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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 421

Kulturvolk Blog | Reinhard Wengierek

von Reinhard Wengierek

19. Dezember 2022

HEUTE: 1. Berliner Ensemble, Werkraum – „The Writer“ / 2. Chamäleon Theater – „Out of Chaos“ / 3. Buchtipp: "Erstürmt die Höhen der Kultur!"

1. Berliner Ensemble - Saftiger Theaterstreit und Dildos auf dem Sofa 

Pauline Knof in
Pauline Knof in "The Writer" © Moritz Hasse

Im Theater nach der Vorstellung trifft eine Frau aus dem Publikum auf den Regisseur. Und bombardiert ihn mit Kritik: Sein Theater sei eitel abgehoben, gegenwartsfern, sexistisch, unpolitisch, kommerziell und machohaft wie der ganze Alte-weiße-Männer-Scheiß-Regie-und-Theaterbetrieb. Der brauche zwingend eine „neue Form“ – wie die kaputt gehende Welt überhaupt. 


Raserei der Vorurteile 


Wow! Was für ein Aufschrei, was für eine fundamentalistische Raserei. Und was für ein Tsunami der Vorurteile, der blindwütenden Selbstgerechtigkeit einer jungen und schönen Anarchistin des Feminismus und der Weltverbesserung, die sich im Theater mit seinen altbackenen, dann noch vom Regietheater zerstückelten Stücken nicht wahrgenommen fühlt. Der routinierte Regisseur weiß natürlich, wie man da zurückschießt. Beide schenken sich nichts, kommen sich aber auch kaum näher. 

Müssen sie auch nicht in diesem Schnell-Duell über Kunst und Politik, Pragmatismus und – ja doch – Revolution. Der aufregende Diskurs im Schnelldurchlauf ist die kämpferische Einstimmung auf das Stück „The Writer“ von Ella Hickson. Dafür erfand die englische Dramatikerin dieses extrem ungleiche Paar, gespielt von Theresa Gmachl und Jonathan Kempf


Autorin und Regisseur im klassischen Clinch


Und nun endlich tritt mit forschem Schritt die den Titel stiftende Autorin an. Nein, es ist nicht Ella Hickson, sondern eben die Figur The Writer in ihrem Stück („The Writer“), verkörpert von Pauline Knof. Wieder gibt es ein scharfes Duell. Jetzt zwischen Autorin und Regisseur. Der findet den Text besagter Eingangsszene wie überhaupt ihr neues (von Hickson ihr sozusagen in den Laptop gegebenes) Stück zu plakativ. Der blinde Furor nerve die sehenden Leute. Mehr Drama, mehr Sentiment müsse sein statt Zeitgeist-Agitation und Weltrettungswut. Sie müsse umschreiben, abmildern, gefällig und konsumierbar sein. Immerhin winke ein fettes Honorar. 

Selbstverständlich wehrt sich die Autorin. Fühlt sich fremdbestimmt, unter Zwang. Argumentiert politisch und künstlerisch. Wettert gegen die Allmacht der Herren Regisseure (und Intendanten gleich mit). – Und so eröffnen sich beim pointierten Schlagabtausch allerhand Einblicke ins Innere des Theater- und Schreibbetriebs. 


Statt Knabberzeug gibts Riesenkrach


Und jetzt: Vorspiel vorbei, Vorhang auf. Und los geht Ella Hicksons Vexierspiel mit den Schwierigkeiten einer Schreiberin. Akt eins: eine Wohnzelle. Rührende Spießigkeit. Die Autorin zu Hause bei ihrem Freund (Max Gindorff). Zur Feier des Tages fein essen, eine Tüte Knabberglück und Routinesex auf dem Sofa; freilich mehr Kraft- als Lust-Akt. Denkt doch der hochgestimmte Junge, sein Schreib-Mädel kommt heim mit reichlich Kohle, dem angesagt satten Honorar (einige Tausender) fürs neue Stück.  –  Das soll sie noch umschreiben? Kleinigkeit! Aber die Autorin sperrt sich  – spannungsgeladene Auftritte von Pauline Knof. Fuck Knete. Fucking Fremdbestimmung. Es lebe die Autonomie der Kunstschaffenden. Der Freund findet das hochmütig und dämlich. Es kracht. Die Fetzten fliegen zwischen seinem Glücksanspruch im trauten Heim mit Knabberglück aus der Tüte und dem ihren am Laptop mit Gedankenfreiheit. 

Zwischenspiel: In einem blütenreichen Arkadien monologisiert sich die Autorin mit feministischem Einschlag in eine matriarchalisch-lesbisch organisierte Fantasiewelt. Ein intellektueller Traum ins Mythische, in utopische Seligkeiten. 


Opportunismus auf dem Luxus-Sofa 


Akt zwei: Die Autorin jetzt als elegant auftretende feministische Lesbe im schicken Loft mit „Girlfriend“ (Theresa Gmachl). Der (die?) verhöhnt seine (ihre) Freundin erst mit sarkastischen Sprüchen über verlogenes Künstlertum, dann wird sie verwöhnt mit Cocktails und Dildos. Doch Lust und gute Gefühle bleiben aus. Es ist offensichtlich, die Autorin hat ihr Stück verraten, umgeschrieben, ordentlich Kohle kassiert. Aber wo nur ist sie hingekommen? Aufs queere Luxus-Sofa? Wenigstens reicht Girlfriend was zum Knabbern aus der Tüte: „Keks!?“ Das war ihr letztes Wort. Und Schluss. 


Das Elend mit dem hohen Glück 


Was sagt uns alles das? Queer ist nicht per se besser als Binär. Ansprüche, Ideale sind korrumpierbar. Was das Patriarchat kann, schafft auch das Matriarchat. Das kleine Glück verspielt man genauso schnell wie das große Glück. Und das gilt für jedes System. Wie die Sache mit der Kunst, dem Starkbleiben gegenüber Mächten, dem Schwachwerden gegenüber Geld. Und überall gibt’s Dildos, Kekse, Knabbergebäck. 

Und natürlich Diskurs! Der schlägt kraftvoll rein in die verrückten, ernsten, albernen, komischen, kontrapunktisch gesetzten Spielszenen. Der Zeitgeist bissig skizziert im Unterhaltungstheater. Das die vielversprechende Jungregisseurin Fritzi Wartenberg (Mitte Zwanzig) trefflich, witzig, wirkungssicher arrangiert.

Berliner Ensemble, Werkraum,12., 13., 14., 25., 26. Januar


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2. Chamäleon Theater - Und droben im Himmel, da jauchzt eine Geige

Out of Chaos © GOM
Out of Chaos © GOM

Fast bis an die Decke ragt der flugs aufgestapelte Menschenturm – doch nur fast. Ein bisschen Luft nach oben ist noch. Und genau dort hinein transportiert das weltweit gefeierte australische Artistenkollektiv Gravity & Other Myths“ (GOM) die Geigerin Sonja Schebeck. Sozusagen im siebten Himmel – das Publikum hält den Atem an – zaubert sie mit ihrer Violine eine wundersame Wolke aus Musik. 


Eine Geigerin als Königin


Sonja, die bewundernswerte Vielfachbegabung aus Sydney, schwindelfrei und sehr gelenkig, Gründungsmitglied von Nigel Kennedys Orchestra of Life und als Musikerin, Akrobatin und sogar Feuerkünstlerin international unterwegs in vielerlei Programmen des Cirque Nouveau, sie geigt jetzt im nostalgisch anheimelnden Ambiente des Chamäleon-Varieté-Theaters. Sozusagen als Königin von Out of Chaos“, dem in großen Teilen geradezu sensationellen Programm der vielfach preisgekrönten Akrobaten aus Australien. 

Die Künstler der anno 2009 in Adelaide gegründeten „Zirkus- und Bewegungstheaterkompanie“ (inzwischen Gastspiele in 37 Ländern) arbeiten nahezu ohne Requisiten vornehmlich mit ihren Körpern. Indem sie Menschentürme vielerlei Formen in schwindelerregende Höhen treiben und sie augenblicklich wieder in sich zusammenstürzen lassen, nur, um sie gleich wieder neu, aber anders, aufzubauen. Ähnliches geschieht mit anderen Architekturen – mit Brücken, Burgen, Kathedralen. Dann wieder gibt es halsbrecherisches Bodenturnen, wobei die Leiber immerzu wie Bälle durch die Lüfte schießen. Schier schwerelose Körperschönheiten – Ballette in der Luft. 


Flackernde Taschenlampen als Geisterlicht 


Abgesehen von dieserart Hochleistungsturnen, diesem wagehalsigen Klettern, Heben, Fallenlassen, Auffangen, werden durch den gezielten Einsatz simpler Taschenlampen im stockdunklen Raum frappierende, romantisch-geisterhafte Effekte erzielt: Da bleibt nur das halbe artistische Menschen-Gebäude gereckt, derweil die andere Hälfte sich im Finstern blitzschnell umbaut. Rasende Verwandlungen, gefährliches Schwingen, Schwanken, Schrauben, Werfen, Wirbeln, Kreisen – dazu jede Menge Schrecksekunden im perplexen Parkett. 

Zwischendurch flüstern geheimnisvoll Stimmen, grummeln dramatisch Geräusche, raunt kontrapunktisch beruhigend sphärisches Getön. Und immer wieder arrangiert Regisseur Darcy Grant witzige, sympathisch selbstironische Momente. Und zieht letztlich alles ganz spielerisch ins Heiter-Luftige, eben Schwerelose. Harmonie jenseits von Chaos.

Chamäleon Theater, bis zum 31. Dezember.
Das GOM bleibt auch 2023 Gast im Chamäleon. Dann mit „A Simple Space“. Vom 3. bis zum 10. Januar.
Hier geht’s zu den Karten.


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3. Buchtipp  - Schlachtfeld-Berichte

 © ventil verlag
© ventil verlag

Dass ein Staat seinen Theaterbetrieb für wichtig hält, ist ja zunächst prima. Er lässt sich diese Wichtigkeit ja auch einiges kosten, ist nicht knauserig. Nimmt er Theater jedoch zu wichtig und noch dazu als ideologisches Machtinstrument, wird es gefährlich für die Kunst, sogar tödlich – wie damals in der DDR.

In einem sehr detailreichen und gerade deshalb äußerst aufschlussreichen Rückblick hinein in die vier Jahrzehnte DDR-Theater gibt das reich bebilderte Buch
Erstürmt die Höhen der Kultur! Umkämpftes Theater in der DDR" von Manfred Karge und Hermann Wündrich.


Das Motto kommt vom Spitzbart Ulbricht 


Karge, Regisseur und Schauspieler mit Ost-West-Biografie, und Wündrich, Dramaturg mit reiner West-Biografie, kamen zusammen in Claus Peymanns Berliner Ensemble und etablierten dort zwischen 2013 und 2017 eine höchst erfolgreiche Veranstaltungsreihe zum umkämpften, missliebigen DDR-Theater. Und machten daraus ein spannendes Geschichtsbuch voller Geschichten, Skandale, Verbote und Vergessenem, Sensationen, Traumata und Trauerfälle, deren optimistischer Titel ausgerechnet vom dogmatisch durchtriebenen SED-Chef Walter Ulbricht stammt. 

Eine Anekdote verdeutlicht das grundlegende Dilemma signifikant. Heiner Kipphardt, in den 1950er Jahren Chefdramaturg am Deutschen Theater, erklärte seinerzeit der Staatsmacht, wie er Demokratie verstand: „Man muss wählen können zwischen einem guten Apfel und einem weniger guten; ich halte Heiner Müller und Peter Hacks für begabter als Gustav von Wangenheim und Hedda Zinner.“ Die Antwort der Partei: „Genosse Kipphardt, wir lassen uns durch die Demokratie nicht die Macht nehmen.“ – Peng! 


Archäologische Expedition 


Die Autoren (Mitarbeit: Renate-Louise Frost) beschreiben ihr Buch über allerhand Elend und allerhand Trotzdem-Glanz als „Wanderung über das Schlachtfeld DDR-Theaterlandschaft“, als „archäologische Expedition“. Dabei erweisen sich „fertige Urteile als Vorurteile, Kenntnisse als Unwissen, Fakten als Fake“.

Im Mittelpunkt stehen 44 Uraufführungen, die wegen ihrer kritischen Zuspitzung der Konflikte zwischen den Einzelnen und der Gesellschaft besonders heftig umstritten waren. Dazu Gespräche u.a. mit Volker Braun, Christoph Hein, Irina Liebmann, Lothar Trolle, Jürgen Groß, Christian Martin sowie Maik Hamburger und Matthias Langhoff sowie Verlagsleitern und einem Direktor im Kombinat VEB Industrieanlagenbau der Metallurgie (4000 Beschäftigte). – Spannende Sache nicht nur für jene, die das aufgeregte DDR-Theaterdrama damals vor den Kulissen miterlebten, ohne hinter die Kulissen schauen zu können; sondern auch für die, die aus authentischen Quellen wissen wollen, was damals wirklich war.

Passend als Weihnachtsgeschenk:
Erstürmt die Höhen der Kultur“, Ventil Verlag Mainz; 328 Seiten, 30 Euro; bei Amazon ab 13 Euro. 


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Extra-Tipp Schaubühne:
Großes und Aufregendes zum Jahreswechsel ‑ Ein Volksfeind“ mit Henrik Ibsen und ‑ immer wieder neu ‑ mit Publikum (Regie: Thomas Ostermeier). – Das ergibt gellend aktuelles Mitmach-Polit-Theater; einen Abend so intelligent wie brisant aus Pop wie Latte macchiato und Agitprop wie Pflastersteine. Hatte vor einem Jahrzehnt Premiere, setzt seither auf Gastspielen weltweit die Leute in erregte Diskussionen. Ist Kult! (Siehe Blog Nr. 3 vom 24. September 2012)

Schaubühne,  29. und 30. Dezember (200. Vorstellung!) sowie am 1. Januar. Hier geht's zu den Karten.

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Mit diesem tollen Stück Theater grüßen wir vier vom Blog unsere geschätzte Leserschaft und machen Pause. Am 9. Januar tritt Sibylle Marx wieder online an und frisch hinein ins neue Jahr. 

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