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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 420

Kulturvolk Blog | Ralf Stabel

von Ralf Stabel

12. Dezember 2022

Heute: 1. Hans Otto Theater – "Stolz und Voruteil* (*oder so)" / 2. Komische Oper Berlin – "Der Fliegende Holländer" / 3. Schaubühne – "Nachtland" / 4. Hinweis in eigener Sache: Erwin Piscator

1. Hans Otto Theater - You can‘t hurry love!

im Spiegel (v.l.) Charlott Lehmann, Nadine Nollau, Laura Maria Hänsel, Franziska Melzer, Kristin Muthwill © Thomas M Jauk
im Spiegel (v.l.) Charlott Lehmann, Nadine Nollau, Laura Maria Hänsel, Franziska Melzer, Kristin Muthwill © Thomas M Jauk

Eines gleich vorweg: wofür die zwanzigjährige Jane Austen vom Oktober 1796 bis August 1797 über 400 Seiten „brauchte“, lässt sich nicht in wenigen Worten zusammenfassen. Ich versuche es trotzdem: Ms. Bennet hat fünf Töchter, von denen eine auf jeden Fall verheiratet werden muss, damit – nach den Konventionen der Zeit – nach dem Ableben von Mr. Bennet nicht alle weiblichen Familienmitglieder in die Abhängigkeit eines nur weitläufig verwandten männlichen Erben „abrutschen“. Unabhängig von Gefühl und Geschmack muss also jede Gelegenheit ergriffen werden: die Hauptfiguren Elizabeth „Liz“ Bennet und Fritzwilliam Darcy necken und lieben sich also und bekommen sich, Jane Bennet und Charles Bingley bekommen sich auch. Möglich wird das alles aber erst, als die jüngste Tochter Lydia Bennet gerade einmal 15jährig mit dem Hallodri George Wickham durchbrennt und verheiratet zurückkehrt.

Bis es soweit ist, vergehen in Potsdam drei rasante und höchst heitere Stunden. Aber die Story hat insgesamt noch mindestens ein weiteres Dutzend handelnder Charaktere (die Dienstboten Darcys nicht mitgerechnet) und in dieser Fassung von
Isobel McArthur auch noch die Bediensteten Flo, Tillie, Effie, Clara und Anne, die die Handlung in Gang setzen und erzählen. Doch jetzt kommt der Clou der ganzen Sache: fünf Schauspielerinnen spielen all diese Rollen, verwandeln sich dafür in irrer Geschwindigkeit und also permanent und singen in bester Musiktheater-Tradition genau in dem Moment, in dem die Gefühle eine oder alle überwältigen.

Was
Franziska Melzer, meist die Mutter; Kristin Muthwill, meist Liz‘ Freundin Charlotte; Charlott Lehmann, meist Liz; Laura Maria Hänsel, meist Jane; und Nadine Nollau, meist Schwester Mary hier gemeinsam sprechend, spielend, vor allem aber auch singend auf die Bühne bringen, ist hinreißend! Fabian Kuss hat extra für diese Inszenierung von Moritz Peters Disco-Klassiker zusammengestellt, die – live gespielt – emotional und inhaltlich so verblüffend genau in die über 200 Jahre alte Handlung passen, dass wir ein rasant-zeitloses Musical, eine musikalische Komödie von heute erleben.
Mein Tipp: Lassen Sie es nicht soweit kommen, dass Ihnen in dieser verirrten Zeit die Decke auf den Kopf fällt. Gehen Sie zu „Stolz und Vorurteil* (*oder so), vergnügen Sie sich!

Hans Otto Theater, 13. Januar und 10. Februar. Hier geht’s zu den Karten.

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2. Komische Oper Berlin - Johohoe! Johohohoe! Johohoe! Johoe!

Caspar Singh als Steuermann und seine Mannschaft, die Chorsolisten der Komischen Oper © Monika Rittershaus
Caspar Singh als Steuermann und seine Mannschaft, die Chorsolisten der Komischen Oper © Monika Rittershaus

Stellen Sie sich vor: Herbert Fritsch trifft Richard Wagner auf der Bühne der Komischen Oper, der schrägen. Was soll dabei herauskommen? Ein Einverständnis, ein Verständnis seltener Art.
Frei nach William Shakespeares „Die ganze Welt ist eine Bühne und alle Frauen und Männer bloße Spieler“, lässt uns
Herbert Fritsch in eine große Spielkiste schauen. Und nichts weiter ist ja Theater im eigentlichen Sinn.

Eine verlotterte Schiffsmannschaft steuert ein Spiel-Schiffchen durch eben jenen Sturm, mit dem das Stück beginnt. Die Handlung ist schnell erzählt. Der Kapitän des Schiffes trifft auf den verfluchten Holländer, der alle sieben Jahren die Chance auf Erlösung erhält, wenn eine Frau ihm ewige Treue schwört. Und dafür ist er – und das ist seltsam zeitlos – bereit, viel (geraubtes?) Geld und Gold auszugeben. Daraufhin kommt der Kapitän, der auch Vater ist, auf die absurde Idee, seine Tochter gegen diesen Reichtum einzutauschen. Das ginge als Idee noch an, wenn der Holländer ein sympathischer, ansehnlicher Typ wäre, aber hier ist er ein Zombie, ein Outlaw, ein Soziopath – wie auch seine ganze Mannschaft.

Was kann man mit diesem patriarchalen, faust‘schen und in unseren Breitengraden wirklich nicht mehr zeitgemäßem „Deal“ heute noch anfangen? Man kann ihn „vorführen“. Und genau das tut diese Inszenierung.

Klar und deutlich erzählt uns Günter Papendell als Holländer singend sein Schicksal. Eine Figur zwischen Marquis de Sade, Prince und Edward mit den Scherenhänden – tragisch und missverstanden eben. Jens Larsen gibt den Kapitänsvater jovial und gierig gleichermaßen, Caspar Singh hüpft als Steuermann heiter tänzelnd, frohgemut herum. Und Brenden Gunell dringt als Erik bekanntlich bei Senta nicht durch und das darf er dann eben auch gesanglich nicht.

Und Senta selbst? Grandios!
Daniela Köhler schmettert alle und alles aus dem Weg. Und das ist auch gut so, denn sie ist hier kein Mauerblümchen, das sich mal eben so pflücken und verschenken lässt. Dass alle singen, ist bei dem emotionalen Erregungszustand nur allzu verständlich. Ebenso verständlich ist übrigens, was sie singen. Hervorragend!
Der Chor, einstudiert von David Cavilius, ist – wie stets - von einer wunderbaren Spielfreude. Ein glückliches Zusammentreffen mit diesem Regisseur.

Das Orchester unter der Leitung von Dirk Kaftan spielt umwerfend. Von Beginn an überflutet die Musik den Klang-Raum Komische Oper. Man hört den Sturm nicht nur, man ist mittendrin. Zwei und eine viertel Stunde lang ist ein stimmiges Spiel zu erleben. Pausenlos.

Das obige Zitat stammt aus Shakespeares Komödie „Wie es euch gefällt.“ Herbert Fritsch hat Wagners „Fliegendem Holländer“ durchaus komödiantische Züge abgelauscht und sichtbar gemacht. Das Premieren-Publikum war sichtlich amüsiert.

Leider sind alle Vorstellungen ausverkauft, wir vertrösten Sie und uns auf die nächste Spielzeit.


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3. Schaubühne - Hitler geht immer?

Julia Schubert, Jenny König, Moritz Gottwald, Damir Avdic, Genija Rykova © Gianmarco Bresadola
Julia Schubert, Jenny König, Moritz Gottwald, Damir Avdic, Genija Rykova © Gianmarco Bresadola

Theater gibt es seit mehr als 2000 Jahren, weil es uns exemplarisch menschliches Fehlverhalten vorführt. Im Theater wird gelogen und betrogen, gestohlen und gemordet. Theater führt uns in Abgründe. Einer dieser Abgründe ist der ebenso lange währende Antisemitismus. „Nachtland“ ist nicht das erste Stück, das diesen Antisemitismus thematisiert. Wird es das letzte sein? Theater galt und gilt auch als moralische Anstalt, in der Wertmaßstäbe unseres Handelns und Urteilens diskutiert werden. Das zeitgenössische Theater nun spielt mit den „Bausteinen“ seiner eigenen Geschichte – und provoziert. Uns!

„Provenienz“ fällt neuerdings vielen ein, wenn man auf Bildende Kunst zu sprechen kommt. Liebermann-Villa wie Akademie der Künste bieten dazu Aktuelles. Beim „Fall Gurlitt“ kam heraus, dass von den 1258 „raubkunstverdächtigen Kunstwerken“ – allein das Vokabular (!) – bei vieren ein „NS-bedingter Entzug“ nachgewiesen werden konnte. Und dass die Untersuchung 1.885.600 € kostete. Wenn uns dieses Handeln von Politik nicht so unfassbar teuer zu stehen kommen würde, wäre es schier zum Lachen.

Marius von Mayenburg hat nun als Autor und Regisseur beides – Antisemitismus und Provenienz – miteinander verbunden. Als Komödie. Tatsächlich?
Das halbe Globe (Saal C in der Schaubühne) ist genau richtig für diese deutsche Geschichtsstunde. Plüschig das Interieur, anheimelnd die bewegten Bilder an der Wand.

Der Plot scheint einfach: Zwei Geschwister (
Genija Rykova und Moritz Gottwald) müssen den Nachlass ihres verstorbenen Vaters ordnen und finden ein Bild, das nur deshalb Interesse weckt, weil nach dem Entfernen des eigentlich noch zu gebrauchenden Rahmens die Signatur „A. Hitler“ freigelegt wird. Der Geschwister, sonst eher im herzlichen Streit einander zugetan, sind hier sofort einig, dieses Bild zu Geld zu machen. Nur haben sie nicht mit Judith (Jenny König), der Frau des Bruders, gerechnet. Sie führt, als Jüdin aus- und vorgestellt, Bedenken ins Feld, die sich bei einem solchen Fund und Vorhaben ergeben.

Und so wird im kleinen Kreis der Familie große Geschichte verhandelt. Immer klarer wird im Verlauf der Handlung, dass die Familie viel tiefer verstrickt war, als allen vorab bewusst, die Großmutter als Opernsängerin wohl sogar eine Angebetete, wenn nicht gar Geliebte Martin Bormanns gewesen sein könnte. Das Bild, um das es geht, wird nur beschrieben. Es existiert also im materiellen Sinn gar nicht und stellt sich in bester theatraler Tradition in uns selbst her.

Die Frage der Provenienz ist hier deshalb von Bedeutung, weil nur „ein echter Hitler“ einen hohen Preis erzielen würde (Julia Schubert als Expertin, Damir Avdic als Käufer). Und so geht es in diesem Stück also in vielfältiger Hinsicht um Provenienz im Sinne von Herkunft oder, wie es in heutigen Gesetzestexten weiterhin heißt, um Abstammung. Judith wird schlussendlich ausgegrenzt (im Bad eingeschlossen), damit sie den Geschwistern nicht ins Handwerk pfuscht.

Von Mayenburg hat ein überaus intelligentes Drama verfasst und in Szene gesetzt. Im Laufe des verbalen Schlagabtauschs wird aufs Schlimmste verallgemeinert, wird Judith wie selbstverständlich Projektionsfläche für Klischees und Vorurteile, muss sich und die Politik Israels gleichermaßen erklären und vieles andere mehr.
Das Publikum lachte mitunter spontan, die „Pointen“ durchaus verstehend. Mir konnte ein Lachen gar nicht im Halse stecken bleiben, weil es sich nicht einstellen wollte. Und so sind die
Warnhinweise im Haus wirklich ernst zu nehmen: „In der Inszenierung wird Antisemitismus in Sprache und Darstellung thematisiert.“
Verpassen Sie diese szenische „Vorlesung“ nicht!

Leider ist unser Kartenkontigent für Januar bereits erschöpft. Sie haben die Möglichkeit, sich auf eine Warteliste setzen zu lassen. Rufen Sie uns an unter 030 86009351.


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4. Kulturvolk - Eine Ausstellung zu Erwin Piscators Theaterarbeit im Ausland

Erwin Piscator während der Proben für sein Sommertheater in Lake Placid, New York. In der Bildmitte: Marlon Brando © Lahr von Leïtis Archiv
Erwin Piscator während der Proben für sein Sommertheater in Lake Placid, New York. In der Bildmitte: Marlon Brando © Lahr von Leïtis Archiv

Erwin Piscator und die Freie Volksbühne Berlin – das ist ein besonderes Kapitel. Für ihn und für uns. Legendär und unvergessen sind seine Inszenierungen der Uraufführungen von Rolf Hochhuths „Der Stellvertreter“ von 1963 und von Peter Weiss‘ „Die Ermittlung“ von 1965, die auf seine Anregung hin als Ring-Uraufführung in 14 west- und ostdeutschen Theatern und in London stattfand.

Bekannt sind seine inhaltlich und ästhetisch revolutionären Theaterarbeiten im Berlin der Weimarer Republik. 1924 wird er Oberspielleiter an der Berliner Volksbühne; 1926 erregt seine Inszenierung von Friedrich Schillers „Die Räuber“ am Preußischen Staatstheater landesweites Aufsehen; 1927 eröffnet er sein eigenes „Theater am Nollendorfplatz“. Das ist Berliner Theatergeschichte.

Doch wer kennt seine Arbeiten im Ausland, im Exil? Seinen Film „Der Aufstand der Fischer“ hat er 1934 in Odessa, in der heutigen Ukraine, realisiert. Vor Stalins Terror über Frankreich in die USA fliehend, eröffnet er in New York eine eigene Schauspielschule. Die Liste seiner Mitarbeiter*innen und Schüler*innen liest sich heute wie ein Who is Who der Theater- und Filmgeschichte des 20. Jahrhunderts.

Marlon Brando, Tony Curtis, Harry Belafonte und viele andere wären hier zu erwähnen und sind als junge Männer im Stadium des Vor-Ruhms in der Ausstellung zu sehen. Die Wege zu diesem Ruhm sind mitunter mehr als kurios. Der junge, noch völlig unbekannte Tennessee Williams z. B. schreibt 1942 an Piscator: „Die deutsche Tanzmimin Valeska Gert hat mir einen Job als Kellner in ihrem Nachtclub, der Beggars Bar, angeboten (…). Das Kellnern wird mich nur abends beschäftigen, sodass ich den ganzen Tag über schreiben kann.“ Piscator nimmt ihn also in seinen Dramatic Workshop auf. Zwei Jahre später wird Williams mit „Die Glasmenagerie“ scheinbar „auf einen Schlag“ berühmt.

Piscators Lehrtätigkeit ist ein Riesenerfolg.

Doch 1951 flieht vor er dem McCarthy-Terror zurück zu seinen Berliner Theater-Wurzeln.
Insbesondere dieser Auslands-Phase widmet sich die sehr informative Ausstellung "E. Piscator: Politisches Theater im Exil"
von Kurator Michael Lahr von Leïtis, gestaltet von Alice Russo und Clemens von Schoeler, im Foyer und Treppenhaus im Haus von Kulturvolk, in der Ruhrstraße 6.

Nehmen Sie sich die Zeit für die Ausstellungvielleicht in Verbindung mit dem Besuch unserer Montagskultur am 19.12. An diesem Abend, der den Titel „Briefe aus dem Exil" trägt, lesen Michael Lahr von Leïtis und Gregorij H. von Leïtis aus dem Briefwechsel Erwin Piscators mit anderen Emigranten, darunter Brecht, Eisler, Einstein, Grosz und vielen anderen.

Kulturvolk, 19. Dezember. Hier geht's zu den Karten.

 

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