HEUTE: 1. „Das Leben des Vernon Subutex 1“ – Schaubühne / 2. „Winterrose“ – Schlosspark Theater / 3. „It’s Going To Get Worse“ – Gorki Theater
Endstation Pappkarton. Die Pappe draußen unter Brücken. Mit Dosenbier und Tütensuppe. Ein Clochard in Paris. Dabei hat Vernon Subutex (50) schon bessere Zeiten gesehen. Denn damals, vor 30 Jahren, da war er Besitzer des prominenten Plattenladens „Revolver“ mit Kundschaft und Kontakten von unterster Rockszene bis rauf in die hippe Bourgeoisie. Geld, Sex, Drogen, Musik, Party – alles war reichlich. Doch dann kam das Digitale. Und der Abstieg. Die einen tun, was man tun muss, doch Subutex, total cool, total ehrgeizlos, ließ es verwundert laufen und laufen, „Entweder du hast dich geirrt, als du mit 20 Slayer gehört hast, oder du irrst dich jetzt in deinem Leben ...“
Subutex, der gutmütige Schlacks mit fettig-filzigem Nackenhaar, hat sich wohl immer geirrt. Etwa auch jetzt, da er wie ein Fossil aus analogen Zeiten auf der Pappe klebt? – Die Party ist vorbei, das Geld alle, Sex und Drogen nur noch ein bisschen. Ein Verweigerer, ein Nicht-Mitschwimmer, der dennoch gelegentlich alte Kontakte mürrisch sucht: Um ein bisschen zu schnorren, zu vögeln, besser zu futtern und schlucken. Um mal wieder in einem richtigen Bett zu liegen. Bei Leuten von früher, die längst wissen, was zu tun ist, um im zunehmend brutaler werdenden Überlebenskampf einigermaßen zu bestehen oder gar – auf welche Weise auch immer ‑ ordentlich Knete zu machen.
Es sind miese Trickser, clevere Anpasser, intrigante Um- und Aufsteiger. Lauter Verlogene, Verbogene, Verkrümmte, leicht bis schwer Verletzte. Was da einst womöglich ehrlich rockte, also Vernons „Revolver“-Kundschaft von damals, das hat inzwischen ausgerockt. Klebt an der „Likes-Kultur“, hat Träume wie Ideale beiseite geschmissen, Egos brutal aufgepumpt.
Es ist ein grau oder grell kostümierter Haufen Zynismus, der da jetzt an Subutex vorüber paradiert. „Jeder auf Jagd nach seinem Nugget.“ – Unser nicht unsympathische, klebrige und aus der Zeit gefallene, die Staats-Stütze verhöhnende ewige Altrocker (Joachim Meyerhoff) kommt aus dem Staunen nicht heraus: Widerwärtig! Aber er bleibt draußen im Regen. Auf seiner Pappe.
Es ist dieses weit gespannte Typen-Panorama einer immer tiefer zwischen unten bis oben, zwischen links und neuerdings zunehmend rechts sich spaltenden Gesellschaft mit ihren politisch-ideologischen Dominanten sowie den dazu gehörigen sozialen Milieus, das die französische Star-Autorin Virginie Despentes („Baise-moi“, „King Kong Theorie“) in ihrer Roman-Trilogie „Das Leben des Vernon Subutex“ facettenhaft aufblättert (auf 1200 Seiten). Und das den Regisseur Thomas Ostermeier so fasziniert. Und zur theatralen Adaption des (vorerst?) ersten Teils reizt.
Schon immer standen derartige gesamtgesellschaftliche Rundum- und Querbeet-Blicke im Fokus dieses Regisseurs, der so begabt ist fürs weite filmisch-zirzensische Ausbreiten solcher Breitwand-Panoramen – von Gorkis „Nachtasyl“ über Norens „Personenkreis 3.1“ bis hin zu jetzt Virginie Despentes‘ „Vernon Subutex 1“.
Und jetzt ein großes Aber. Thomas Ostermeier hat mit „Subutex“ ein Problem. Erstens, die monologische Struktur der Romanvorlage, die sich eben gerade darin von beispielsweise Balzac-Romanen unterscheidet, mit denen der frankophile Ostermeier Despentes vergleicht (oder gar gleichsetzt). Zweitens: Die Schnipsel-Struktur der Dramaturgie.
Freilich, die kollektive Textfassung der Übersetzung von Claudia Steinitz findet ein lapidar hingerotztes Deutsch. Und das selbstverständlich erstklassige Ensemble fasziniert im Disparaten: Der rassistische Drehbuchautor, der Ex-Punk, jetzt taffer Staatsbeamter, die Porno-Ratte, der liberale Moslem mit fundamentalistischer Tochter. Oder die spießige Bürofrau, der koksende Börsenspekulant mit Eure-Armut-kotzt-mich-an-Sprüchen oder der den Kulturbetrieb hassende Intellektuelle. Lauter auf die Drehbühne hin geschnipselte Kabinettstückchen mit tonnenweise ausgeschüttetem Zynismus. Lauter kleine treffliche Gegenwartsdiagnosen.
Und die Bühne, die kreist und kreist und kreist wie der bedrohliche rote Neon-Revolver oben an der Decke um das Immergleiche: Ums Auskotzen von Menschenverachtung, Wahn und Wut. Hysterie und höllischer Sarkasmus als Dauerzustand eines Nummernprogramms. Und eben genau das ist das Problem der trotz allen Irrsinns zunehmend länglicher werdenden Vier-Stunden-Veranstaltung. Wäre da nicht zum Luftholen zwischendurch die krachende Band mit ihren guten alten Klassikern des Punk und Rock.
Termine: 15.-20. Juni; 25-29. August.
Die Schaubühne macht keine Sommerpause. Anfang Juli hat Kleists „Michael Kohlhaas“ Premiere; Ende Juli folgt die Premiere von Lorcas „Yerma“. Im August läuft die neu gefasste Wiederaufnahme von Eribons „Rückkehr nach Reims“.
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Im Stadtpark ist gut Ausruhen. Die Natur, die Stille, der Ententeich hinter der Trauerweide. Ein melancholisch stimmendes Idyll. Passend für Josef Kleberger, seit sieben Jahren Witwer. Und seit sieben Jahren immer donnerstags Stammgast auf der lauschigen Bank am Teich. Dort schmökert der einsame Bücherfreund ungestört die Werke der Weltliteratur; jedes Jahr ein neues. Gerade ist er, „Göttliche Komödie“, bei Dante. Shakespeare hat er schon durch. Seine Freunde, die Enten, nennt er Titania, Oberon, Rosenkranz, Güldenstern – die Fülle der zur Auswahl stehenden Namen ist groß, passend zum Entenschwarm.
Doch neuerdings muss Josef am Mittwoch kommen, denn Donnerstag ist Yoga. Er hat’s mit der Hüfte. Aber am Mittwoch ist es vorbei mit der Lese-Stille. Denn da kommt Elisabeth, eine so redselige wie taffe Witwe, die immer mittwochs auf der Pirsch ist nach einem passenden Mann. Sie verabredet sich jenseits der Enten im Parkcafé Kindermann; ihr vielsagendes Kennwort: „Winterrose“ („sie blüht, aber ist kalt wie Schnee, duftet, aber hat Dornen, trotzt dem Winter, aber ist zerbrechlich wie Kristall“).
Doch zuvor inspiziert Betty – mit dem Fernglas vor Augen – die infrage kommende Männlichkeit. Sozusagen der fernoptische Vorentscheid. Auf der einzigen dafür geeigneten Bank – natürlich Josefs Bank. „Meine Ruh ist hin, mein Herz ist schwer…“
Das ist die an sich ganz simple Ausgangslage der durch ihr Großaufgebot an Witz, Charme und Lebensweisheit köstlich amüsierenden, in Salzburg uraufgeführten Konversationskomödie „Winterrose“ der österreichischen Autorenfamilie Christa, Agilo und Michael Dangl.
Zwei gegensätzliche Temperamente – das Schwatzhafte und das Schweigsame ‑ prallen da aufeinander: Josef Kleberger (Jürgen Heinrich), der gebildete, vornehm kühle Hagestolz, ziemlich menschenscheu, bisschen zynisch. Kontaktanbahnungen weist der Herr mit Hut, Krawatte, Einstecktuch stöhnend zurück mit einem Dante-Zitat zwischen den Zähnen: „Ihr, die ihr hier eintretet, lasset alle Hoffnung fahren.“
Elisabeth (Dagmar Biener), stets fein gemacht, schick gewandet und mit Fernrohr in einer für jeden Auftritt neuen teuren Handtasche lässt sich weder von Weltliteratur noch von Josef abschrecken, ihren Ausguck neben ihm auf dessen Parksitz einzunehmen. Um eloquent ihre bislang eher unerfreulichen, grotesk komischen Dating-Erfahrungen durch den Kakao zu ziehen. Die unerschrockene und eben unermüdliche Dame auf Männersuche entfaltet ein bizarres Panorama Weibchen suchender älterer Männchen, das Josef genervt ätzend kommentiert. Immerhin, da wenigstens sind sich die beiden einigermaßen einig. Und mit der Zeit am Teich stellt sich peu à peu heraus, dass ein bislang fein versteckter, letztlich unerschütterlich menschenfreundlicher Idealismus sowohl die kesse Witwe als auch den hochmögenden Witwer durch die nicht wenig schmerzlichen Untiefen ihres Daseins getragen hat. Doch reicht das für ein Happyend? – Derweil im roten Licht der Vorhang sanft sich schließt, rockt der Sänger Ich+Ich sentimental aus dem Off: „Ich warte schon so lang auf den einen Moment; bin auf der Suche nach hundert Prozent…“
Diese so kleine, hinreißend verkrampfte Parkbank-Geschichte, die wie nebenher zwei Schicksale offenbart, was sie unversehens ganz schön groß macht, wird ergänzt durch eine Art Spielmeister: den Park-Gärtner Horst Hückeshagen (Georgios Tsivanoglou), einem allein schon durch seine Leibesfülle gut geerdeten, dennoch leichtfüßigen, schlitzohrigen Tanzbär. Er pausiert gelegentlich mit Butterbrot bei den Enten („Füttern verboten!“), liebt Schlagerparaden (Ich+Ich) aus dem Kofferradio, hört beiden zu und liefert lebenskluge Kommentare, bevor er sich mit Musike diskret zurückzieht.
Was wir da hören, ist das eine. Das andere, was halt das Theater ausmacht, ist, was wir sehen und erleben. Dafür zuständig ist das bis in die Satzzeichen perfekt pointiert spielende Terzett aus Park-Philosoph, Park-Plaudertasche und Park-Wächter nebst Park-Enten. Das wiederum wird geradezu musikalisch dirigiert vom Regisseur Philip Tiedemann, der dem Schlosspark schon so manchen tollen Theaterabend bescherte. Wir bewundern ihn schon seit Claus Peymanns Zeiten erst im Burgtheater und dann am BE. Das ist elegante, feinnervige, spannungsgeladene Regie- und Seelenkunst. – Das Publikum ist berührt, beglückt, begeistert.
Termine: 15.-19. Juni, 20 Uhr; 20. Juni, 18 Uhr
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Weil es gerade passt; weil es so abgründig im Widerspruch zum Wesen aller Bühnenkunst steht: Ein zugegeben gewagter Vergleich Schlosspark – Gorkitheater.
Dort sahen wir am „Winterrose“-Abend zuvor die Premiere von „It’s Going To Get Worse“ von Ersan Mondtag & Ensemble unter Regie von Mondtag. Eine grellbunte Glitzer-Revue mit Benny Claessens, Orit Nahmias und Kate Strong, die sich mit hohem tänzerisch-akrobatischen Einsatz bemühen, die dicke Rampensau rauszulassen. Man will unterhalten, amüsieren, ein bisschen provozieren, viel Spaß machen, total lustig und obendrein tiefgründig sein. Im Prinzip etwa wie im Schlosspark-Boulevard, wie eigentlich in jedem Theater.
Nur, kaum jemand im Publikum begreift hier, worum es auf der aufwändig zirkushaft grell illuminierten Drehbühne eigentlich geht. Etwas besser sind freilich diejenigen dran, die einigermaßen gut Englisch können. Gut 90 Prozent der atemlos monologischen Wortbandwürmer kommen nämlich auf Englisch (freilich, kleine Monitore am Proszenium übersetzen). Denn das Gorki sei schließlich, tut mir leid, ein internationales Theater, verkündet Benny zwischen allerlei Singsang im wild berüschten rosa Tuntenkostüm (Diversity?) am heftig behämmerten Pianoforte.
Der teils ad hoc verquast improvisierte Text könnte, wir ahnen es mit viel Fantasie, mit unglücklichen privaten Lebenserfahrungen der drei Künstler*Innen zu tun haben. Sie quatschen halt alle nacheinander mal so drauf los, was gerade so durch die kummervolle Rübe rauscht. Und was da in all den elenden Jahren seelisch so alles abgegangen und eingeschlagen haben könnte. Nach dem Motto „Nichts wird besser, alles wird schlechter“. Wirklich konkret, wirklich nachvollziehbar wird jedoch nix. Empathie ausgeschlossen. Und es hat auch nichts mit dem Publikum zu tun. Doch das selbstbezügliche Geplapper, Gehopse, Geklimper dauert eitel-frech zweieinhalb Stunden.
Immerhin, der Theater-Werbetext sagt: Mondtag, ein allseits gehypter Regiestar, baue ein kühnes assoziatives Untergangsszenario, beschreibe das ewige Dilemma der autoritären Herrschaft (die Theaterleitung, der Regisseur?) und außerdem die Schwierigkeit der Emanzipation, die melodramatisch untergehe in der Knechtschaft des Seins aufgrund imaginärer oder realer Autoritäten. Singend, tanzend und weinend werde von Momenten der Einsamkeit und den inneren Ruinen erzählt. – Uff!
Was für eine kühne Ansage, dazu könnte man ganze Shakespeare-Zyklen inszenieren. Bei all der modisch gespreizten Performerei: Ein Minimum an Dramaturgie und Regie (Theaterhandwerk!) bleibt doch wohl noch immer und ganz altmodisch unerlässlich. Hier wurde ‑ wieder einmal ‑ arrogant darauf verzichtet. Allotria, erst recht 0-8-15-Allotria allein genügt nicht. Was nun die böse Frage aufwirft: Was soll das Theater?
Selbst das Gorki-Premierenpublikum, weit aufgeschlossen für alles, was sich da postdramatisch und um des bloßen Effekts willen spreizt, blieb ratlos zurück. It’s going to get worse. Oder?
Termin: Erstaunlicherweise erst wieder zur kommenden Spielzeit. Oder die machtvolle, autoritäre Intendanz cancelt.
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