und geschmäht wurde, die mit Verlusten und mit Krankheit zu kämpfen hatte. Nicht alle Songs sind so bekannt wie die „Roten Rosen“. Ein wirklicher Höhepunkt ist „Fragebogen“, ein Lied, das unzählige Fragen zur Person, zum Geschlecht, zum Lebenswandel und zur politischen Einstellung herrlich durcheinander und scheinbar ohne Zielrichtung stellt und dabei an Aktualität nichts zu wünschen übrig lässt.

Cora Chilcott kämpft sich tapfer durch diesen mit zweieinhalb Stunden eindeutig zu langen Abend.
Dabei erfährt sie wenig Unterstützung durch die Regie und wirkt manchmal doch ein wenig verloren. Schade.

Theater am Frankfurter Tor, 20. bis 24. Januar. Karten direkt hier.

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