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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 485

Kulturvolk Blog | Uwe Sauerwein

von Uwe Sauerwein

10. Juni 2024

HEUTE: 1. Staatsoper – „Chowanschtschina“ / 2. Deutsches Theater Box – „Wüste“ / 3. Buchtipp „Auf den Brettern der Welt“

1. Staatsoper - Glaube, Liebe, Hoffnung

"Chowanschtschina © Monika Rittershaus

War es Mussorgsky? Oder sein WG-Genosse Rimsky-Korsakow? Sollte man Strawinsky, Ravel oder Schostakowitsch als Urheber dieses gewaltigen und immer noch rätselhaften Werks betrachten? An „Chowanschtschina“ haben viele Tonkünstler mitgestrickt. Denn wie so vieles in Leben und Werk des Modest Mussorgsky blieb auch diese Oper über Moskauer Machtspiele unvollendet. Als der russische Komponist 1881 seiner Trunksucht zum Opfer fiel, hinterließ er allenfalls das Gerüst zu einer Oper, bar jeglicher Instrumentierung. Vom tragischen Schluss, dem Massenselbstmord religiöser Eiferer, existierte nicht mal die Idee. Erst drei Jahrzehnte nach Mussorgskys Tod wurde das fünfaktige „Volksdrama“, dessen Text er selbst verfasst hatte, erstmals aufgeführt.

Für Regisseur Claus Guth und Dirigentin Simone Young, die hier auf die Fassung von Dmitri Schostakowitsch und das Finale von Igor Strawinsky setzen, ist dieses Werk bis heute eine Baustelle. Das erfordert Forschergeist, auch auf der Bühne. Für die in jeder Hinsicht fulminante Neuinszenierung an der Staatsoper erfand der Regisseur ein wissenschaftliches Team von heute, das die historischen Geschehnisse am Zarenhof untersucht. Ihre Ergebnisse können wir am Desktop mitverfolgen, das macht es leichter. Denn so kompliziert wie der Titel „Chowanschtschina“ („Aida“ lässt sich leichter aussprechen) sind auch die Handlungsstränge, Ergebnis von Mussorgskys intensiver Auseinandersetzung mit der Geschichte seiner Heimat.

Worum geht es? Um Glaubensfragen und politische Intrigen am Moskauer Hof Ende des 17. Jahrhunderts, einer Zeit der Kirchenspaltung. Der Thron des Zaren ist verwaist. Da die beiden Halbbrüder Peter und Iwan noch nicht volljährig sind, übernahm Peters Halbschwester Sofia die Regierung – die sie so schnell nicht wieder abgeben will. Was braucht es Feinde, wenn man Familie hat: Innerhalb des Romanow-Clans bilden sich Fraktionen, die erbittert gegeneinander vorgehen. Am Ende gelingt Zarewitsch Peter der Aufstieg zu Peter, genannt „der Große“.


Glanzvolle Rollendebüts


Die damit einhergehenden Massaker werden in der Oper geschildert, aber nicht gezeigt. Eben so wenig sind bei Mussorgsky Rollen für die Romanows vorgesehen, auch wenn wir in dieser Inszenierung dank mehrerer Komparsen den jungen Peter von Akt zu Akt wachsen sehen, bis zur historisch verbürgten Länge von 2,04 Metern. Die Hauptfiguren stehen für die Unterstützer der wichtigsten politischen und religiösen Strömungen jener Jahre. Fürst Iwan Chowanski (Mika Kares), Titelgeber dieser Oper, sein Sohn Andrei (Najmiddin Mavlyanov) sowie der Bojar Schaklowity (George Gagnidze) führen die allmächtigen Strelitzen an, die Palastwache, die beim Aufstand einen Großteil von Peters Familie ermordet. Die Strelitzen lehnen die Reformen der Hauptkirche ab. An der Spitze der „Altgläubigen“ steht der charismatische Priester Dossifei (Taras Shtonda). Weltoffen, luxusverliebt und intrigant zugleich erscheint Fürst Wassili Golyzin (Stephan Rügamer), dem eine Affäre mit Regentin Sofia nachgesagt wird.

Frauen geraten als Geliebte zwischen die Fronten, vor allem Marfa (Marina Prudenskaya), fanatisch liebend und glaubend, und Emma (Evelin Novak), ein lutheranisches Mädchen aus der deutschen Vorstadt. Wir erleben Menschen, abwägend in ihrem Mitläufertum, verzweifelnd an ihren Idealen. Mit wem man in diesem epischen Gemälde mitfiebern soll, weiß man nicht, denn es gibt keine Unterscheidung von Gut und Böse. Für jede Partie verfasste Mussorgsky eine sehr individuelle Gesangssprache, sogar für kleinere Rollen. Faszinierend, und vom Tenor Andrei Popov höchst lebendig interpretiert, ist etwa die Figur des Schreibers. Glänzen können an diesem Abend alle Stimmen, viele in Rollendebüts.

Vielleicht noch brillanter als gewohnt agiert die Staatskapelle. Was würde sein, wäre Simone Young, heute Chefdirigentin des Sydney Symphony Orchestra, nach Berlin gewechselt? Es ist ja die letzte große Neuproduktion unter der Leitung Schulz/Barenboim, und so ziemlich alles, was die Lindenoper hergibt, wird noch mal aufgefahren. Dazu zählen die Chöre (Daniel Juris), rasante Tanzszenen (Sommer Ulrickson), Christian Schmidts Bühne auf mehreren auf- und herunterfahrenden Ebenen und nicht zuletzt die Lichtregie von Olaf Freese, welche die Epochen trennt oder sich überlagern lässt.

Die Premiere war für 2020 geplant, sie wurde wegen der Pandemie verschoben. Von Russlands Überfall auf die Ukraine konnte (oder wollte) damals noch niemand wissen. Selbstverständlich erblickt man nun aber Parallelen zum aktuellen Herrscher im Kreml, nicht zuletzt weil Putin sich gern mit Peter, dem Großen vergleicht. Auch deshalb stimmt mich der künstlerisch beglückende Abend nachdenklich.

Staatsoper Unter den Linden, 9., 13., 16. und 23. Juni. Hier geht’s zu den Karten.


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2. DT-Box - Verloren in der Beziehungswüste

"Wüste" in der Box des Deutschen Theaters © Jasmn Schuller

Chloe sieht nichts. Und sie sieht zudem schlecht aus. Weil sie sich gleichzeitig einem Facelifting und einer Netzhaut-OP unterziehen ließ, ist ihr Gesicht von Verbänden und einer dunklen Brille verdeckt. In ihrem Motel-Zimmer, einem wüsten Loch in der Einöde Arizonas, wartet die Film-Schauspielerin darauf, endlich zum Set zu können, wo ihr Mann Tom bereits seit Tagen dreht. Chloe lernt noch Text. Bis ihr Sehvermögen wieder hergestellt ist, ist sie auf ihre Assistentin Hannah angewiesen. Die junge Frau geht mit ihr nicht nur das Skript durch, sie ist auch in profanen Dingen behilflich.

Kann man sich auf Hannah blind verlassen? Diese Frage stellt sich recht früh in „Wüste“, einem Stück von Sam Max, uraufgeführt in der Box des Deutschen Theaters. Max arbeitet erstmals in Deutschland, definiert sich als Amerikaner:in, sprich non-binär, führt selbst Regie. Max wuchs nahe New York in einem Industriegebiet auf; nicht unkompliziert, wenn man queer und jüdisch ist. Letzteres ist kein Thema in diesem gewitzten und über weite Strecken witzigen Kammerspiel, aber auch hier geht es um Außenseiter, um Einzelgänger und ihre Schwierigkeiten, Beziehungen zu pflegen.

Denn die drei Personen sind beruflich aneinander gebunden und zugleich sexuell voneinander abhängig. Der Film, an dem das Ehepaar beteiligt ist, scheint ein B-Movie zu sein: Ein Prolet gibt seiner Frau brutal den Laufpass zugunsten einer Jüngeren. Wir ahnen schnell, dass Drehbuch und Wirklichkeit sich bald überlagern werden. Den Raum dazwischen darstellerisch auszuloten, gelingt vor allem wieder einmal Natali Seelig (mehr dazu im Blog Nr. 474 vom 25. März) und ihrer jungen Kollegin Mathilda Switala, die als oft bekiffte Hannah nicht immer dort aufwacht, wo sie es erwartet hat. Die Rolle des Tom (Jakob Gühring/Lenz Moretti) ist vergleichsweise einfach gestrickt.


Psychospielchen im Motelzimmer


Sam Max arbeitet mit Versatzstücken amerikanischer Kultur, oder dem, was man dafür hält. Dazu zählt das Motelzimmer mit Kingsize-Bett und Flachbildschirm. Bühnen- und Kostümbildner Matthias Nebel hat ein drehbares Zimmer entworfen, das ähnlich wie ein Film den Wechsel der Perspektive ermöglicht, ein echter Hingucker. Ansonsten erinnert das gut zweistündige Psychospielchen an Konversationsstücke in der Tradition von Edward Albee oder Tennessee Williams.

Bevor es konventionell wird, schlägt Max eine verrückte Volte. Vom Filmset ist nämlich eine Kinderschauspielerin verschwunden. Tom hat sie vergeblich gesucht. Dann taucht die Vermisste (Lisbeth Gagern/Liselotte Weber) plötzlich auf. Ausgerechnet im Motel, wo sie Hannah mit einer Art Jedi-Schwert bedroht. Das Mädchen als Symbol für die Wüste, die Menschen verschluckt und wieder ausspuckt. „Hole“, zu Deutsch „Loch“, heißt das Stück im Original. Rätselhaft. Aber wenigstens nicht langweilig.

Deutsches Theater, Box. Hier geht’s zu den Karten.


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3. Buchtipp - Brennglas deutscher Geschichte

 © Ch. Links Verlag
© Ch. Links Verlag

Noch keine Lektüre für die Theaterferien? Unbedingt „Auf den Brettern der Welt“ lesen! Auch wenn ein Buch über die Geschichte des Deutschen Theaters nicht gerade tauglich für Strandkorb und Liegestuhl erscheint. Doch Esther Slevogt liest sich streckenweise wie ein Thriller und dürfte auch Menschen ansprechen, die nicht zum Stammpublikum zählen.

Die Kollegin ist Theaterkritikerin, Dokumentarfilmerin und Mitbegründerin von nachtkritik.de, hat schon mal ein Buch über das Leben von Wolfgang Langhoff herausgebracht, der an der Schumannstraße eine Ära prägte, eine von vielen. Nun wagte Esther Slevogt den Rundumschlag von den Anfängen als Unterhaltungstheater über die Neueröffnung 1883 als Deutsches Theater, das sofort zur führenden Bühne Berlins wurde, über die legendären Jahre unter Max Reinhardt, die Zeit des Nationalsozialismus, die DDR bis zum Umbruch 1989 und die Nachwendezeit. Mit der Saison 2009, Beginn der Intendanz von Ulrich Khuon, endet die Berliner Autorin seriöser Weise, denn das Theater hatte die Recherchen wohlwollend unterstützt.

Die zehn Kapitel sind chronologisch gegliedert, aber weit mehr als eine Chronik! Mit dramaturgischem Gespür erzählt Esther Slevogt vom Schicksal unserer Stadt, unseres Landes, vom Los seiner Künstlerinnen und Künstler, zwischen Glücksmomenten und Katastrophen. Ein Kunstgriff. Und immer spannend, obwohl es natürlich über viele der großen Namen, die vor und hinter den Kulissen wirkten, bereits Veröffentlichungen gibt.


Abgesang auf die DDR


Die ganze Welt ist ein Theater, sagt man. Bei Slevogt ist das Theater die Welt. Um nur ein Beispiel zu nennen: Vier Inszenierungen bezeichnet die im Westen aufgewachsene Autorin als Beschleuniger der Prozesse, die zum Mauerfall führten. Volker Brauns Stück „Transit“, das die wachsende Fluchtbewegung aus der DDR thematisierte. Frank Castorfs Inszenierung von „Paris, Paris“, die der Sehnsucht nach dem Westen Ausdruck verlieh. Michail Schatrows Drama „Diktatur des Gewissens“ mit der Forderung nach Meinungsfreiheit. Und schließlich „Der Lohndrücker“ von Heiner Müller: Das Stück aus den frühen Jahren des Arbeiter- und Bauernstaates wurde nun, so Slevogt, „zum bildmächtigen Abgesang auf die DDR“.

Was die Widerstandskraft der Kunst und ihrer Menschen vermag, trotz Verstrickungen in wechselnde Machtverhältnisse, bleibt mir besonders das Zitat einer früheren Dramaturgin im Gedächtnis: „Dieses Ensemble ist wie eine Fettschicht um das Theater herum gewachsen und verschaffte ihm Resilienz.“ Nicht zuletzt deswegen zieht es uns ja ins Theater.

Esther Slevogt: „Auf den Brettern der Welt. Das Deutsche Theater Berlin“. Ch. Links Verlag, 384 S., 25 Euro

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