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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 357

Kulturvolk Blog | Reinhard Wengierek

von Reinhard Wengierek

21. Mai 2021

HEUTE: 1. Begegnungen seltener Natur ‑ Matthias Thalheims Berlintheater- und Lebensbuch, erster Teil / 2. Thalheim-Buch, zweiter Teil

1. Thalheim I: - Hoffmanns bummelletzte Emmissäre

Breunings Puppenspieler-Szenekneipe „Lampion“, Knaackstraße 54, anno 1995  © Regina Gleim
Breunings Puppenspieler-Szenekneipe „Lampion“, Knaackstraße 54, anno 1995 © Regina Gleim

Ha, was für ein herrlicher Kurzschluss ans Kindsein: Das Wort „Bummelletzter“. Seit längerem nicht mehr in Betrieb, beinahe vergessen, fand ich’s jetzt wieder in dem von herrlich oder auch bedenklich praller Daseinslust handelndem und deshalb beinahe unhandlich dicken, noch dazu in winziger Typografie gedruckten Lebensgeschichtenbuch namens „Fatzer im Radio“, das auch ein Berlintheater-Buch ist und von Matthias Thalheim in hinreißendem Sprach-Sound verfasst wurde. 

Man hätte sich seine so aufregend vielfarbig getönte Textsammlung von – Untertitel ‑ „Begegnungen seltener Natur“ (Verlag Neopubli Berlin) gut und gerne auch in zwei-drei Einzelbänden vorstellen können. Doch so ist es ein 400-Seiten-Dick-Buch, der Einband einladend in sommerlich warmem Hellrot. Für die Belebung stiller Stunden. Oder: Für Berührungen in melancholischen Momenten. 

Zurück zu „Bummelletzter“. Der so vieles sagende Begriff gehört ‑ bloß ein winziges Beispiel für Thalheims poetische Findigkeit ‑ zur sechsten von sieben Kapitelüberschriften. Sie lautet „E.T.A. Hoffmanns bummelletzte Emmissäre“. Und sie allein versammelt ein Dutzend Berliner Porträts. Zum Beispiel vom „großen Romantiker und winzigen Wander-Puppenspieler“ Klaus Breuing, der in seiner Werkstatt Knaackstraße 54 die mit Sonnenschirmen kuschlig dekorierte Kneipe „Lampion“ aufmachte. Als Heimstatt für „ums Glimmen besorgte Glühwürmer“. Und alle-alle, die Ruhm und Geld hatten, suchten, drauf pfiffen, mussten in die Knaack 54; ob Ensikat, Thierse, Renft, Hilbig oder Wawerzinek, ob Stern oder Schnuppe. 


Schwadroneurs-Staub in der Wirbelschleppe


Oder das spektakuläre Bild vom Architekten Gerd Pieper, einem Klassiker der neuerdings so genannten DDR-Moderne, dessen luftig elegante Bauten (Hotel Unter den Linden) die DDR nicht überleben durften; bis auf die Mauer um den Jüdischen Friedhof Weissensee, dekoriert mit einer Minora im Beton, die durfte weiterhin schützen. Oder das Bild vom Hörspiel- und Theaterdramatiker Werner Buhss mit „ordentlich Schwadroneurs-Staub in der Wirbelschleppe“, dem Feinstrich-Karikaturisten Henry Büttner, dem Siebdrucker Werner Slotta, den Maler-Grafikern Manfred Butzmann und Ursula Strozynski, in deren Werk Thalheim überraschenderweise „einen Taumel der Tiefe, eine herbstliche Trunkenheit der Ferne, eine Fallsucht zur Fläche, die Wehmut, den Horizont nicht erreichen zu können,“ entdeckt. 

Oder auch sein Porträt vom musikalischen Zickzack-Lebenskünstler Bodo Schmidt, Inspizient an der Oper. Von ihm wäre zu lernen, dass für die Planken des Bühnenbodens gern die am wenigsten knarrende Schwarzkiefer genommen wird. Weil sie die Löcher nach Herausdrehen der Bühnenbohrer wieder etwas heilen lässt, was man, so der Autor philosophisch, als Sinnbild für Bodos Sicht auf die Welt sehen möge. 


Oder das Bild von Günter Kotte, der es mit miserablem Facharbeiterzeugnis und abgebrochenem Abitur zum Diplom an der Filmhochschule schaffte – „ein nimmer versiegender Quell von Trost sind seine Werke nicht“, meint Freund und Kommilitone Thalheim. Sie seien vielmehr „Präludien in Lakonie und trotziger Behauptung des nicht summierbaren einzelnen Menschen“.


Verlorene und Verlassene, Witze-Pflücker und Laster-Genies


Mit „nicht summierbar“ hätten wir das Leitmotiv des schreibenden Menschenerkunders und Querköppe-Sammlers Matthias Thalheim, der in seinem prallen Buch eine Parade der denkbar unterschiedlichsten Lebensverläufe aufmarschieren lässt. Es mögen, man staune, ihrer hundert wohl sein, die es, wie auch immer, mit den Musen, den Träumen und Luftgeistern treiben und von ihnen getrieben werden. Kühne Dilettanten oder coole Profis, unverschämte Draufgänger, schüchtern Liebende, exzentrische Denker, Schwärmer, Verführer, Verlorene und Verlassene, Witze-Pflücker und Laster-Genies. Eben lauter Hoffmanns, lauter Bummler, Letzte, die trotzdem irgendwie auf ihre Art Erste sind. 

Matthias Thalheim, Jahrgang 1957, Sachse, studierte in Berlin Theaterwissenschaft bei den Professoren Münz, Schumacher und Fiebach, dem so besonders originellen Verfechter der „unreinen Wahrheit“. Schon im Studium galt Matthias, „belächelt als Radiot“, als schräger Vogel mit „Hörspielmacke“, wurde nach einschlägigen Assistenzen Dramaturg beim DDR-Rundfunk, später Hörspielchef beim Mitteldeutschen Rundfunk. 

Früher, also zu DDR-Zeiten, da hatte er zwangsläufig zu tun sowohl mit den Dummheiten der Zensur als auch mit der Klugheit gerade auch leitender Genossen. Die nämlich schützten den – eigentlich eine Unmöglichkeit! ‑ ewigen Nicht-Genossen mit Faible für die Irrgärten künstlicher Paradiese vor den bornierten SED-Kadern. Schätzten ihn und förderten.

Obendrein sorgten sie dafür, dass Borniertheit nicht überhandnahm in den Studios. Gerade auch wenn es höchst dramatisch und subtil psychologisch um die so genannten „aktiven Helden“ ging einschließlich ihres Scheiterns. Immerhin war es nicht selten ein gewagter Tanz auf Messers Schneide, derartige, dem sozialistischen Alltag vom Dramaturgen und Autor abgelauschte Figuren, sozusagen von Staats wegen über den Äther hinweg Gehör zu verschaffen.


*** 

2. Thalheim II: - Der besondere „Nalepasound“

Jutta Hoffmann mit Matthias Thalheim im Hörspielstudio 2, Funkhaus Nalepastraße, Juni 2007 © MDR/Klaus Winkler
Jutta Hoffmann mit Matthias Thalheim im Hörspielstudio 2, Funkhaus Nalepastraße, Juni 2007 © MDR/Klaus Winkler

Im Nachruf auf Thalheims langjährige Funk-Chefin Christa Vetter-Wischnewski, von deren Enkelin Maria W. stammt übrigens der schöne Dokfilm „Clärchens Ballhaus“ (abrufbar in der ARD-alpha-Mediathek), also in diesem so einfühlsamen wie lehrreichen Text bringt ihr „Zögling“ Thalheim das Originäre der auch im Westen geschätzten ostdeutschen Funkdramatik auf den Punkt: Diese nämlich habe „eine geiwisse Strenge der erzählerischen Kontur eingebracht ins oft so Formlose; und in die Beliebigkeit der Inhalte eine womöglich penetrant scheinende, aber von Herzen rührende Ernsthaftigkeit“. Aha, Ernst und Herz, das machte den so besonderen „Nalepasound“ aus (die Funkhaus-Adresse war Napelapastraße) – und obendrein übrigens in etwa auch das Beste der DDR-Theaterproduktion. Beides freilich unter maßgeblicher Beteiligung der Crème de la Crème des DDR-Hauptstadt-Theaters. 

Die füllte natürlicherweise Thalheims Fundus hautnaher Erinnerungen an jede Menge Theatertiere wie Jutta Hoffmann, Rolf Ludwig, Kurt und Heide Böwe, Benno Besson, Ursula Karusseit oder Manfred Krug. Und später, nach 1990, an Hannelore Hoger, Eva Mattes, Walter Schmidinger, Ilja Richter oder den 1999 kurz nach seinem 80. Geburtstag verstorbenen bedeutenden Hörbuchsprecher Horst Krüger – „das Mikrophon ist wie ein  Brennglas; man hört plötzlich, aus welcher unbewussten Tiefendynamik ein Text eigentlich kommt“. 

Dass zum großen Hör-Kunststück nicht nur große Sprecher, sondern noch große Regisseure gehören, auch davon erzählt Thalheim mit seinen Porträts der Altvorderen wie Gerhard Rentzsch oder Joachim Staritz, der, politisch äußerst umstritten, künstlerisch jedoch virtuos, ja geradezu genial war mit seiner erstaunlichen Musikalität und Leichtigkeit. 


DDR-Szene mit Vater Hans im VEB Farbenwerk Nerchau


Weil Thalheim Berufliches wie Privates verständlicherweise nicht zu trennen weiß, überlässt er uns Lesern die amüsant-erschütternde Grabrede auf seinen Vater Hans, Betriebsleiter im VEB Farbenwerk Nerchau. Eine arg lebendige DDR-Szene. 

Und: Wir erhalten, selbstverständlich, prägnante Einblicke in Ost- und West-Funkstudios (erst DDR-Berlin-Nalepastraße, dann MDR-Leipzig-Springerstraße). An dieser Stelle eine Exkursion ins Deutsche Rundfunkarchiv Potsdam-Babelsberg, wo die sagenhaften rund dreihundert Aufzeichnungen (1961-1991) von „Berlin – Weltstadt des Theaters“ lagern – eine Hommage auf die DDR-Kritiker-Legende Dieter Kranz. Ein Quell für Historiker; wer wohl schreibt endlich seine Biographie. 

Und so schmökern wir uns weiter durch Thalheims Reigen der seltenen, seltsamen Begegnungen wo auch immer. Vor allem auch in „alkoholhaltigen Häusern“ wie besagtem Lokal Lampion, dem Wiener Cafe, Lolotte, Trichter, Esso, dem Albrechtseck oder dem Dete-Keller (Souterrain Deutsches Theater). Oder, DDR-Hauptstadt-Sensation allein für Bevorzugte, im schick nostalgischen, einst von den Sowjets gegründeten Künstlerclub „Die Möwe“ im Ex-Bülow-Palais (heute Landesvertretung Sachsen-Anhalt). Öffnungszeit bis – wo gab’s das diesseits der Elbe ‑ früh um fünfe kleine Maus. 


Diese verrückte Suche nach Glück 


Matthias Thalheim, ein ernsthaftes Kind, aber keins von Traurigkeit, ist amüsierter, auch entsetzter, immer aber scharfsinniger Wahrnehmer (nebst anderen) seines Milieus – nicht bloß bei endlosen Bierglasgesprächen mit ersten wie späten, inzwischen auch verlorenen Kameraden, Kumpels, Kollegen. – Was sie alle verbindet? Die Leidenschaft! Und eine verrückte Suche nach Glück; oft bis an den Rand des Abgrunds. 

Das ist der Stoff, aus dem Thalheim schöpft, einst als Dramaturg, jetzt als Literat. Und so bildet diese Rückschau ein vielfarbiges Daseins-Kompendium dieses lustvollen, auch arg verwegenen Flaneurs und feinsinnig mitfühlenden Zeitzeugen. Sein Lebensbild also. Und ein gesellschaftliches dazu. Eine Kultur- und Mentalitätsgeschichte der DDR en miniature. Oder anders: Ein Ostberliner Boheme-Buch – mit diversen Schlaglichtern auf die einigermaßen neuen West-Zeiten danach. 


Mauer-Hopser Müller mit der Whiskyflasche 


Zurück zum Sächsischen. Einer der Berühmtesten, der dem südöstlichen Landstrich der DDR erwuchs, war Heiner Müller. Mit ihm, dem so sanften, unsportlichen Mauer-Hopser mit der Whiskyflasche in der Tasche, produzierte Thalheim anno 1987 nicht ganz ohne Probleme (Urheberrecht, Starallüren, Getränke) Brechts Dramen-Fragment „Fatzer“ fürs Hörspiel, was wiederum den – unnötigerweise – reißerisch werbewirksamen Buch-Haupttitel „Fatzer im Radio“ stiftet. 

Und so zitiert denn in diesem verrückten Report der whiskytrinkende große Sachsen-Raucher Müller in einer der vielen langen Aufnahmepausen im Friedrichfelder Hochhaus Erich-Kurz-Straße 9, 14. Etage, bei einer entspannten Herren Mitarbeiter-Rundfrage nach Metaphern für zwischenmenschliche Vögelei den sächsischen Volksmund, dezent unappetitlich, aber zutreffend: „Wolln mers Seechzeugs zsammstecken?“ 

Auch hier, zum Schluss, ein Kurzschluss ans Kindliche unsereins (der Autor dieser Zeilen stammt aus Dresden): Das Verb Seechen steht für Pinkeln. Dazu prompt, typisch Thalheim, eine philosophische Replik mit Blick auf den großen biertrinkenden Bayern-Raucher Brecht. Meinte der doch, dass „der abstruse Gedanke, den Menschen die Geschicke von Zeugung und Ausscheidung durch besagte Öffnung zu leiten, könne nur einem Gott eingekommen sein“. – Amen. 

Matthias Thalheim: Fatzer im Radio. Begegnungen seltener Natur. Verlag Neopubli Berlin 2020, Softcover, 428 S., 14,99 Euro 

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