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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 479

Kulturvolk Blog | Reinhard Wengierek

von Reinhard Wengierek

29. April 2024

HEUTE: 1. Deutsches Theater – „hildensaga. ein königinnendrama“ / 2. Theater am Frankfurter Tor – „Kunst“ / 3. Schaubühne – Die Affäre Rue de Lourcine“

1. Deutsches Theater - Die wölfische Bestie in uns

"hildensaga - ein königinnendrama" im Deutschen Theater © Thomas Aurin

Blutgetränkt sind die Fäden, mit denen seit Urzeiten die Nornen stricken am elenden Schicksalskleid der Menschen. Und sie wissen: Wir alle sind, was war. Nämlich Krieger im Krieg. Im gegenseitigen Gemetzel. Was sie nicht wissen: Wo und wie wohl der Fehler sich eingeschlichen hat ins tödliche Gestrick, in diesen „Schlamassel“, in dem die Menschheit steckt.

Große Klage, große Frage als Ouvertüre zur „
hildensaga“ von Ferdinand Schmalz. Der für seine poetische Stärke auch von uns bewunderte österreichische Autor und Bachmannpreisträger (mehr dazu im Blog Nr. 377 vom 6. Dezember 2021) erzählt mit heiligem Ernst für existenzielle Fragen, die er zugleich lakonisch kommentiert oder gewitzt zuspitzt vom Lied der Nibelungen.

Dabei folgt er mit seiner famosen „Überschreibung“ erstaunlich dicht der Sage vom Drachentöter Siegfried, der für den rundum schwächlichen, doch umso machtgierigeren Burgunderkönig Gunther Islands Königin Brunhild erst freit und dann im Hochzeitsbett begattet. Denn die Eismeeramazone ist dank ihres Zaubergürtels „stark wie zehn Kerle“. Da muss Gunther passen. Und Siegfried helfen. Möglich macht’s seine Tarnkappe, mit der er Gunthers Gestalt anzunehmen imstande ist. Zum Lohn der bösen Kumpanei darf er, wie nett!, Gunthers Schwester Kri
emhild heiraten.


Opfer werden Täter


Was für ein Betrug an beiden Hilden! Der Kardinalfehler, der sich da einschlich in den von den Nornen beschworenen Schlamassel. Das Verbrechen, ausgeheckt von Gunthers ruchlosen Mannen am gesetzlosen Wormser Hof, wird aufgedeckt. Brunhild und Kriemhild, erniedrigt und gedemütigt, eifersüchtig und rachsüchtig, entfesseln wie von Sinnen eine Spirale der Gewalt. Zur Alternative unfähig – Verzichten, Verzeihen, Verlassen – kommt es zum nächsten Fehler. Die Opfer werden Täter. Und verkrampfen sich mit den auf Machterhalt gepolten Männern. Ein Drama aus Intrige, Lüge, Verrat, Egozentrik und Wahn, Angst, Feigheit nimmt seinen grauenvollen Lauf.

Der Autor umkreist in seiner aus Tragik und Groteske zusammengeschobenen Mär die Frage, inwieweit diese Macht-Mechanismen uns eingeschrieben sind. Schlummert in jedem von uns die Bestie? Sind wir selbst die Katastrophe? Oder können wir das blutige Schicksalsgewebe der Nornen zerreißen? Können lassen, können verzichten?


Stolze Frauen, waidwunde Furien


Der „hildensaga“-Untertitel heißt „ein königinnendrama“. Wer da an Feminismus denkt, denkt zu klein. Zwar lodert Frauenpower, doch gehen die hohen Hilden im Krieg entfesselter Leidenschaften und eherner Prinzipien gemeinsam mit den fatalen Helden zugrunde.

Julischka Eichel als Kriemhild und Svenja Liesau als Brunhild spielen zwei Weibchen und zugleich zwei kluge stolze Frauen, aber auch zwei waidwunde Furien und Göttinnen der schlimmen Rache. Aufregend. – Und unverständlich, dass in der Regie von Markus Bothe auf dem von den königlichen Frauenhänden blind ächzend ins Blutbad getriebenem Schicksalsrad (eine Drehscheibe auf leerer Bühne: Kathrin Frosch), dass dort bloß Hampelmännchen sich aufspielen in kunterbunten Latzhosen und schrillfarbigen Zottelpelzen (Kostüme: Justina Klimczyk).

Da ist
Janek Maudrich als albern muskelposender Schlaks Sigi, der einzige in Alltags-Jeans und T-Shirt, dem das Schwert ziemt, die Tat, und nicht etwa das Denken; daneben Florian Köhler als Läppisch-Gunther, Jonas Hien als Intrigenchef Hagen, Jeremy Mockridge als Hübsch-Höfisch-Gernot und Andri Schenardi als Softy-Giselher. Was für ein eitles, deppert gespreiztes Gegenüber für die geschändeten Königinnen. Solch Verkaspern der bösen Kerle nimmt dem Ganzen Größe und Wucht.

Wenigstens
Ulrich Matthes im kardinalsroten Gewand als einsame Stimme der Nornen hält die Balance zwischen existenzieller Not und gnadenlos höherem Witz. Er zelebriert im mitfühlend entrückten, zugleich eindringlich insistierenden, ja göttlich nüchtern wissenden Ton Klage, Kommentar, Warnung.

Da draußen lauern wölfische Zeiten.“ So die letzte Einsicht einer grausam verreckenden Königin, bevor alles tot ist. Es ist das schaurige Schlusswort des Abends.

Deutsches Theater, am 11., 12., 15., 27. Mai. Hier geht’s zu den Karten.


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2. Theater am Frankfurter Tor - Was uns kaputt macht

"Kunst" im Theater am Frankfurter Tor" © DERDEHMEL/Urbschat

Wahnsinn! 100.000 Euro für ein Gemälde, auf dem nichts drauf ist. Eine monochrom weiße Fläche. Zugegeben, mit einigen zart silbrig-grauen Fädchen. Aber so viel Geld „für solch einen Scheiß“, da dreht Marc durch. Und hält seinen Freund Serge für total bescheuert, der sich berauscht an diesem „Nichts“ eines hochberühmten Künstlers und es gekauft hat. Für 100.000 Euro.

Auch Yvan, der hinzukommende Dritte im alten Freundesbund, staunt irritiert, sagt aber nichts. Keine wirkliche Meinung, doch schwankend zwischen „Nun ja, muss man verstehen!“ und „Aber ach, so viel Geld…“.

Soweit die Ausgangslage in „Kunst“, dem 1994 in Paris uraufgeführten sarkastisch-komödiantischen, psychologisch fein ziselierten und sprachlich scharf geschliffenen Welterfolg der französischen Autorin Yasmina Reza.

Da mag durchaus eine saftige Satire auf den Wahn des Kunstmarkts mitschwingen. Doch im Kern geht es um sehr viel mehr: Nämlich um die Schwierigkeiten, auch extrem gegensätzliche Meinungen selbst unter guten Freunden gelten zu lassen, souverän darüber zu reden oder sie zumindest großmütig auszuhalten. Und sich nicht untereinander kaputt zu machen.


Fragwürdige Männerfreundschaft


Aber genau das geschieht mit dem Dreier ziemlich gegensätzlicher Charaktere – der protzig Bildungsbürgerlichkeit ausstellende Serge (Daniel Wobetzky), der handfeste, eher schlicht gestrickte Hitzkopf Marc (Johannes Hallervorden) und der biedere, liebenswert weicheiernde Yvan (Steffen Melies). Zwar trifft man sich gern zum Palavern in der Kneipe, bleibt aber locker oberflächlich. Übergeht mit Bedacht gärende Widersprüche – soziales Gefälle, gegensätzliche Mentalitäten, Lebensansichten, Daseinsansprüche. Doch mit der Kunstdiskussion, die schnell ausartet ins Grundsätzliche und eskaliert bis zu Handgreiflichkeiten, da werden bislang verschwiegene Wahrheiten ausgekippt. Bis der Kumpelbund daran zerbricht.

Wir sehen, der Reza-Klassiker ist gegenwärtig wie nie. Und Regisseurin Irene Christ, frei von aktuellen Anzüglichkeiten, organisiert mit Verve und Präzision die saftigen, für alle Beteiligten freilich arg verletzenden Schlachten des gegenseitigen Verurteilens und Ausgrenzens. Das trotz allem nicht unsympathische Trio (ein Extra-Kunststück!) tobt zwischen Slapstick und Sprachvirtuosität bravourös auf der Brettl-Bühne des frisch gegründeten 99-Plätze-Theaters. So abgründiges wie großartiges Unterhaltungstheater am Frankfurter Tor. – Ein Hit der Saison!

Theater am Frankfurter Tor, Bis 22. Juni. Hier geht’s zu den Karten.


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3. Schaubühne - Suff, Horror, Paranoia

"Die Affäre Rue de Lourcine" © Fabian Schellhorn

Zwei Männer morgens im Ehebett, sturzbetrunken, Katerstimmung, Filmriss, eine Ehefrau taucht auf, Erklärungsnotstand – alles normal komisch. Sie verschwindet stumm mit schrägem Blick und schüttelndem Kopf – schon seltsam komisch. So aber können die Herren Lenglumé (Bastian Reiber) und Mistinque (Damir Avdik) endlich anfangen mit ihrer Aufklärungsarbeit: Ob und woher sie sich kennen (alte Schulkameraden beim Klassentreffen abends zuvor). Und was in der Nacht, vom Suff abgesehen, wohl noch alles geschah in der zwielichtigen Rue de Lourcine. Diese Nachforschungen sind mehr als komisch. Sie steigern sich ins pure Entsetzen und lassen – Oh Schreck! – eherne Gewissheiten samt gepflegten Identitäten unheimlich zerbröseln.

Eugène Labiche (1815-1888) gilt als Erfinder der Boulevardkomödie. Er bringt ohne sich groß um Logik und Psychologie zu kümmern, das menschlich- allzu menschlich Katastrophale in einen giftigen Amüsierbetrieb.


Frech Fassaden zerdeppern


Als sein Paradestück gilt „Die Affäre Rue de Lourcine“, 1857 im boomenden Pariser Vaudeville-Betrieb uraufgeführt, von keiner geringeren als Elfriede Jelinek ins Deutsche übersetzt und vielerorts gern gespielt. – Eben, weil der aufs befreiende wie erstickende Lachen erpichte Autor die nicht nur im gut-brav-bürgerlichen Milieu errichteten Fassaden solider Anständigkeit frech zerdeppert.

Labiches schauerliche Geschichte der beiden Trunkenbolde, die aufgrund ihrer schnapsgesteuerten Gedächtnislücke bei Füllung derselben dem von falschen Indizien befeuerten Wahn verfallen, im Anschluss ans fade Klassentreffen im wilden Puff der Rue de Lourcine eine der jungen Damen zerstückelt zu haben, diese hübsch irrwitzige Story kippt an der Schaubühne Regisseur Jan Bosse in einen wuchernden Alptraum. Unter zickiger Mitwirkung der Luxuspuppe Madame Lenglumé (Julia Schubert), dem betörend stoischen Diener im Haus der Steinreichen (Axel Wandtke) sowie einem armen, bettelnden, durchtrieben zauseligen Verwandten (Holger Bülow).


Kotzen, Jagen, Kloppen, Küssen


Da kommt so allerhand Bewährtes aus der Klamauk-Kiste der Komiker zum Einsatz. Geschwind werden Klamotten gewechselt (schicke Kostüme: Kathrin Plath); wird ausgiebig gekotzt, einander gejagt, geküsst, gekloppt (sogar mit Bolzenschneider und Bohrmaschine). Und gelegentlich wird gesungen unter Beigabe von Schopenhauer-Zitaten. Obendrein regnet es Wasser ins pompöse Himmelbett (Bühne: Stephane Laimé), bevor alles zusammenkracht, die Schwerenöter in die Tiefe stürzen. Wo sie, im Bühnenuntergrund, verzweifelt herumirren. In den gruseligen Videobildern von Meika Dresenkamp schauen sie aus wie Dr. Mabuse und Nosferatu.

Alles klar: Da wuchert Paranoia im angstgesteuerten Vertuschspiel des – womöglich bloß herbeigesponnenen? – blutrünstigen Frauentötens. Am Ende weiß überhaupt niemand mehr, was Sache ist: Realer Mord oder Angstfantasie? Wer lebt hier noch oder sind alle schon tot? Labiches flott farcehafte Enthüllungskomödie nunmehr eingedickt als wirrer Horrortraum.

Dabei haben wir längst kapiert: In jedem guten Menschen steckt zugleich das Schlimmste. Und Wahnsinn lauert immer und überall. Also: Nix neues unter der Sonne. Aber ein paar Calvados zuvor in der Kneipe dürften unser Lachen deutlich lockerer machen. – Oder sollen wir gar nicht…?

Schaubühne, bis 6. Juni. Hier geht's zu den Karten.

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