HEUTE: 1. Berliner Ensemble – „De Profundis" / 2. Hans-Otto-Theater Potsdam –„Also träumen wir mit hellwacher Vernunft" /3. Schaubühne – „Die Wildente“
Eine ganz besondere Erregung lag in der Luft bei dieser Saisoneröffnung des Hauptstadttheaters im Berliner Ensemble. Wegen Jens Harzer, dem wohl sensationellsten Künstler-Transfer der letzten Zeit. Der Träger des Iffland-Rings wechselte vom Hamburger Thalia ans BE und gilt als „bedeutendster und würdigster Bühnenkünstler deutscher Zunge“, so die Titulierung der altehrwürdig österreichischen Auszeichnung.
Nun haben wir ihn, Jahrgang 1972, für mindestens zwei Spielzeiten, hier bei uns, den Spezialisten für blutig verwundete Seelen, gequält Sehnsüchtige, Hochmögende, Haltlose, Fatalistische. Für Sinkende, Versinkende. Für metaphysische Traumtänzer. – Solcherart Figuren sind seins.
Mit ihnen bringt er Gegensätzliches packend in eins: Das Nervöse, wie im Fieber Vibrierende sowie das hoch Konzentrierte bei gleichzeitiger Suche nach dem, was ungeschrieben steht im Text. Das dann findet seinen erregenden – auch nüchternen – Ausdruck in Harzers so seltsam schwingender Stimme, seiner (selten gewordenen!) Kunst des Sprechens. Oder Redens. Und alles fällt zusammen mit Gestik. Mit einer gezielt eingesetzten artistischen Körperbeweglichkeit. Immer wieder fasziniert, wie dieser Künstler in den Text bohrt. Und dieses Bohren in die Tiefe auch spielt.
Der Intendant und Regisseur Oliver Reese hat mal wieder alles richtig gemacht, indem er die kostbare Neuerwerbung (eine diplomatische Glanzleistung!) zum Einstieg ins ohnehin formidable BE-Ensemble groß und respektvoll inszenierte.
Bitterer Liebesbrief
Es ist eigentlich kein „Stück“, sondern ein Monolog mit dem „schrecklichen Brief“, den Oscar Wilde 1897 als Anfang 40-Jähriger aus dem Gefängnis an seinen gewissenlos leichtsinnigen, unverschämt verschwenderischen 16 Jahre jüngeren Lover Lord Alfred „Bosie“ Douglas schrieb. „De Profundis“ („Aus der Tiefe“), so die Überschrift für 200 Druckseiten, von Reese auf 28 klug gekürzt.
Man kann sie als Nachruf des Autors auf sich selbst lesen. Als tragisch gerahmtes Zeugnis einer toxischen Beziehung: „Es war viel zu oft zu wenig schön mit dir.“ Und als erschütternden Leidensbericht eines zu zwei Jahren Einzelhaft wegen schwuler „Unzucht“ verurteilten Menschen, dem alles ihm Wichtige im Leben abhanden kam: Ehre, Ruhm, Vermögen, Zuneigung, Liebe. Eine schonungslose Standortbestimmung (im Abgrund) und hellwache Gesellschaftsanalyse. Ein philosophischer Exkurs. Ein genialisch umwölktes Schmerzenswerk aus Anklage, Selbstanklage, Schuld, Selbstzüchtigung und Selbsterhöhung – „Ich bin gemacht für die Ausnahme, nicht für die Regel“.
Schmerzensrufe nach Empathie
Verbitterte, doch ungehörte Rufe nach Empathie gellen nach draußen bei innerlichem Wühlen um Vergebung und Selbstüberwindung – „alles muss ich aus mir selbst holen“. Da bleibt letztlich kaum noch Mut fürs Weiterleben. Kaum noch Kraft fürs Ringen um Trost, der für diesen Anbeter des Schönen im heiligen Reich der Kunst liegt; in der selbstlosen Liebe; im Verständnis für den ewig elenden Lauf der Welt. – Da singt und sinkt ein geknechtetes, freigeistiges Menschenkind; zart umwölkt von fernen Klängen – hin und wieder und in Moll (Musik: Jörg Gollasch).
Oscar Wilde starb im Herbst 1900 nach seiner Freilassung in Isolation und Armut in Paris. Und zwar unter seinem Niveau, wie er vorausschauend selbst sagte.
Ein Sarg als Knast
Die Bühne (Ausstattung: Jörg Hartung) ist eine schwarze Wand. Auf halber Höhe schwebt ein Kasten gleich einem Sarg: Der Knast, die abwechselnd in eisig grelles, schmutzig trübes, giftig gelbes Licht getauchte Absonderung des gesellschaftlich-menschlich Aussätzigen. Harzer, bis oben hin zum Ersticken eng in dickes schwarzes Mantelwerk gehüllt (Kostüm: Elina Schnizler), streift das im Verlauf seiner Performance ab bis zum (letzten) Hemd. Am Ende rafft er sich auf, klettert mühselig heraus aus seinem Verlies herunter auf die Rampe. Und aus.
Was für ein Ritt durch Ambivalenzen, Katastrophen, Komplexitäten in hundert Minuten. Souverän im Wechsel der Empfindungen, der Einfühlung. Das Publikum springt von den Plätzen. Feiert Jens Harzer. Den Souverän.
In der Kulturvolk-Bühnenkritik 304 vom 24. Juni 2019 steht mein Report über die prominent gerahmte Preisverleihung „Iffland-Ring“ an Jens Harzer im Burgtheater. Die Übergabe des kultischen Geschmeides (Halbedelstein, Brillantsplitter) glich in Wien einem gesellschaftlichen Großereignis. Der jungenhafte, sportlich elastische Knapp-Zwei-Meter-Mann überstand es cool. Mit ganz leicht verstörter Entrücktheit. – Oder ironischer Distanz.
Unser Kartenkontingent für diese Iszenierung ist im Moment ausgeschöpft. Im Service wird eine Warteliste geführt, auf die sich Interessierte setzen lassen können.
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„Stell dir vor, es ist Sozialismus, und keiner geht weg!“, Das rief sie den Tausenden zur Demo auf dem Berliner Alexanderplatz zu. Anfang November 89 war das. Als Christa Wolf tagträumend „mit hellwacher Vernunft“ glaubte, die DDR, „das richtige und bessere Deutschland“, noch retten zu können – dabei hatte sie es innerlich längst aufgegeben. Schon damals, in den Sechzigern, als ihr „der Sozialismus wie eine Mauer gegenüberstand“. Oder als die Staatspartei jedes kritische Künstlerwort diffamierte als „Beleidigung der Werktätigen“. „Ich hocke im Loch und schreibe fürs Loch.“
Wie soll das nur gehen: Eingeklemmt und dennoch weiterschreibend wirken zu wollen? Davon handelt der kaleidoskopartig weit aufgefächerte Abend „Also träumen wir mit hellwacher Vernunft“ von Sascha Hawemann mit Texten der wohl berühmtesten DDR-Schriftstellerin Christa Wolf.
Lebensmosaik einer Dichterin
Da wird noch einmal rasend, doch mit empathischem Ernst, in revueartig montierten Spielszenen, Sketchen, Kabarettnummern, Film, Gesang und Musik das Leben der Dichterin und ihrer zahlreich prominenten Künstlerfreunde durchgeblättert. Und zugleich ein wesentlicher Teil der Geschichte dieses „halben Staates mit halbem Sozialismus alter Männer“, der seine Bürger zunehmend in die Frage zwängte: Bleiben oder Weggehen.
Da ist also das Literaten-Ehepaar Christa und Gerhard Wolf. Er als ihr unentbehrlicher Lektor. Als unermüdliche Lebensstütze für Christa, die beständig an sich sowie am Schreiben zweifelt. Und verzweifelt an der Politik („Unser Sozialismus ist antifaschistisch, aber liegt in Ketten.“). Gesundheitliche Leiden sind die Folge – „‚Neuropram‘ als Sputnik gegen Todesfurcht vom VEB Berlin-Chemie“.
Spektakuläre Figurensammlung
Mit dem symbiotischen Paar verwoben ist in dieser zwischen Fiktionalem und Authentischem flirrenden Collage eine spektakuläre Figurensammlung: Sarah Kirsch, Krug, Reimann, Biermann, Brasch, Thalbach, Fred und Maxi Wander, Konrad Wolf, Anna Seghers, Ulbricht und Honecker. Heinz-Florian Oertel, Preil, Herricht und die Stern Combo Meißen (Guido Lambrecht, Paul Sies, Joachim Berger, Jan Hallmann können auch Rolling Stones). Und Christa Wolf gibts gelegentlich gleich viermal (Ulrike Beerbaum, Janine Kress, Charlott Lehmann, Alina Wolff).
Die Liste offenbart: Sascha Hawemann zeigt viel in vier Stunden, sicher allzu viel – bis hin zu den qualvollen Realismusdebatten und den gesammelten Wolfschen Werken, die sich gegen alles Verbieten letztlich durchsetzten. Das brachte Reisepässe, Auszeichnungen (Büchner-Preis, DDR-Nationalpreis mit 100.000 Mark) und weithin Verehrung. Christa wurde für viele zum moralischen Leitbild. Und klagte doch zeitlebens, dass ihr immer wieder „die Wurzeln ausgerissen wurden“. Keine wirkliche Heimat, nirgends. Aber: Sie hatte ihren Gerd.
Hans-Otto-Theater, 17., Oktober; 13., November und 6. Dezember. Hier geht’s zu den Karten.
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Den Grundstein für dieses entsetzliche Drama unter harmlos zoologischem Titel legte der steinreiche Geschäfts- und Lebemann Hakon Werle (Thomas Bading). Einst machte er mit Ekdal, seinem unterwürfigen Kompagnon (Falk Rockstroh), krumme Geschäfte. Die Sache flog auf. Ekdal, der Depp, bekam Knast. Werle, der Trickser, Freispruch. Und überweist für alle Erdentage Schweigegeld. Auch hatte er ein Verhältnis mit seiner Hausangestellten Gina (Marie Burchard), die er schwängert. Prompt sorgte er dafür, dass sie Ekdals Sohn Hjalmar (Stefan Stern) heiratete, dem man die Hedwig, das Kind, unterschob (Magdalena Lermer). Werle zahlt für alle drei. Zur Befriedung seines schlechten Gewissens. Für seine gutbürgerliche Reputation. Es ist ein Sündenfreikauf mit Win-Win-Situation für alle. Sie halten ihre Füße still und richten sich ein im Gespinst der Lügen. Werle als honoriger Glanzpunkt der feinen Gesellschaft sowie die verhärmten, lebensuntüchtigen Ekdals in ihrem trotz Sponsoring ärmlichen Kleine-Leute-Dasein.
Zerstörerische Aufklärerei
Das könnte so weiter gehen bis ans Ende ihrer Tage. Würde da nicht Werles Sohn Gregers (Marcel Kohler) von weit auswärts hereinstürzen und mit aufklärerischem Furor alle die wohl gehüteten Geheimnisse aufdecken. Zerstörerisch für die Ekdal-Familie. Tödlich endend für den Teenager Hedwig, der sich umbringt.
Wieviel Wahrheit verträgt ein Mensch, wieviel Verdrängung oder Lüge braucht er, um mit dem Leben klar zu kommen? Die Wahrheit als Medizin oder Gift fürs Glück? Immer wieder umkreist Henrik Ibsen (1828-1906) in seinen zwei Dutzend Dramen gut gehütete und brutal zerstörte Lebenslügen – also Grundfragen unseres Daseins.
Schaubühnenchef Thomas Ostermeier gilt als Spezi für die das Gesellschaftliche mit dem Persönlichen verquickenden Sachen des Weltstars aus Norwegen. Doch jetzt, bei der „Wildente“, setzte er extrem aufs platt Agitatorische; ignorierte weitgehend Ibsens psychologische Feinzeichnung der Figuren. Jagte sie gar mit freilich kunstfertiger Energie und ordentlich Zynismus an den Rand der Karikatur.
Und da spielt natürlich der von den Ekdals gezähmte Wildvogel als subtiles Symbol für unter Menschen scheinbar unmögliche Hingabe und Liebe keine Rolle mehr. Umso roher auch die Neufassung des Scripts von Maja Zade mit demonstrativ deftigem Unterschichten-Jargon. Auch die zweigeteilte Drehbühnen-Szenerie von Magda Willi ist schwer symbolisch: Vorn Werles elegantes Reiche-Leute-Interieur, hinten das Ekdal-Prekariat zwischen Sperrmüll-Gemöbel.
Voll krass im Reality-TV
Hauptsächlich dort wird voll krass gespielt. Zwar keine Tragödie, dafür wie im Reality-TV. Die darin interessanteste Figur: Marcel Kohler als verstiegen idealistisches Bürgersöhnchen Gregers Werle, das eben gerade nicht, wie von allen immerzu eifernd eingefordert, um Anstand und Aufrichtigkeit ringt, sondern unentwegt Horror stiftet. Als egomanischer Wahrheitsfetischist.
Schaubühne, 23. – 26. Oktober und 12. – 16. November. Hier geht’s zu den Karten.
Nicht verpassen: Große Jubiläums-Ausstellung „135 Jahre Freie Volksbühne Berlin e.V.“ im Foyer und im Garten des Kulturvolk-Hauses, Ruhrstraße 6. Feierliche Eröffnung am 17. Oktober, 18 Uhr, mit Gesprächsrunden im Piscator-Saal. Herzliche Einladung! Eintritt frei.
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