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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 359

Kulturvolk Blog | Reinhard Wengierek

von Reinhard Wengierek

7. Juni 2021

HEUTE: 1. „Tartuffe oder das Schwein der Weisen“ – Deutsches Theater / 2. Shakespeare im Charlottenburger Globe / 3. Singsang im Hoftheater Berliner Ensemble 

1. DT draußen: - Mentalwolken über Ausstülpungen

Tartuffe © Arno Declair
Tartuffe © Arno Declair

Abendliche Konferenz der Wohlstandsfamilie Orgon draußen im Freien vor dem Portal des Deutschen Theaters. Die Stimmung nicht schlecht, okay, man hat ja alles, Sogar die DT-Immobilie. Doch echt ganz gut ist die Stimmung eben auch nicht; eher so mittel-okay. So mittel-ungeil. Was da fehlt, was nämlich alle längst überall und also auch hier bei den Orgons wollen, ist Vollgeilheit.

Doch wie soll das gehen, die grassierende Tendenz des Lebens, ja des Weltzustands zur fatalen Ungeilisierung umzukehren, um in den seligmachenden Zustand des Vollgeilen zu kommen? Das ist die brennende Frage aller, die sich trotz Reichtums langweilen im Mittel-, Halb- oder gar Ungeilen. Eine Frage, die der französische Barocktheaterfürst Molière so nicht stellte in seiner Komödie „Tartuffe oder Der Betrüger“, diesem Fünfakter in Versform, der religiösen Fanatismus, gesellschaftliche Verlogenheit sowie Gier nach Sex und Geld bloßstellt – vom Sonnenkönig prompt verboten.

Es ist vielmehr der deutsche Wortakrobat und Popmusiker Peter Licht, der Molière total übern Old-School-Haufen schmeißt und die komplexen Probleme ums Lügen, Betrügen, Manipulieren, Beherrschen, Verführen neu aufwirft – als Kampf des Geilen gegen das Ungeile. In seiner Farce „Tartuffe oder Das Schwein der Weisen“ suchen denn also mittelgeil dekadente Okay-Leute wie verrückt nach dem vollgeilen Kick.

Clan-Chef Orgon, genannt Orgi (Felix Goeser), tut das, indem er den vollgeilen Tartuffe, genannt Tüffi (Bozidar Kocevski), engagiert. Um ihn – okay! ‑ „als interessante neue Figur in den familiären Sozialbezug“ einzuführen. Der Rest der Familie (Regine Zimmermann, Natali Seelig, Koton Yang, Linn Reusse. Moritz Grove und Tamer Tahan), der freilich staunt nicht schlecht über diesen grunzenden Tüffi mit schweinisch phallokratischer Weltsicht.

Und ab sofort dreht sich alles an diesem knallbunten Abend (Ausstattung: Stèphane Laimé, Kathrin Plath) um die lüsterne Konkretisierung einer derartigen Sicht. Unter dem Schlachtruf „Penis als Chance!“ wird Teufelsbraten Tüffi die Orgi-Sippe – haha – „kontextualisieren“. Dafür organisiert er flink einen Workshop in „Tüffis School of Ausstülpung und inneren Frieden“. Der nun wird abendfüllend und „lifestyle-mäßig durchgelevelt“. Begleitet vom Geplapper, Geschnatter, Geschrei und Getrampel nebst soft rockigen Gesangseinlagen (Live-Musik Carolina Bigge). Bei den verbalen Erregungen über die – Tempo, Tempo! – Aus- und Einstülperei entweichen jede Menge „Mentalwolken“. Mit massenhaftem Einschluss von Zeitgeist-Sprech aus Social Media, Therapie, Soziologie, Politik. Mal voll witzig, mal auch nur halb. Unwitzig wird’s, wenn delirierende Wortverschraubungen und Phrasendreschereien in der Wiederholungsschleife feststecken. Bei allem Sommerspaß: Das ist unokay. Da hat Regisseur Jan Bosse vor Aufregung den Rotstift vergessen.

Kurz vor Schluss nach allzu langen 110 Minuten der abrupte Stopp vom Geilisieren, Kontextualisieren, Aus- und Einstülpen, Mentalwolken-Blasen und Okay-Machen: Tüffi wird – Überraschung! – als auch bloß vulgär kommerzieller esoterischer Sex-Schamane wahrgenommen. Doch das Honorar will man ihm dann doch gönnen und zahlt. War ja doch ganz lustig, lustig, tralalala. Was genau der Meinung des Publikums entsprach. Vollgeiler Applaus.

Termine im Juni, jeweils 20.00 Uhr. Ohne Test, mit Maske: 7., 15., 14., 16., 18., 20., 22., 26. 

Achtung! Kulturvolk hat für seine Mitglieder die Vorstellung am 14. Juni (20.00 Uhr) exklusiv gebucht. Kulturvolk-Service nimmt sofort Karten-Bestellungen entgegen.

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2. Theater draußen: - Shakespeare-Verrücktheit im Globe

Komödie der Irrtümer © Thorsten Wulff
Komödie der Irrtümer © Thorsten Wulff

Eigentlich brauchte man einen Drehsessel. Man sitzt inmitten vom Rund des Globe, dessen halbhohe Wand aus einem bizarren Gebirge aus verschachtelt montierten, nicht ungefährlich begehbaren Holzpodesten und Balken besteht. Es sind bereits eingelagerte Teile für den künftig kompletten Aufbau dieses Shakespeare-Theaters, das einst im Schwäbischen stand mittlerweile Stück für Stück nach Berlin geholt und peu à peu im Österreichpark in der Charlottenburger Sömmeringstraße aufgebaut wird – nun schon seit drei Jahren. Doch das „Oktogon“, ein achteckiges, hoch überdachtes Foyer für Gastronomie und Veranstaltungen im kleinen Rahmen, das steht schon. Insgesamt soll endlich anno 2022 das „Upcycling“ dieses elisabethanischen Spielhauses komplett fertig sein. Deshalb bis dahin jetzt zum dritten Mal – ein Aufgeben gibt es nicht! ‑ eine Prolog-Saison vom 3. Juni bis zum 18. September mit rund hundert ganz unterschiedlichen Partnern und Programmen ‑ Konzerte, szenischen Lesungen, Schauspiel.

Wir durften vorab schon mal kiebitzen in einer Probe der Neuproduktion von William Shakespeares „Komödie der Irrtümer“. Shakespeare ist schließlich der Hausgott der ambitionierten und wagehalsigen Open-Air-Bühne.

Doch „The Comedy of Errors“ nach einer Farce von Plautus aus vorchristlicher Zeit ist nun wahrlich nicht Williams wirkmächtigstes Werk. Das schier unendlich verworrene Opus – alles wild an Haaren und Bärten herbei gezerrt ‑ dreht sich um zwei Zwillingspaare, die sich nach einem Schiffsunglück verlieren, was eine elend verfilzte Kette aus Irrtümern und Missverständnissen, Verliebtheiten, Zänkereien und Verfolgungen auslöst. Bis schließlich – Ende gut, alles gut – das Chaos der Gefühle und Beziehungen sich auflöst. Und jeder in der bunten Schar der Beteiligten das bekommt, was passt.

Regie in dieser wortreichen Alberei führt Christian Leonard, der Initiator und Zampano des „Globe Ensembles Berlin“. Der jagt seine singende, Instrumente zupfende, blasende oder sonstig bearbeitende Schauspieltruppe schweißtreibend immer an der Wand lang rund um das Brettergebirge. Die Zuschauer werden sozusagen zu Drehwürmern, was ja immerhin warmhält. Trotzdem meine Sehnsucht nach einem Kreisel-Sitz, der macht ja auch Spaß. Zusätzlich zu dem, den man hat mit der geradezu akrobatisch halsbrecherischen Rundum-Hatz der kleinen Truppe in ihren vielen Rollen. Dazu der improvisierte Witz, den sie mit der Souffleuse haben bei Text-Hängern (wir sind ja Mäuschen auf der Probe). Diese unfreiwillig komische Show mit der Flüstertüte könnte man glatt und freiwillig und womöglich ein bisschen ins Absurde getrieben beibehalten für immer.

Termine: Shakespeare „Irrtümer“ 24.-27. Juni, 1.-4., 8.-11., 16., 17. Juli (!), jeweils 19.30 Uhr. 
Shakespeare „Der Sturm“ (Wiederaufnahme) 10.-13. Juni. 
Theatersport Berlin 7., 14., 28. Juni, 19.30 Uhr. 
The Swinging Hermlins 8., 15., 22., 29. Juni, 19 Uhr (!). 

Im August u.a.: „Maria Stuart“ von Schiller; „Romeo und Julia“ von Shakespeare; „Es lebe Europa“, zehn Kurzdramen von Paul Scheerbart 

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3. Theater draußen: - Zartes bis Hartes im BE-Hoftheater

Bonnie ohne Kleid – ein Liederabend mit Sina Martens © Annette Hauschild
Bonnie ohne Kleid – ein Liederabend mit Sina Martens © Annette Hauschild

„Mitmachen, Arsch retten, brutal sein, misstrauisch und hoffnungslos romantisch. Und niemals heimisch werden. Sobald es mir zu gut gefällt, kommt die Angst…“ Dann müsse man raus, fort, weiter, schreibt Benjamin von Stuckrad-Barre im autobiografischen Roman „Panikherz“ über seine früh schon ausgebrochene Gier nach Maßlosigkeit. Den dazu passenden Sound lieferte Udo Lindenberg.

Benjamin lustvoll im Höhenrausch wie im quälenden Elend. Und dauerhaft in Panik, voll von Verzweiflung und romantischer Sehnsucht. – Es war Oliver Reeses Antrittsinszenierung als BE-Intendant: Der Bestseller „Panikherz“ auf der Bühne, seit einigen Jahren schon, als Musical. Ein Dauerbrenner bis heute.

Jetzt im BE-Hof-Idyll unter hohen Bäumen eine Hitparade dieser hinreißenden Show mit den BE-Stars Nico Holonics, Bettina Hoppe und Paul Zichner sowie dem virtuos zwischen Hart und Zart, Punk und Sentiment mäandernden „Panikherz“-Orchester. Was für eine herzzerreißende Performance mit den tollen Liedtexten vom Pop-Poeten und noch dazu den fein verfremdeten Udo-Lindenberg- und Genesis-Hits.

Termin: 13. Juni, 16 Uhr. 

Und gleich noch ein heißer BE-Tipp: Sina Martens Liederprogramm „Bonnie ohne Kleid“ am 17. Juni, 18 Uhr. Es geht um „Abgründe des Daseins“. Und um das „donnernde Leben.“ ‑ Eine musikalische Tour von Hildegard Knef über Marie Biermann bis Sophie Hunger.

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