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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 369

Kulturvolk Blog | Reinhard Wengierek

von Reinhard Wengierek

11. Oktober 2021

HEUTE: 1. „Die Dreigroschenoper“ ‑ Berliner Ensemble / 2. „Aufstieg und Fall eines Vorhangs und sein Leben dazwischen“ – Volksbühne / 3. „Zdenek Adamec“ – Kammerspiele des Deutschen Theaters

1. BE: - Messer im Maul

Nico Holonics und das Ensemble der Dreigroschenoper © JR Berliner Ensemble
Nico Holonics und das Ensemble der Dreigroschenoper © JR Berliner Ensemble

Noch eine letzte halbe Stunde, dann soll er hängen. Doch zuvor: die Henkersmahlzeit. Also fragt Polizeichef Brown nach Mackies Gelüsten. Der Obergangster will Spargel. Seiner Ansage folgt, eine halbe Stunde vor Schluss dieser „Dreigroschenoper“, noch einmal eine für Barrie Koskys Inszenierung so typische, atemberaubende Szene zwischen zwei nicht nur durch Korruption einander verschlungene Figuren… – Aus der Tiefe der Bühne heraus karrt Brown in gespenstischer Stille auf einem grausam quietschenden Wägelchen das Gemüse heran. Kathrin Wehlisch, in gebückter Trauer, steif und gar nicht tigernd, dafür beständig auf Lauer, schmächtig, schmallippig, mit aasiger Knarzstimme, füttert verdruckst liebevoll ihren unterm Strang schlotternden Mackie Messer (Nico Holonics). Bis beide – Tränchen weggewischt – sich in die Haare kriegen. Es geht um Geld. Natürlich. Um Schmiergeld. Und auch jetzt noch um Macht. Und so wechseln im Sekundentakt schwüle Sentimentalität mit eisiger Ernüchterung, grotesker Ernst mit verrückter Komik.

Solch subtil inszenierte, präzise ausgespielte Zweier gibt es an diesem so betörend poetischen wie verstörend zynischen Abend am laufenden Band. – Da wäre die Führung der Bettlermafia, das peitschenknallende Ehepaar Peachum Constanze Becker & Tilo Nest. Oder die sexuellen Hörigkeiten, von denen die Peachum im geilen Pelz mit feschem Hut so herrlich raunt und röhrt, derweil Mackie sie schamlos auslebt mit Polly (Cynthia Micas), mit Jenny (Bettina Hoppe), mit Lucy (Laura Balzer).

Gerade in den Weillschen Welthits, diesem funkelnden Mix aus Avantgarde, Populärem, Parodistischem, der aus Brechts bittersüß-bitterbösen Texten weht, stürzt, knallt, erspürt Kosky bislang unerhörte zwischenmenschliche Dramen, Komödien, Farcen – meist glühen sie nur ein paar Takte oder Buchstaben voneinander entfernt. Sonderlich aufregend das Liebesgeständnis der grandiosen Bettina Hoppe als Spelunkenjenny, bevor sie ihren Mackie für Zaster an die Polizei verrät – mehr als ein Hauch von Tragik.

Dazu die Bühne in schwarz-weiß-grau von Rebecca Ringst mit sinnfälligem Symbol: Einem beweglichen, scharfkantig sich auftürmenden, gefährlich verwinkelten Klettergerüst ‑ der Großstadtdschungel, das Haifischbecken, der Weltirrwitz. Verhangen mit glitzrigen, kontrapunktisch zum nervenkitzeligen Geschehen sich hebenden oder senkenden Lamettagardinen. Die annoncieren kein hitziges Showbiz – eher Kühle, in der die verquirlten konträren Gefühle auf- oder abgekocht werden.


Schlimme Geschichten vom Beißen und Gebissenwerden 


Barrie Kosky, Chef der Komischen Oper und innovativer Spezi für Operette und Musical, sinnenfroh wie Castorf, doch mit deutlich konzentrierterer Werktreue als sein fatalistischer Kollege, weiß freilich (wie Castorf auch) nur zu gut, dass im vermeintlich leidenschaftlich lieben Kulinarischem das nicht gar so lieb Egomanisch-Exzessive der Gattung Mensch steckt. Und so ignoriert er all die üblich lehrstückhaften, kapitalismuskritischen, moralisierend parabelhaften, mit V-Effekten dekorierten „Dreigroschenoper“-Verpackungen nicht, sondern hebt sie souverän auf in den ewigen schlimmen Geschichten mit den Menschen, mit uns Haifisch-Menschen in diesem Klassiker der Moderne.

Was wiederum das Tolle, gerade nicht zeigefingernd Gegenwartstolle ist an diesem Musiktheater. Eben, dass jene uralten Geschichten vom Beißen und Gebissenwerden so schlagend amüsant, frisch, abgründig und packend erzählt werden (auch im Slapstick und Comic). Wow! Das dürfte dem BE mit seinen Stars und seinem mal zart, mal ätzend, mal ironisch süffig oder wuchtig aufspielenden „Dreigroschenoper“-Orchester unter Adam Benzwi Gastspiele weltweit einbringen.

Und dem Chef des Love-and-Crime Spektakels den hübschen Titel „Schauspieler des Jahres“. Denn Nico Holonics, dieser agile Berserker (auch im BE-Spielplan: Sein großartiges „Blechtrommel“-Solo von Günter Grass), der gibt einen verführerisch ruchlosen Schwerenöter mit Lust auf Clown. Einen dreisten Engel und schwitzenden Höllenhund, der mit Weibern und Gangstern aller Art, mit Gott und Teufel tanzt. Aber mit Messer im Maul.

Wieder 12.-14.10., 16.10.; 6.-8.11., 26.-28.11, 3.-4.12. 
„Blechtrommel“: 10. November 

***

2. Volksbühne: - Neustart mit Kamelle

Susanne Bredehöft und Martin Wuttke in
Susanne Bredehöft und Martin Wuttke in "Aufstieg und Fall eines Vorhangs und sein Leben dazwischen" von René Pollesch © Christian Thiel

„Alles, was nicht brummt, macht keinen Bock.“ – Ansage von René Pollesch. Schon immer schmiss der vielschreibende und fix denkende Windhund im deutschen Theaterbetrieb mit griffigen Sätzen locker um sich wie Rheinländer mit Kamelle. Und so auch jetzt wieder zum Antritt als Chef der Volksbühne in seinem neuen Stück „Aufstieg und Fall eines Vorhangs und sein Leben dazwischen“. Bleibt die Frage: Was ist es, was da brummen soll?

Es sind die hochtourigen Motoren seiner Gedankenschleuder, seiner gern geistreichen Sentenzen-Maschine, seines Kalauer-, Witzel-, Blödel-Fließbands. Die sind die Triebkraft des Pollesch-Theaters, das keine Figuren, keine Psychologie, keine Story hat, sondern viel und virtuos tönende und turnende Sprech-Apparate, vollgestopft mit dem Salat hoch geschraubter bis flach verschwurbelter Gedanken. Man könnte auch sagen: postmodernes Diskurstheater.

Wer damit klar kommt, ist schlau oder vom Fach oder hat Glück. Wer nicht – selber schuld. Dass die grellbunten, seit Jahrzehnten selbstreferenziellen Pollesch-Fantasien oft über allerhand Unterhaltungswert verfügen, liegt zum einen an effektvoll optischer Ausstattung (wer nix kapiert, hat wenigstens was zu gucken), zum anderen am Rhetorik-Personal – stets Spitzen der Branche. Diesmal dabei: Kathrin Angerer und Martin Wuttke, dazu Susanne Bredehöft und Margarita Breitkreiz


Das Kollektiv soll der Chef sein 


So geht das nun gefühlt seit Ewigkeiten mit Pollesch, Liebling der Szene wie der Kulturpolitik – auch deshalb der neue Job als Chef der Post-Castorf-Bühne. Stürzte doch das wohl wirkmächtigste Haus im ganzen Land nach 25 stilprägenden Frank-Castorf-Jahren durch das fröhliche Unverständnis des Belgiers Chris Dercon für die so besondere Location am Rosa-Luxemburg-Platz in den Orkus. Dem folgte die Interims-Intendanz von Klaus Dörr, die vorzeitig abgebrochen wurde durch Vorwürfe übergriffigen Verhaltens am Arbeitsplatz.

Und jetzt also René Pollesch als Chef. Eigentlich hätte es ja eine Frau sein müssen. Deshalb das unentwegte Intendantengefasel vom kollektiven Führungsstil (alle reden mit und drein). Damit gingen schon andere schwierige Großbetriebe baden. Zudem soll es cool sein, dass man nicht wie sonst üblich bei derartigen Gelegenheiten mit monumentalem Neustart-Gedöns und einem Paket wuchtiger Großproduktionen anfängt, sondern erstaunlich bescheiden: Man schenkt – poetische Idee – dem Theatervorhang eine liebevolle Hauptrolle: „Aufstieg und Fall eines Vorhangs…“

Das kunstvoll sich aufbauschende und zusammenfallende Tuch, starker Hingucker von Bühnenbildner Leonard Neumann, eingefärbt in warm leuchtendes Orange, verdeckt oder entblößt den Spieler wie die drei Spielerinnen, die sich choreographisch mit dem „Stoff“ beschäftigen sowie mit zwei Campingstühlen und einem Eimer, dem historischen Artefakt des Hauses (leider leer, kein Kartoffelsalat).


Auch der Tod spielt mit als rauchendes Gerippe 


Und sonst? Zunächst wäscht Wuttke der Angerer die Füße. Rührend. Auch gibt es hübsche Aha- und Oho-Momente ob feiner Geistreicheleien und scharfer Sarkasmen bezüglich des Herumgeisterns zwischen Schnürboden und Portal wie zwischen Leben und Tod. Folglich trägt Wuttke (wieder ein Hingucker!) ein zuweilen genüsslich rauchendes Gerippe huckepack.

Auch die Gefallsucht des Theaters kommt (selbst)ironisch zur Sprache. Und eine Begeisterung für den Zirkus, in dem – etwa beim Messerwerfen – das Danebentreffen als das Kunststück gilt. Dann plappert man unsortiert ein bisschen von Dostojewski, Brecht und Revolution, von Tragödie bis Video und Digitalcollage, von Tantiemen, Festverträgen, Kindheit, Jugend, Alter. Und freut sich mit Tolstoi, der sich am liebsten mit Leuten unterhält, die nicht reden konnten. Nebenbei wird die Frage aufgeworfen, ob der Vorhang der „Lappen“ sei oder womöglich der Schauspieler mit Schminkkasten und Perücke. Und ob er dann „läppisch“ sei.

Alles in allem: Kunst- und Lebenskonfetti zwischen Portal und Schnürboden, in knapp 90 Minuten vom großen Vorhangtuch verwirbelt bei gefälliger Musik. Eine luftig leichte Kleinigkeit.

Doch Schergewichtigeres ist auch nicht in Sicht. Kein Bock auf ordentlich Gebrumm? Dafür hört man neuerdings von der Übernahme einer Pollesch-Altproduktion aus Wien mit Kathrin Angerer, seltsam säuselnden Anspielungen auf Bertolt Brecht, Fred Astaire sowie Wrestling nebst Identitätsgerede in spektakulärem Bühnenbild – wenigstens der Hingucker ist gesichert. Doch das vorbildlich divers aufgestellte Führungskollektiv steckt offensichtlich noch tief in der Ideen- und Selbstfindung.

Wieder: 11., 31. Oktober; 12. November 

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3. DT-Kammer: - Melancholie, verstörend

v.l. Marcel Kohler, Linn Reusse, Lorena Handschin, Felix Goeser, Regine Zimmermann und Bernd Moss © Arno Declair
v.l. Marcel Kohler, Linn Reusse, Lorena Handschin, Felix Goeser, Regine Zimmermann und Bernd Moss © Arno Declair

Im frühen Morgenlicht des 6. März 2003 klettert in Prag der achtzehn Jahre alte Zdenek Adamec aus dem böhmischen Provinznest Humpolec mit einem Fünf-Liter-Eimer voll Benzin die Treppen des Nationalmuseums hinauf, um sich mit (letztem) Blick auf den Wenzelsplatz den Brennstoff über den Kopf zu gießen und sich anzuzünden. Das war 34 Jahre nach dem Feuertod des Studenten Jan Palach, der an selber Stelle sich umbrachte aus Protest gegen das gepanzerte Niederwalzen des Prager Frühlings.

Der junge Mann kommentierte seine „Aktion Fackel“ im Internet als Widerstand gegen den kapitalistischen Weltzustand und forderte die Schaffung einer „totalen Demokratie“. Er selbst sah sich als ein „weiteres Opfer des so genannten demokratischen Systems, in dem Geld und Macht alles entscheiden“ und gehörte zu einer Gruppe von Hackern, die Teile des Prager Stromnetzes sabotierte, um das „falsche Licht“ auszuknipsen. Zum Schluss seines an alle Nachwelt gerichteten Abschiedsbriefs heißt es „Bitte macht keinen Irren aus mir!“ – doch genau das passierte. Und alsbald war Zdenek Adamec vergessen.

Jetzt, knapp zwei Jahrzehnte später, setzte ihm der österreichische Schriftsteller Peter Handke ein poetisches Epitaph, das erstmals gezeigt wurde zu den Salzburger Festspielen. Handke nennt seinen Text „Zdenek Adamec. Eine Szene“. Diese eine Szene kommt ohne Rollen- oder Figurenzeichnungen aus. Und spürt schon gar nicht kriminalistische, dokumentarische oder gar politische Wahrheiten oder Hintergründe auf.


Gefühltes Gefuchtel im Leeren 


„Was hat er sich wohl versprochen von seiner Selbstverbrennung gegen den Zustand der aktuellen Welt?“, fragt der Dramatiker ‑ ohne Antworten zu geben. Oder höchstens: Mögliche Antworten vage einzukreisen.

Dabei raunt Handke gewisse eigene Ahnungen und Ansichten ins Weltall: Etwa über den beklagenswerten Zustand der Menschheit in unseren vermeintlich misslich modernen, unschön wunderlichen Zeiten und über die stets aufs Neue konfliktreichen Beziehungen der Leute untereinander. Da schwingen Sehnsüchte nach Harmonie und Ruhe, aber auch Ängste sowie das ungute Gefühl eines seltsamen „Gefuchtels im Leeren“.

Das alles hätte auf ähnliche Art sogar dem Zdenek durch Kopf und Herz strömen können, bevor er sich auf so grausame Weise aus dieser ihm fremd, grauenvoll und schmerzlich erscheinenden Welt im grell lodernden Protest schleuderte.

Die – scheinbar? – ungeordnet daherredenden, meinenden, erfindenden, vermutenden – oder meditierenden? – sechs Personen in Handkes „weiträumiger“ Szene sind, diverse Verpackungen von Instrumenten deuten darauf hin, wie zufällig „jetzt oder sonst wann“ gestrandete Musiker in entrückter Einsamkeit.

Der Ort ist, so ein Hinweis des Autors, „möglicherweise ein ehemaliges Klosterrefektorium oder ein Kleinstadt-Tanz-und-Festsaal“. Und so baute Jens Kilian auf die Kammerspielbühne einen mit rohen Holzbänken und Tischen vollgestellten Saal mit Heiligenbildern an den Wänden samt einer Jukebox in der Ecke. Sozusagen ein Wartesaal, eine spartanische Durchgangsstation, die sich im Verlauf des 70-minütigen geheimnisumwitterten Abends auf unheimlich sanfte Art weitet.


Subtile Demonstration der Gestimmtheiten 


Regisseur Jossi Wieler dirigiert die sechs nicht näher beschriebenen Personen behutsam hin und her oder lässt sie einfach sitzen, derweil sie schwadronieren oder eben schweigen. Freilich, der große alte Könner seines Fachs gibt einer jeden Stimme in diesem melancholisch rauschenden Kammerkonzert eine gewisse Kontur und Färbung (nassforsch, nüchtern, bedenklich, versponnen, verärgert oder gleichgültig). Das erlesene Ensemble (Felix Goeser, Lorena Handschin, Marcel Kohler, Bernd Moss, Linn Reusse, Regine Zimmermann) zelebriert die Gestimmtheiten so hingebungsvoll wie eindrücklich.

Und so fügt sich alles, könnte man meinen, zu einem abgehoben feinen, rätselhaften, für Momente sogar komischen Gesang vom letztlich doch schlimmen, oder wenigstens unbequemen Zustand hier auf Erden. Peter Handke sagt: „ein Gewölle aus Fantasien“. Gewissheiten fallen mithin aus. Was bleibt stiftet verstörendes Unbehagen.

Wieder: 17., 24. Oktober

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