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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 457

Kulturvolk Blog | Reinhard Wengierek

von Reinhard Wengierek

13. November 2023

HEUTE: 1. Kammerspiele des Deutschen Theaters – „Die kahle Sängerin“ / 2. Kammerspiele des Deutschen Theaters – Bunbury“ / 3. Deutsches Theater – Gratulation zur 100. Vorstellung von „Gift“

1. DT Kammer - Kakaobäume tragen keine Krokodile

"Die kahle Sängerin" in der DT Kammer © Lex Karelly, Schauspielhaus Graz

Riesige Wanduhr im Salon. Mal geht sie vorwärts, ordnungsgemäß; mal ruckeln die Zeiger rückwärts, nicht ordnungsgemäß. Dann wieder überspringen sie, offensichtlich verrückt geworden, ein paar Stunden. Ist die Zeit aus den Fugen oder bloß die Uhr durcheinander? 

Nun tritt Mrs. Smith auf, vornehm im Abendkleid, blickt aufs Zifferblatt und ruft: „Ist schon viertel vor neun!“ Die Uhr zeigt gerade: Zehn nach eins.

Wem das zu doof ist, der ist hier falsch. Denn er sitzt im absurden Theater und könnte gehen. Oder aber: Er bekommt alsbald im Verlauf der Vorstellung eine Ahnung davon, wie traurig es doch ist, wenn da in einem rotplüschigen Salon Leute quasseln, ohne den Sinn dessen fassen zu können, was sie sagen wollen. 

Wie sie Blabla ausschütten, nur, um nicht stumm beieinander zu hocken, weil sie sich eigentlich nichts wirklich zu sagen haben. Ein offensichtlich sinnloses Gerede als große Vergeblichkeit, zusammen zu kommen. Ist doch traurig, aber auch komisch. 

Die Tragödie der Sprache 

Davon handelt „Die kahle Sängerin“ von Eugene Ionesco. Der rumänisch-französische Autor (1912-1994) nannte es ein „Anti-Stück“. Weil er in den elf Szenen doch nur „Wortleichen“ aufgehäuft habe; einen Leichenberg als Bild für die „Tragödie der Sprache“. Und mehr noch: Ein Sinnbild für das Scheitern der Menschen, ihr Leben zu packen und miteinander wirklich zu reden. Also eigentlich kein „Anti-Stück“, sondern ein lebenspralles Stück über die Schwierigkeit menschlichen Verstehens, über Empathie. Es gilt inzwischen als Klassiker, als Gründungsdokument (1949) des absurden Theaters. Und spiegelt doch nichts weniger als das seit jeher letztlich Absurde unserer Existenz. 

Kann das lustig sein? Ja! – Aber: Ionescos „aggressives Ballett“, so er selbst, aus bizarren Dialogen, Nonsens-Sätzen, Phrasen und leeres Geplapper verlangt ein erstklassiges Ensemble. Und eine ingeniöse Regie. Ansonsten könnte es schnell passieren, dass Klamauk die subtile Sache kaputt haut. 


Mit Abstand zu sich selbst 

Endlich haben wir sie wieder auch bei uns in Berlin: Anita Vulesica. Die vielfach mit Preisen geehrte Regisseurin (und Schauspielerin!) ist längst eine Spezialistin fürs Komödiantische. Dabei wird besonders offensichtlich ihr Wesen, einen – wie Ionesco „Abstand zu sich selbst“ zu haben bei der Betrachtung der Welt. Um zu verstehen, wie „rührend vergeblich“ (Ionesco) das Leben ist. 

Außerdem: Diese Regisseurin verliert bei all ihrem Sarkasmus und scharfen Sinn für Aberwitz, bei all ihrer überbordenden theatralischen Fantasie und ihrem ausgeprägten Gefühl für das präzise Maß, für Timing, Action, Stille und Leerstellen (mit abgründiger Langeweile), bei all dem verliert sie nie aus den Augen, aus dem Herzen jenes besagte „Rührend“. Das macht ihre Inszenierungen groß und weit und tief. So aufregend, nachdenklich, herzergreifend. 

Kurzum: Ihre „Kahle Sängerin“ ist ein Meisterstück. Die beiden Ehepaare Smith und Martin (Beatrice Frey, Moritz Grove & Evamaria Salcher, Frieder Langenberger), abgrundtief einander entfremdet, aber irre einander zuplappernd und dabei heftig ineinander verkrampft auf dem Slapstick-Sofa, diese Salon-Gesellschaft der verzweifelten Vier liefert die perfekte Symbiose von Komik und Tragik; von sehnsüchtigem Wunsch und hilflosem Unvermögen. Das Publikum kugelt sich, erschrickt aber auch immer wieder. Das Abgründige ist ihm doch wohl vertraut. Und wird zusätzlich aufgedreht, wenn ein seltsam kesses Dienstmädchen erstaunlicherweise mit dem Hackebeilchen dazwischenfährt (Katrija Lehmann) und ein tumber Feuerwehrmann einfällt auf der verbiesterten Suche nach Feuern (Raphael Muff). 

Zum Schluss gibt es – „Kakadu, Kakerlak“ – noch ‘ne kleine Dada-Show: „Die Kakaobäume der Kakaobauern tragen keine Krokodile, sondern Kakaobohnen“. Und schließlich der Rausschmeißer, um uns nicht mit Ionescos „Nervöser Depression und Erstickung“ angesichts des Sprach- und Kommunikationselends zu entlassen: Eine schmissige musikalische Kurzrevue mit John Lennon und Love and Peace. – Regieanweisung: Wir sollen uns Sisyphus als einen fröhlichen Menschen vorstellen. Trotz allem. 

Ach ja, und was treibt die kahle Sängerin? Da heißt es schlicht: „Sie trägt noch immer dieselbe Frisur.“ 

DT Kammer, 2., 26. und 29. Dezember. Hier geht’s zu den Karten.


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2. DT Kammer - Schrecklicher Klamauk und schöner Zungenkuss

"Bunbury - Ernst sein is everything!" in der DT Kammer © Lex Karelly, Schauspielhaus Graz

Ein hübscher Jüngling, elegant und elastisch, schlüpft vor den tiefroten Samtvorhang, um mit vornehm ausdruckstänzerischer Gebärde einem seidenweichen Popsong zu lauschen und in die Klangwolken aus dem Pianoforte zu tauchen: „Two Men in Love“ von Jamie Irrepressible. Das wahrlich betörende Solo des hinreißenden Andri Schenardi als Algernon Moncrieff (ein tolles neues Schmuckstück am DT!) ist die Ouvertüre zu Oscar Wildes sarkastisch intrigantem Lug-und-Trug-Spiel „Bunbury“ von 1895. 

Soweit so sentimental schön – und zugleich dramaturgisch schlecht. Wird doch von Anfang an mit wattegepolstertem Hämmerchen klargestellt: Hier dreht sich alles ums Nonbinäre. Die beiden befreundeten Protagonisten, Dandy Algernon (Andry Schenardi) und Dandy John Worthing (Frieder Langenberger), sind schwul. Um ihre Liebesspiele geheim zu halten, erfindet Algi einen kranken Freund Bunbury, der seine Hilfe braucht, und John einen Bruder Ernst, den er ständig zu besuchen hat. Die Gelegenheiten für den versteckten Sex.


Zeitgeist-Queerness mit dem Holzhammer 


Wieso verstecken, wieso heimlich? Das Schwulissimo liegt doch von Anfang an offen. Und wieso faseln die Herren immerzu vom Verknalltsein ins Weibliche; in eine gewisse Gwendolen (Lisa Birke Balzer) und Cecily (Maximilian Haß), die ohnehin – entgegen ihrer schrillen Sucht auf Kerle – bei jeder Gelegenheit lesbisch turteln? 

Was für ein knallharter Holzhammer, mit dem Regisseurin Claudia Bossard den Klassiker zeitgeistig auf altbacken Queerness trimmt. Was der irrwitzigen Sache sofort jegliche Doppelbödigkeit nimmt, also den grundlegenden Wilde-Witz. 

Den Titel „Bunbury. Ernst sein is everything“ muss man vollkommen ernst nehmen und spielen. Nur so kann die Komödie erblühen. Entsteht die eskalierende Spannung im Hickhack der Figuren, die Fallhöhe zwischen ihrem öffentlichen Gerede und heimlichen Tun, wirkt die präzise Situationskomik und nicht zuletzt der gesellschaftskritische Impetus des Autors. Wilde wollte der victorianischen Upper-Class ihre Masken vom züchtigen Antlitz reißen, ihre Doppelmoral bloßstellen – schließlich kam er just zwei Monate nach der Londoner Uraufführung wegen „homosexueller Unzucht“ in den Knast. 

All das wird abgewürgt in dieser unentwegt und nicht selten peinlich auf Allotria gebürsteten Inszenierung. Und noch dazu der scharf geschliffene, abgründige Sprachwitz des Autors, den die Bossard verkleistert mit ihrer von englischen Sotissen angestrengt durchwalkten Neuübersetzung. 


Nix da mit Identitätspolitik 


Oscar Wilde hielt „Bunbury“ für sein feinstes Theaterding. Unglaublich die Chuzpe, mit der Bossard daraus eine Klimbim-Veranstaltung macht. Sie hätte hier in der Hauptstadt ehrlicherweise und besser gleich eine der köstlichen Neuköllner LGBTIQ-Klamotten von Ades Zabel im BKA inszenieren sollen. 

Unglaublich, dass die Intendantin diese flott und ach so lustig sein wollende, dabei arg langweilende Alt-Produktion als Übernahme aus Graz nach Berlin schleppte. Umso lächerlicher die Ansage auf dem Programmzettel, man wolle „Wildes Biografie und die identitätspolitischen Auseinandersetzungen unserer Gegenwart“ aufzeigen. Dabei lieferte Claudia Bossard mit der virtuosen Inszenierung des Rainald-Goetz-Stücks „Baracke“ zu DT-Saisonbeginn ein Glanzstück. 

Zum Schluss nach zwei Stunden des Herumtollens und -alberns nochmals ein identitätspolitisch längst ausgelutschtes Ausrufezeichen: Ein minutenlanger Zungenkuss zwischen John und Algernon. Sehr innig. Und ziemlich schön; das immerhin. 

DT Kammer, 1., 10., 11., 16. und 31. Dezember. Hier geht’s zu den Karten.


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3. Deutsches Theater   - Sternstundenhaft

Die 100.Vorstelling von
Die 100.Vorstelling von "Gift" im Deutschen Theater © Arno Declair

In meinem Blog vom 22.09.20214 schrieb ich: „… Gift‘ von Lot Vekemans ist das Drama, die Tragödie gescheiterter Eheleute. Erst verloren beide ihr einziges Kind bei einem Unfall, dann sich selbst und schließlich einander (Dagmar Manzel, Ulrich Matthes). Nun treffen sie sich nach Jahren wieder auf dem Friedhof am Grab des Kindes – und reden, zwangsläufig, mal wieder miteinander. Blicken zurück, klären auf, verletzten sich erneut, missverstehen, aber verstehen auch. Unendliche Trauerarbeit beiderseits, aber auch die (schwierige!) Schau nach vorn. Doch das Trauma und die vielseitigen Verletzungen der bitteren Entfremdung ätzen weiter; insbesondere bei ihr. 

Schwere Sache, leicht boulevardesk aufbereitet, nicht ganz frei von Komik. Am Ende umarmen sich die beiden „wie zwei Schiffbrüchige sich klammern an eine Boje“. Tolles Schauspielertheater von zwei ganz Großen des Theaters. Sternstundenhaft.“
 

Deutsches Theater, nur noch wenige Karten für die 100. Vorstellung am 2. Dezember. Hier geht's zu den Karten.


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Extra-Tipps:

Wiederaufnahme
in der Neuköllner Oper: 

Bis keiner weint. Ein Meinungsmärchen mit Musik“.
(mehr dazu im Blog Nr. 445 vom 19. Juni 2023)


Ab 25. November bis 30. Dezember. Hier geht’s zu den Karten. 

Zwei Wiederaufnahmen im Gorki-Theater in der Regie von Nurkan Erpulat

Der provokante Schulhof-Klassenzimmer-Klassiker „Verrücktes Blut“
(mehr dazu im Blog Nr. 73 vom 10. Februar 2014)

17. November und 2. Dezember. Hier geht’s zu den Karten. 


Dschinns“ 
(mehr dazu im Blog Nr.431 vom 10. März.2023)

1., 25. und 26. Dezember. Hier geht’s zu den Karten.

 

 

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