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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 388

Kulturvolk Blog | Reinhard Wengierek

von Reinhard Wengierek

21. März 2022

HEUTE: 1. „Starker Wind“ – Kammerspiele des Deutschen Theaters / 2. Wiederaufnahme „Die Glasmenagerie“ – Deutsches Theater / 3. „Matinée für Dieter Mann“ – Deutsches Theater / 4. „Ein alter Mann wird älter“ – das „merkwürdige“ Tage- und Theaterbuch von Günther Rühle

1. DT-Kammer - Ehemann trifft Ehefrau mit Liebhaber

Max Simonischek, Maren Eggert, Bernd Moss © Arno Declair
Max Simonischek, Maren Eggert, Bernd Moss © Arno Declair

Nur nicht zurückkehren an verlassene Lebensorte; bringt bloß Frust, sagt alte Weisheit. Und so geschieht es denn auch dem namenlos bleibenden „Mann“ im neuen, vor gut einem Jahr erst in Oslo uraufgeführten Stück „Starker Wind“ des Norwegers Jon Fosse.

Der besagte, schon ältere Herr kommt nach längerer Abwesenheit im Irgendwo heim zur Ehefrau, die, inzwischen umgezogen, mit jüngerem Liebhaber im neuen Nest lebt. Eine uralte Sache, Ausgangspunkt für blutige Dramen.

Nicht so bei Fosse, dem entrückten Melancholiker, der vor gut einem Jahrzehnt mit seinen sprachreduzierten Stücken zu einem der meistgespielten Theaterautoren zählte. Seine kunstvollen Sprachkonzentrate führten bei seinen, gern schwer an sich und den Verhältnissen leidenden, Figuren zu einem Sog des Ungesagten. Sie kriegen es nicht recht heraus, was da quält. Und gerade das machte den spannungsgeladenen Fosse-Sound.


In sich gekehrtes Heimkehrer-Lamento


Doch davon ist jetzt, beim „Starken Wind“, höchstens ein Lüftchen geblieben. Die Partitur des Ungesagten bloß ein Heimkehrer-Lamento. Ein redundantes Gestammel als einstündiger Monolog (für Bernd Moss), genannt „Szenisches Gedicht“. Die ihrer Ehe überdrüssige „Frau“ (Maren Eggert) nebst „jungem Mann“ (Max Simonischek), die beiden haben hingegen nur ein paar karge Sätze.

Und so hockt denn der Alte am Fenster und meditiert übers Hinausschauen. Moss spielt das als einer, der längst hinein getrudelt ist in den Daseinsüberdruss. Vom Leben schwer gewürgt hängt er zwischen den Sitzen der Publikumstribüne in den Kammerspielen. Wir sitzen gegenüber auf der Drehbühne, hören seinem mal missmutigen, mal verzweifelten Palaver zu, das hausfrauenphilosophisch vom Hölzchen aufs Stöckchen kommt. Von der „Irgendwie“-Bedeutung oder „Irgendwie-Nicht“-Bedeutung des Vergangenen, des Jetzt, der Zukunft, der Ewigkeit, bis hin zur Frage, ob es wohl „Augenblick“ heißt oder „Augenblinzeln“. Klar, da wird es keinen ehemännlichen Aufstand geben, werden keine Fetzen fliegen, als händchenhaltend die Ehebrecher auftauchen. Da wird nur greinend gepocht auf den Ehebund: „Das dürft ihr nicht, wir sind doch verheiratet.“

Warum bloß war die Dramaturgie so scharf auf derart Flaches und Kraftloses als deutschsprachige Erstaufführung?

Immerhin engagierte man dafür den für Feinnervigkeit, Psychologie und Fantasie im Umgang mit abstrakten Texten berühmten Regisseur Jossi Wieler, der, anstatt redlich im dürren Text zu kramen, sich’s leider verkniff, aus dem faden Werkchen keck ein groteskes Eifersuchtsding zu wuppen.


Sex in Bergsteiger-Posen


Dafür überzeugte sein Grundeinfall, den Zuschauersaal zur Bühne zu machen, um dem weicheiernden „Mann“ bei seiner Einfalt wenigstens für ein bisschen körperliche Beweglichkeit Raum zu schaffen. Dann wendet sich das Publikum auf rotierender Scheibe um 180 Grad und sieht eine Kletterwand, auf der das blass bleibende Liebespaar in Bergsteiger-Posen Sex demonstriert. Na gut. Dass man sich dann halbnackt noch kindisch mit grüner Pampe beschmeißt – geschenkt.

Zum Schluss fragt der stramme Bursche, ob Schlaffi einen Dreier okay fände. Der mault, das Weib schreit „Raus!“. Meint aber nicht, was denkbar wäre, ihren Liebhaber. Der Gemahl schaut verdattert, sucht noch nach „Augenblick“ oder „Augenblinzeln“ und stürzt sich im 13. Stock aus dem Fenster in den Starkwind.

Wieder am 3. April. Hier geht es zu den Karten.

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2. DT - Hinweis Wiederaufnahme „Glasmenagerie“

 Anja Schneider, Linn Reusse © Arno Declair
Anja Schneider, Linn Reusse © Arno Declair

Nach Jahren der Pause kommt jetzt, am 2. April, die Wiederaufnahme von Stephan Kimmigs großartiger Inszenierung von Tennessee Williams Familientragödie „Die Glasmenagerie“ ins Programm. Hier geht es zu meiner Rezension von "Die Glasmenagerie" im Kulturvolk-Blog Nr. 199 vom 23. Januar 2017.

Am 2. April. Hier geht es zu den Karten.

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3. DT - Ehrung Dieter Mann

Dieter Mann im Hörspielstudio, 1990 © Werner Bethsold
Dieter Mann im Hörspielstudio, 1990 © Werner Bethsold

Am 3. Februar starb Dieter Mann, Schauspieler, Publikumsliebling, DT-Intendant von 1984 bis 1991. Kolleginnen und Kollegen laden zu einem persönlichen Abschied von Dieter Mann ein. Weggefährten, Verehrer und Freunde werden an einen der ganz Großen des deutschen Theaters erinnern – und zugleich an ein zentrales Stück ostdeutscher Theatergeschichte.

Sonntag, 10. April, 11 Uhr. Eintritt frei.

Hinweis: Auf YouTube gibt es den hinreißenden DDR-TV-Film (Aufzeichnung) über die damals, 1976, allseits als tollkühne Sensation wahrgenommene DT-Produktion des Revuestücks „Zwei Krawatten“ von Georg Kaiser und Mischa Spoliansky; Regie Friedo Solter. Da glänzt Dieter Mann als verführerischer Kellner und Schlawiner Jean inmitten eines Allstar-Ensembles herrlichster Komiker. Und hier entlang geht es zu meinem Nachruf auf Dieter Mann in der Tageszeitung Die Welt.

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4. Günther Rühle - Hellwach im Absterben

Still der Videoarbeit »Zoon Politikon« © Jonas Englert, Alexander Verlag Berlin
Still der Videoarbeit »Zoon Politikon« © Jonas Englert, Alexander Verlag Berlin

Die Welt bloß noch schwer verschleiert – das ist Makula! Die Augen ausgetrocknet, nach 97 Lebensjahren. Für einen, der bislang abertausende Sätze von mindestens 900 Kilometern Länge hin tippte, der Regalmeter füllte mit seinen Büchern und Zeitungsartikeln, für einen wie Günther Rühle – Journalist, Theaterkritiker, Theaterintendant, Autor, Herausgeber – ist allmähliche Erblindung wie grausames Berufsverbot. Das strafverschärfend hinzu kommt zu den sonstigen schweren Gebrechen seines Alters.

Dieser Mann empfand es geradezu zwanghaft als Berufung und lebte es mit missionarischer Leidenschaft sowie strenger Disziplin, Wissen, Erfahrung, Gedachtes und Erlebtes wortreich weiterzugeben. Und ausgerechnet ihm, dem großen Kenner und Könner, dem scharfen, dabei leidenschaftlichen Beobachter der Theaterwelt, führt das Schicksal nun noch ein neues, ihm unbekanntes Drama auf. Mit Rühle allein, hochbetagt und fast erblindet, in der Hauptrolle.

„Tu endlich, was du dir bislang verweigert hast! Denk für dich nach“, sagt dieser notorische Arbeitsmensch. Und haut mit lebenslang bewährtem Zweifingersuchsystem 232 Buchseiten „auf gut Glück ins Blinde“. Sein „Dechiffriersyndikat“ mit Kollegen vom Verlag übernahm die Korrektur. So entstand zwischen September 2020 und Mitte April 2021 Günther Rühles „merkwürdiges Tagebuch“. Sinniger Titel „Ein alter Mann wird älter“.


Vom Feuilleton-Chef zum Theaterdirektor


Es ist ein ausladendes Selbstgespräch. Angefangen mit der Kindheit als Enkel eines Bäckers über die Schulzeit im NS-Staat hin zu den journalistischen Anfängen bei einer Vertriebenenzeitung, später bei der Frankfurter Rundschau. 1960 kam er als Kritiker ins Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 1974 wurde er dort Feuilleton-Chef, doch die FAZ tat sich trotz (oder gerade wegen) seiner Urteilskraft und (vor allem) womöglich zu deutlich linksliberaler Gesinnung schwer mit ihm. Rühle kühl: „Man kann in einer auf Innovationen angewiesenen Gesellschaft kein restriktives Feuilleton machen.“

So folgte denn ein Seitenwechsel: 1984 wurde Rühle „als Retter in der Not“ berufen zum Intendanten des müde dahinspielenden Schauspiels Frankfurt. Dort machte er gegen große Widerstände die Bühne frei für den aus der DDR geflüchteten, mit befremdlichen, ja schockierenden Ästhetiken antretenden Regisseur Einar Schleef und goutierte gegen noch weitaus größere Widerstände die Fassbinder-Inszenierung „Der Müll, die Stadt und der Tod“. Nach fünf Jahren lehnte Rühle die Vertragsverlängerung ab, wie auch die Berufung als Chef der Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin (einschließlich lebenslanger Pensionsansprüche). Er wollte zurück zur Zeitung, zum schnellen Betrieb und wurde 1990 Feuilletonchef im Berliner Tagesspiegel – als inzwischen allgemein respektierte General-Instanz des Theaters; eine im digital radikal demokratisierten Zeitalter heutzutage übrigens undenkbar gewordene Position.


Eine Art Bibel des deutschsprachigen Theaterbetriebs


2007 erschien Rühles deutsche Theatergeschichte von der Reichsgründung bis 1945; anno 2014 der zweite Band 1945 bis 1966 über die Zeit, als im Nachkriegsdeutschland ein so oder so politisches Theater entstand. Beide Werke zusammen: ein epochales Monument. Eine wohl einzigartige historische Recherche mit eindrucksvollen Rekonstruktionen signifikanter Ereignisse und Porträts der Protagonisten – aus kritischer Gegenwärtigkeit geistreich kommentiert. Ein Werk getragen von enzyklopädischem Wissen. Eine Art Bibel des so weit verzweigten deutschsprachigen Bühnenbetriebs, vom Kaiserreich angefangen über die Weimarer Republik und NS-Zeit bis in die Jahre der deutschen Teilung.

Der ausstehende dritte Band (1967 bis 1995), endend mit dem Tod von Heiner Müller, der nach Rühles Meinung das Ende der dramatischen Produktion markiert, existiert in einer unabgeschlossenen Fassung und wird demnächst als Fragment erscheinen, herausgegeben von dem jene Zeit mitprägenden Dramaturgen Hermann Beil gemeinsam mit Stephan Dörschel, dem Chef des Archivs Darstellende Kunst der Berliner Akademie der Künste.


Postmoderne versus Aufklärung


In diesem wahrlich spannenden Fragment konstatiert Rühle – dies sei hier vorweggenommen –,  dass mit der postmodernen Öffnung der Gesellschaft das Ende der Lessingschen Bestimmung von Aufklärung, Emanzipation, Humanismus gekommen sei; das Ende dessen, was Schiller mit „Theater als moralische Anstalt“ meinte. Peter Stein habe in seiner späten Arbeit in Berlin noch einmal verdeutlicht, „was bürgerliches Theater war und als Substanz erinnerbar bleibt“. Steins kolossalem „Faust“ 2000 stehe Frank Castorfs „virtuose Vermatschung“ anno 2017 an der Volksbühne gegenüber. Castorf zelebriere schalkhaft die Begräbnisriten des bürgerlichen Theaters, indem er dessen Kanon fröhlich zerhacke. Mit dem Tod von Heiner Müller und Thomas Bernhard sei die Entstehung dramatischer Texte zu Ende, erloschen sei sie mit „Schlusschor“ von Botho Strauß, 2014 Schaubühne Berlin.

Fast sein ganzes Arbeitsleben lang beschäftigte sich Rühle als Herausgeber mit einem großen Altvorderen seiner – unserer Zunft: mit Alfred Kerr. Noch im späteren Pensionsalter kümmerte er sich um dessen unveröffentlichte Sachen, darunter die Feuilletons „Briefe aus Berlin“. Eine Wiederentdeckung, sonderlich lehrreich in postdramatischer Zeit. Ein gefeiertes Ruhmesblatt für Kerr wie Rühle.


Alltag als misslungener Hochleistungssport


Nun also die Übernahme des, wie Goethe sagte, neuen Rollenfachs Älterwerden. Für Rühle wie die „Öffnung eines inneren Tresors“. Wir lesen von zutiefst demütigenden Schlachten gegen die körperliche Degeneration im immerhin luxuriösen Eigenheim im Taunus-Bad Söden. Ungeniert drastisch werden Einzelheiten beschrieben. Die lahmen, die schmerzenden Knochen, die Mühe, morgens in die Hosen zu kommen, die Schwierigkeiten, in der Mikrowelle vorgekochtes Essen aufzuwärmen. Banaler Alltag als nicht selten misslungener Hochleistungssport. Das Ringen mit Depressionen, Ängsten. Wer das womöglich noch vor sich hat, ahnt, was ihm da blüht. Dazu die traurigen Wanderungen im Geiste „durch den Totenwald einstiger Zeitgenossen“; durchs Eheleben mit der längst dahin gegangenen Ehefrau Margrit.

„Alter Mann wird älter“ erzählt erschütternd vom eigenen allmählichen Absterben. Zugleich ist es persönlicher Rechenschaftsbericht. Ein Endspielbuch, was ganz allgemein unser Theaterleben betrifft. Und natürlich, es ist einfach ein großer Text.

Am 10. Dezember verstarb Günther Rühle; drei Monate nach der Buchveröffentlichung. Über der familiären Traueranzeige stand ein Satz des Seneca: „Nichts gehört uns; unser allein ist die Zeit.“

Günther Rühle: „Ein alter Mann wird älter: Ein merkwürdiges Tagebuch.“
Herausgegeben von und mit einem Nachwort von Gerhard Ahrens. Illustriert von Jakob Mattner und Jonas Englert. Alexander Verlag Berlin, 2021.

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