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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 385

Kulturvolk Blog | Uwe Sauerwein

von Uwe Sauerwein

14. Februar 2022

Heute: „VÖGEL“ – BERLINER ENSEMBLE / „DER CHINESE“ – KOMÖDIE IM SCHILLER THEATER / „DIE SACHE MAKROPULOS“ – STAATSOPER BERLIN

 

1. Berliner Ensemble - Blut und Gene im Nahen Osten

Konflikte am Krankenbett: Philine Schmölzer, Hadar Dimand und Rafat Alzakout (von links) in „Vögel
Konflikte am Krankenbett: Philine Schmölzer, Hadar Dimand und Rafat Alzakout (von links) in „Vögel" © JR Berliner Ensemble

Schwerwiegende Meinungsverschiedenheiten soll es ja in den besten Familien geben. Aber mal ehrlich: Kämen Sie nach einem Streit auf die Idee, eine DNA-Analyse vornehmen zu lassen, um zu testen, ob Sie wirklich miteinander verwandt sind? Eitan Zimmermann, der junge jüdische Mann aus Berlin, wählt diesen Weg, als wäre das ganz normal.

Während des Studiums in New York hat er seine orientalische Prinzessin kennen gelernt, Wahida, Amerikanerin mit arabischen Wurzeln. Als Eitan seine große Liebe nun ausgerechnet am Pessach-Abend in Berlin in die Familie einführen will, stößt er damit auf wenig Begeisterung. Weder bei seiner Mutter Norah, einer Ostberlinerin, die erst spät erfuhr, dass sie Jüdin ist. Noch bei seinem Großvater Etgar, der die Hölle der Shoah überlebte.

Am heftigsten gegen die Verbindung ist jedoch David, Etgars Sohn und Eitans Vater. Diesen Hass auf Araber kann sich Eitan nicht erklären. Deswegen lässt er, Student der Biogenetik, die DNA-Probe machen. Ergebnis: David ist nicht sein leiblicher Vater.


Traumatische Erfahrungen im Bürgerkrieg


Das bietet eigentlich schon genug Stoff für ein Theaterstück. In „Vögel“ von Wajdi Mouawad dient es allerdings nur als Ausgangspunkt zu einer wahnwitzigen Story. Mouawad ist ein libanesisch-kanadischer Schriftsteller, Schauspieler und Regisseur.

International berühmt wurde er durch sein Drama „Verbrennungen“, dessen Verfilmung unter dem Titel „Die Frau, die singt“ für einen Oscar nominiert wurde. Es handelt von einer Libanesin im kanadischen Exil, die mit den traumatischen Erfahrungen im Bürgerkrieg ihrer alten Heimat zu kämpfen hat. Der Autor, 1976 in der Nähe von Beirut geboren, floh als Zehnjähriger mit seiner Familie, christlichen Maroniten, ins Ausland. Zuvor war das Kind Augenzeuge von Gräueltaten

Ähnlich wie in „Verbrennungen“ geht es in „Vögel“ ebenfalls um Schuld, Ängste und Lebenslügen, um Familie und Identität. Nur konzentriert Mouawad das Drama nun auf den israelisch-palästinensischen Konflikt. Auf deutschsprachigen Bühnen wird das Stück hoch und runter gespielt. Ende 2020 etwa am Hans Otto Theater in Potsdam. Und nun, nach Corona-Verzögerungen, auch im Neuen Haus des Berliner Ensembles in der Inszenierung von Robert Schuster.


Ein Theaterabend in vier Sprachen


Der Regisseur ist unter anderem Gründer der Kula Compagnie, eines freien internationalen Ensembles. Auch Mouawad arbeitet als Theaterleiter gern mit Künstlerinnen und Künstlern mit Migrationsgeschichte. Obwohl „Vögel“ auf Französisch entstand, brachte er das Stück 2017 in Paris in einer viersprachigen Version zur Uraufführung, Deutsch, Englisch, Hebräisch und Arabisch. Für diese Fassung hat man sich auch am BE entschieden, spielt doch das Sprachgewirr, und damit auch die Sprachlosigkeit und das Missverstehen, eine dominierende Rolle.

Nach dem Familien-Eklat reisen Eitan und Wahida nach Israel. Dort lebt Eitans Großmutter Leah, die er bislang nie kennen gelernt hat, weil sein Großvater sie vor Jahrzehnten verließ und mit dem kleinen Sohn David nach Deutschland zog. Bei einem Bombenanschlag erleidet Eitan schwere Verletzungen, liegt danach im Koma in der Klinik.

Eltern und Großvater aus Berlin eilen nach Israel, wo sich die Situation zwischen Terror und militärischen Gegenschlägen immer mehr zuspitzt. Als der Flughafen geschlossen wird, sitzt die Familie Zimmermann fest. Und muss nun ihren eigenen Wahrheiten ins Auge sehen. David, der in der Vorstellung aufwuchs, Sohn eines Holocaust-Überlebenden zu sein, ist in Wirklichkeit ein arabisches Findelkind aus dem Sechstagekrieg. Als er das erfährt, trifft ihn der Schlag.


Die schwere Last der Identität


Nicht nur Davids Dilemma verlangt nach Bewältigung. In „Vögel“ kommt soviel auf den Tisch, dass der Tisch irgendwann unter der Belastung zusammenbricht. Identitätsbrüche und Konfliktlinien überall: Nahostkriege, Holocaust, DDR-Geschichte, arabische Identität, Religion und Kultur. Es ist außerdem eine ziemlich schräge Blut-und-Gene-Geschichte, in der Menschen aus dem Koma erwachen, wenn man ihr etwas in ihrer „eigentlichen“ Muttersprache zuflüstert.

Auch wenn es satirische Elemente gibt, so meint Mouawad das alles offenbar ernst. Der Autor orientiert sich an der großen Tragödie. Man erkennt Elemente aus dem „Ödipus“ von Sophokles, aus Shakespeares „Romeo und Julia“, aber auch aus Lessings „Nathan der Weise“. Zudem wird Al Wazzan zitiert, ein muslimischer Gelehrter aus dem Mittelalter, der zum Christentum konvertierte. Da träumt ein Vogel davon, zugleich Vogel und Amphibie sein zu können. Nun ja.

Die fast einhellige Zustimmung des Premierenpublikums dürfte vor allem der Riesenleistung der Schauspielerinnen und Schauspieler gelten, die teilweise monatelanges Coaching in fremden Sprachen auf sich genommen haben. Im Gorki-Theater wäre so ein Unterfangen sicher einfacher, dort gibt es im Ensemble viel biografische Bezüge in den Nahen Osten.


Ganz wichtig sind die Übertitel


Hier im BE sind es einige Darsteller:innen, die mit Hebräisch aufwuchsen, etwa Naomi Krauss als Großmutter Lea und Hadar Dimand als israelische Soldatin, während Rafat Alzakout, der unter anderem als arabischer Gelehrter erscheint, aus Syrien stammt. Dennis Svensson als Eitan, Martin Rentzsch als David sowie Robert Spitz als Großvater schlagen sich zwar großartig mit der linguistischen Herausforderung. Trotzdem merkt man den Unterschied. Und die Nuancen, bedauerlich bei diesem darstellerischen Potenzial, gehen dabei ein wenig unter.

Kathrin Wehlisch glänzt herrlich durchgedreht als Norah, Mutter, Ossi und Psychoanalytikerin, auch deshalb, weil sie in ihrer Muttersprache agiert. Eine ganz wichtige Rolle in dieser Produktion hat Hutham Miriam Hussein inne. Sie ist für die deutschen und englischen Übertitel verantwortlich. Die Übersetzungen müssen nicht nur im richtigen Moment erscheinen, es gibt zudem Passagen zu lesen, die auf der Bühne nicht ausgesprochen werden können oder dürfen.

Philine Schmölzer, das Mädchen Wahida, ist über weite Strecken Projektionsfläche, Objekt der Begierde oder der Ablehnung. Man erfährt kaum etwas über ihr Innenleben oder ihre Familiengeschichte. Sie erscheint fast wie eine Heiligenfigur. Das liegt am Stück, aber auch an der Darstellung. Umso größer dann der Bruch, als Wahida durch die kriegerischen Auseinandersetzungen zu ihrer wahren, also palästinensischen Identität findet.

Während die Juden sich also innerlich und äußerlich zerfleischen, gelangen die Araber zu stiller, würdiger Weisheit und identitärer Sicherheit. Ein merkwürdiges Bild, das da widerspruchslos beklatscht wird.

Berliner Ensemble, Neues Haus. Am 15. und 28. Februar und am 9. März. Hier geht es zu den Karten.

2. Komödie - Die wahnsinnig perfekte Familie

Vater Alexander erklärt, was ein Chinese ist: . V. l.: Maximilian Diehle, Henny Reents, Anna Julia Antonucci und Thomas Heinze © Franziska Strauss
Vater Alexander erklärt, was ein Chinese ist: . V. l.: Maximilian Diehle, Henny Reents, Anna Julia Antonucci und Thomas Heinze © Franziska Strauss

Senftenberger Kiwi, Ananas aus Werder, Luckenwalder Algen: Im Hause von Mutter Gwendolyn kocht man strikt regional, auch wenn zur Abwechslung was Exotisches auf den Tisch kommt. Nämlich Bio-Sushi, zubereitet für einen Besucher, der eine weite Reise hinter sich hat. Die ganze Familie ist in heller Aufregung, vor allem Niclas und Maria-Lara, zehn und acht Jahre alt. Die Kinder haben noch nie einen Ausländer gesehen.

„Der Chinese“ von Benjamin Lauterbach spielt im Jahr 2045. Die EU hat sich längst aufgelöst. In Deutschland regiert eine Partei, die sich „Die Bewegung“ nennt. Die Menschen sind total auf Umwelt und Gesundheit fixiert, Fliegen zum Beispiel ist verpönt. Zugleich kehrt die Frau zu ihrer ursprünglichen Bestimmung als Hausfrau und Mutter zurück. Und die Deutschen bleiben unter sich. Geschützt nicht von einer Mauer, sondern eher einem hohen Gartenzaun, besinnt man sich ganz auf die eigene Kultur.

Der Gast aus China, der nun im Haus von Vater Alexander, dem erfolgreichen Ingenieur, für einige Zeit wohnen soll, kommt auf offizielle Einladung. Herr Ting soll sehen, wie gut es den Deutschen geht. Am Beispiel einer Vorzeige-Familie, die wortwörtlich wahnsinnig glücklich ist.


Komödie der Beklemmungen


Der Entwurf von Lauterbachs Stück war 2011 zum Berliner Stückemarkt eingeladen. Uraufgeführt wurde „Der Chinese“ 2012 im Staatstheater Darmstadt. Nun bringt Daniel Krauss diese „rasant-dystopische Familienkomödie“ in der Komödie am Kurfürstendamm auf die Bühne des SchillerTheaters. Ein gutes Jahrzehnt ist seit der Entstehung des Stückes verstrichen, und in dieser Zeit ist in Politik und Gesellschaft einiges passiert, beileibe nicht nur Gutes.

Eine skurrile Mischung aus Ökofaschismus und völkischem Gedankengut bestimmt das Leben in dieser Komödie, die sehenswert und flott inszeniert, aber nicht wirklich lustig ist. Lachen befreit, hier herrscht eher Beklemmung vor, wenn man erkennt, dass so einiges, was Benjamin Lauterbach in seiner Satire prophezeit, Realität zu werden droht. Das Stück versteht sich als Plädoyer für den gesunden Menschenverstand, wie immer der auch aussehen soll. Denn eine Lösung bietet Lauterbach nicht.

Beim Blick in die Zukunft dreht er das Rad der Geschichte zurück. Alte Schlager werden angestimmt. Das furchterregend perfekte Familienbild, das sich im antiseptischen Wohnraum (Bühne: Jan Müller) darstellt, könnte, nicht zuletzt der Kostüme wegen (Lotte Sawatzki), aus einem Wirtschaftswunder-Werbefilm der frühen 1960er-Jahre stammen. Das perfide Überwachungssystem über dieser vorgeblich heilen Welt bedient sich bei totalitären Systemen, die Deutschland bereits durchmachen musste. Wenn unfolgsame Kinder zur „Geistesertüchtigung“ ausgerechnet nach Plötzensee verfrachtet werden, ja, dann muss man schon mal schlucken.


In China ist alles wie früher


Über Jahrhunderte hat man im Theater und in der Kunst Chinesinnen und Chinesen meist belächelt. Heute, gerade jetzt während der Olympischen Winterspiele in Peking, zeigt man mit dem Finger gern auf das unfreie Reich der Mitte. Lauterbach dreht den Spieß um. Herr Ting kommt aus einer Welt, in der vieles so ist wie früher in Deutschland. In China gibt es noch, Pfui Teufel, Plastikspielzeug. Man trinkt Bier und Kaffee mit Koffein, es wird sogar geraucht! Man telefoniert mit Handys, deren Strahlen doch lebensgefährlich sind! Bei der Arbeit hören Chinas Werktätige nach wie vor auf Chefs, während in Deutschland alles in flachen Hierarchien abläuft. Denn Autorität ist etwas für unterentwickelte Gesellschaften.

Kuschke und Schischke, Abteilung Horch und Guck, achten bei ihren Hausbesuchen darauf, dass die Ordnung eingehalten wird. Streng freiwillig natürlich. So wie der Mittagsschlaf, der landesweit obligatorisch ist. Benötigt der Mensch doch viel Energie für die Arbeit. „Papa sagt immer, Arbeit ist das halbe Leben. Aber was ist dann die andere Hälfte?“ fragt Niclas. Beginn des Zweifels an der angeblich perfekten Welt, in der er aufwächst. So sind es auch die Kinder, die zuerst heimlich, dann aber immer offener renitent werden gegen die ach so gut gemeinten Bevormundungen.


Gut aufgelegtes Ensemble


Denn der Besuch des Chinesen stellt alles auf den Kopf. Warum er überhaupt da ist, als Tourist oder der Industriespionage wegen – Papa Alexander ist schließlich Erfinder –, das wird nicht aufgeklärt. Letztlich hat die Rolle des Chinesen, die Yu Fang sehr sympathisch, aber zugleich rätselhaft verkörpert, nur die Funktion des Unruhestifters. Wer er ist, was er macht und warum, das alles bleibt Geheimnis.

Das mit bekannten Namen besetzte Ensemble gibt sich beste Mühe, charakterlosen, weil total überzeichneten Figuren Seele einzuhauchen. Thomas Heinze und Henny Reents als Elternpaar bringen die Verzweiflung rüber, die der allmähliche Einsturz ihres Weltbilds in ihnen verursacht. Die Kinder werden von zwei Erwachsenen gespielt, eine mehr als dankbare Aufgabe. Die quicklebendige Anna Julia Antonucci, 36 Jahre jung, meistert sie ebenso bravourös wie der spindeldürre Maximilian Diehle (25), der ironischerweise alle anderen an Körpergröße überragt und nebenbei noch als Turner überzeugt. Michael Kind und Kirstin Warnke als Ordnungshüter wirken zunächst als doofes Duo fast freundlich, doch im Lauf der Handlung zeigen sie ihre brutale Seite.

Am Ende, nachdem der Chinese zur Heimreise genötigt wurde, verlangt Kuschke, Hüter der Abstinenz, ganz selbstverständlich einen Schnaps. Dass Menschen Wasser predigen und Wein trinken, das hat es schon immer gegeben. Und daran wird sich wohl auch nach 2045 wenig ändern.

Komödie am Kurfürstendamm im Schiller Theater, en suite bis 27. Februar. Hier geht es zu den Karten.

3. Staatsoper - Der Tod gibt dem Leben einen Sinn

Auseinandersetzung mit der eigenen Jugend: Marlis Petersen (Emilia Marty) und Lara Mohns (Junge Marty) in
Auseinandersetzung mit der eigenen Jugend: Marlis Petersen (Emilia Marty) und Lara Mohns (Junge Marty) in "Die Sache Makropulos" © Monika Rittershaus

Um es vorwegzunehmen: „Die Sache Makropulos“ von Leoš Janáček in der Staatsoper ist ein tolles Stück Musiktheater! Mit großartigem Dirigat, einer Staatskapelle in Bestform, grandiosen Sängerinnen und Sängern und einem schlüssigen, mutigen, aber nie aufdringlich wirkenden Regiekonzept. Der einhellige Premierenjubel ist umso bemerkenswerter, wenn man bedenkt, dass die zweitletzte Oper des tschechischen Komponisten, uraufgeführt im Dezember 1926, musikalisch wie dramaturgisch ziemlich sperrig ist.

Im Gegensatz zu anderen Werken Janáčeks wie „Jenufa“, „Katja Kabanova“ oder „Das Schlaue Füchslein“ gelangte die nach dem gleichnamigen Schauspiel seines Landsmannes Karel Čapek entstandene „Sache Makropulos“ bei uns nur schleppend auf die Spielpläne. Die Berliner Erstaufführung datiert erstaunlicherweise erst auf den April 1978, und zwar in der Komischen Oper. Dabei hatte der Komponist noch ein Jahr vor seinem Tod eine Deutsche Erstaufführung mit der Berliner Staatsoper 1927 in der Krolloper in die Wege geleitet. Es gab bereits musikalische Proben, doch dann verliefen die Pläne aus heute nicht mehr nachvollziehbaren Gründen im Sande.

Fast hundert Jahre später ist „Věc Makropulos“, so der Originaltitel, endlich in der Staatsoper Berlin angekommen. Unter der musikalischen Leitung von Simon Rattle; der langjährige Chef der Berliner Philharmoniker, der anschließend Musikdirektor des London Symphony Orchestra wurde, und bald die Leitung des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks übernimmt. Der britische Stardirigent ist ausgewiesener Janáček-Experte. Unter den Linden hat er schon vier Neuproduktionen mit Werken des Tonkünstlers aus Mähren geleitet.


Nur vordergründig ein Krimi


Worum geht es in dieser Oper? Basierend auf einer Komödie, ist „Die Sache Makropulos“ vordergründig ein Kriminalstück. Ein seit Ewigkeiten schwelender Erbschaftsstreit zwischen zwei Familien wird wieder vor Gericht verhandelt. Während sich die Anwälte auf die Auseinandersetzung vorbereiten, erscheint Emilia Marty, eine gefeierte Operndiva, in der Kanzlei. Sie verblüfft alle Beteiligten mit Erkenntnissen über ein verschollen geglaubtes Testament, das für den Erbschaftsprozess entscheidend sein kann. Im Gegenzug erhofft Emilia, über Albert Gregor, Angehöriger einer der beiden streitenden Familien, Informationen zu einer mysteriösen griechischen Handschrift.

Emilia verdreht bald allen den Kopf. Den Männern, Prozessgegnern und Juristen, ebenso wie Krista, eine junge Sängerin. Sie ist von Emilias Stimme und Persönlichkeit so begeistert, dass sie sich für die Kunst und gegen ihren Verlobten Janek entscheidet, der sich daraufhin eine Kugel in den Kopf schießt. Ein alter Graf glaubt in Emilia eine 50 Jahre zurückliegende Liebschaft wieder zu erkennen und verliert den Verstand. Fast alle Beteiligten leiden unter Emilias unerklärlicher Gefühlskälte.

Zur Rede gestellt, gibt die rätselhafte Frau ihr Geheimnis preis. Emilia Marty heißt in Wahrheit Makropulos, und kam 1585 auf Kreta zur Welt. Ihr Vater war Alchimist am Hofe Kaiser Rudolfs II. in Prag. Er musste an seiner Tochter ein Elixier erproben, das Unsterblichkeit verleihen soll. Emilia fiel ins Koma, der Vater wurde eingesperrt. Doch nach kurzer Zeit erwachte das Mädchen und konnte fliehen. Seitdem trug sie viele Namen, alle mit E und M beginnend. Nun endet die Wirkung des Zaubertranks. Um weitere 300 Jahre leben zu können, war sie auf der Suche nach dem Rezept. Jene griechische Handschrift, die sie nun wieder gefunden hat.


Unsterblich in der Zeitkapsel


Was in der Komödie des Rätsels Lösung ist, dient in der Oper als roter Faden, mit tragischem Aspekt. Die Frage, was ewiges Leben bedeuten und welchen Preis es kosten würde, stellt Claus Guth, Stammgast an der Staatsoper, in den Mittelpunkt seiner Inszenierung. Er unterliegt nicht der Versuchung, die Geschichte in Anbetracht des wissenschaftlichen Fortschritts in die Gegenwart zu transportieren. Das eindrucksvolle Bühnenbild von Faust-Preisträger Étienne Pluss („Violetter Schnee“), die Kostüme von Ursula Kudrna, bleiben im Prag der 1920er-Jahre. Aber es gibt einen Rückzugsraum für die ermattende, nach Ruhe suchende Emilia. Eine weiße, futuristische Zeitkapsel. Vor jedem der drei Akte findet sie hier neue Kraft, begegnet ihrer eigenen Kindheit in der Person eines kleinen Mädchens und sieht sich selber in der Zukunft als alte Frau.

Flure dienen als Metapher für das Leben. Zuerst in der Anwaltskanzlei mit unzähligen Regalakten, im zweiten Akt hinter der Bühne eines Theaters, in dem Emilia als Madame Butterfly Triumphe feiert, später in den Gängen eines Hotels, in dem die Sängerin eine Liebesnacht verbrachte, um dafür die griechische Handschrift zu erhalten. Wirklich, ein vertrackter Kriminalfall.

Es wird außerordentlich viel Text gesungen, auf Tschechisch, und so gibt es reichlich Übertitel zu lesen. Die Handlung vorher kurz überflogen zu haben, ist hilfreich. Die Komik kommt nicht zu kurz, selbst auf Slapstick wird nicht verzichtet. Tänzerinnen und Tänzer in den unterschiedlichsten Rollen und Funktionen (Choreographie: Sommer Ulrickson) verstärken den Eindruck des Grotesken zusätzlich. Nicht zuletzt im Fahrstuhl, dessen Tür beim Öffnen immer neue verrückte menschliche Tableaus preisgibt.


Ein Unheil bringendes Rezept


Wahrhafte Größe offenbart diese Opernproduktion am Ende, wenn Emilia, das einst als „Versuchskaninchen“ missbrauchte Mädchen, sich vor einem testosterongesteuerten Männer-Tribunal verantworten muss. Sie erkennt, dass das Leben ohne Tod wenig Sinn macht. Das Rezept für das Elixier übergibt sie Krista – die das Papier verbrennt, da auch sie erkennt, was es anrichten kann.

Aller Schönheit, jeden Schmucks beraubt, fast kahlköpfig, verabschiedet sich Emilia aus dem Diesseits. Ein tragischer, berührender Moment. Die Sopranistin Marlis Petersen, Opus-Klassik-Preisträgerin, brilliert in ihrem Rollendebüt mit Stimme und ihrer Erscheinung. Wie überhaupt das gesamte Ensemble sich musikalisch wie szenisch auszeichnen darf: Ludovit Ludha (Albert Gregor), Peter Hoare (Vítek), Natalia Skrycka (Krista), Bo Skovhus (Jaroslav Prus), Spencer Britten (Janek), Jan Martiník (Dr. Kolenatý), Žilvinas Miškinis (Maschinist), Adriane Queiroz (Putzfrau), Jan Ježek (Hauk-Šendorf) und Anna Kissjudit (Kammerzofe).

Nach „Katja Kabanova“ in der Komischen Oper hat Berlin nun also einen weiteren großen Janáček-Abend. Im Mai steht an der Staatsoper zudem die Publikumspremiere von „Jenufa“ an, in der Regie von Damiano Michieletto, dirigiert von Thomas Guggeis. In der Titelpartie wird dann Asmik Grigorian ihr Debüt am Haus geben.

Staatsoper Unter den Linden. Noch bis zum 27. Februar. Hier geht es zu den Karten.

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