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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 260

Kulturvolk Blog | Reinhard Wengierek

von Reinhard Wengierek

4. Juni 2018

HEUTE: 1. „Dr. Nest“ – Familie Flöz in Halle Ostkreuz / 2. „Elizaveta Bam“ – Studio Gorki Theater / 3. Kulturvolk-Theatergespräch auf Alex-TV / 4. Tipp: Sommerfest im Brecht-Weigel-Haus

1. Familie Flöz: - Spiel vom Verrückten, das in uns allen steckt

 © Valeria Tomasulo
© Valeria Tomasulo

Ist irgendwie irre: Da verhüllt ein Spieler sein Gesicht, seinen ganzen Kopf mit einer starren Form, sagen wir: einer Maske, nur, um damit eine besonders eindrückliche lebendige Figur zu schaffen. Freilich, schon die Verhüllung muss ein prägnantes Bild von der Figur geben. Hinzu kommt das gestisch genaue Spiel des Spielers, der ja ohne Sprache auskommen muss. Er macht sein Theater mit Mitteln, die vor der Sprache liegen. Die fünf Spieler Fabian Baumgarten, Anna Kistel, Björn Leese, Benjamin Reber und Mats Süthoff des Figurentheaters Familie Flöz arbeiten freilich nicht jeder für sich an ihren Figuren. Die längst in so ziemlich aller Welt bewunderten Stücke der berühmten Berliner Truppe entstehen vielmehr kollektiv; anders kann es gar nicht sein (auch deshalb: „Familie“). In Improvisationen umkreist das Ensemble gemeinsam sein Thema, sammelt dramatisches Material, lange bevor die Masken ins Spiel kommen und schließlich Maske(n) und Spiel(er) auf einzigartig spannende Art zur großen Kunstform Maskenspiel verschmelzen. Zu einem Gesamtkunstwerk, basierend auf einer ungewöhnlichen Story, die einen spielerisch-stimmungsstarken Stilmix aus Poesie, Tragik, Komik, Groteske bei präziser Zeichnung der Figurencharaktere provoziert; gestützt durch Sound-, Licht- und Video-Effekte sowie das die vielen Spielortwechsel markant skizzierende Bühnenbild. Das alles zeigt in faszinierender Vollendung die neue, in internationaler Kooperation entstandene Flöz-Produktion „Dr. Nest“ (Regie/Masken: Hajo Schüler, Michael Vogel; Bühne: Rotes Pferd/Felix Nolze).

 

Das Thema ist diesmal einigermaßen gewagt ‑ also passend für Flöz. Zugleich ist es jeden Menschen (graduell) betreffend: Dr. Nest ist nämlich, populär gesagt, ein Irrenarzt. Er kommt als Mediziner/Therapeut in eine geschlossene Anstalt. Diverse Fallstudien werden da demonstriert (starkes Können im Spiel), ohne auch nur einen Moment lang die auf den ersten Blick so seltsam, so aberwitzig oder schrecklich leidenden Figuren vorzuführen. Dieser Doktor Nest kommt ihnen, den extrem gegensätzlichen, eigenartigen Insassen, auf einfühlsame Weise näher und näher. Ja, er entdeckt bei ihnen eine gewisse zugegeben wundersame und wunderliche Seelenverwandtschaft (wie wohl das Publikum auch).

 

„Dr. Nest“ ist ein grandioses, schmerzliches und komisches, durchweg zartes und zärtliches Stück über Empathie ‑ selten zu sehen, bewundernswert. Ein beglückendes Ereignis.

(wieder am 8., 9., 10. Juni, 20 Uhr Halle Ostkreuz in Lichtenberg, Marktstraße 9)

 

Wer es noch nicht weiß: Die Ursprünge von Familie Flöz liegen in der Folkwang-Hochschule Essen, der einzigen staatlichen Bildungsstätte für „Bewegungstheater“ in Deutschland. Dort fand anno 1994 die Premiere von „Über Tage“ statt. Das Stück handelte von Zechenstilllegungen, war eine Hommage an die Bergbau- und Arbeiterkultur des Ruhrgebiets – daher der Name „Flöz“ (die Rohstoffe tragende Erdschicht). Es begann alsbald ein umfangreicher internationaler Gastspielbetrieb. 2001 ging Flöz nach Berlin; 2005 fand in Italien die erste Flöz-Akademie statt, in der bis jetzt 30 Theaterschaffende aus der ganzen Welt mit dem Flöz-Ensemble arbeiten. 2013 wird in Weißensee das Studio Flöz eingeweiht als „Produktions- und Kreationsstätte für internationales physisches Theater“.

2. Gorki Studio: - Gespenstisches Tollhaus in Sowjet-Absurdistan

 © Ute Langkafel Maifoto
© Ute Langkafel Maifoto

Was für eine schöne Idee: Daniil Charms im Gorki-Studio mit dem wunderbaren, herzergreifenden, unglaublich artistischen Exil-Ensemble Abu Khaled, Mazen Aljubbeh, Aram Tafreshian, Karim Daoud, Tahera Hashemi, Kenda Hmeinden. – Der russische Fantast Charms (1905-1942), von den Sowjets verfolgt und vernichtet als surrealistischer Stückeschreiber, der den stalinistischen Terror in märchenhaft überbordenden Parabeln bloßstellt, dieses poetische Großtalent (das erst in der Perestroika gedruckt wurde) ist noch heute ein fettes Futter für Performer mit expressionistisch wuchtiger Spielwut.

 

So eilt man mit beträchtlicher Neugier ins kleine feine Gorki-Studio, wo Regisseur Christian Weise Charms‘ anno 1927 geschriebenes Stück Elizaveta Bam inszenierte, das aus einer Folge von 19 Szenen besteht. In denen geht es unheimlich drunter und drüber. Wird doch die angstvolle, aber dennoch ziemlich taffe Elizaveta in ihrem gespenstisch gemütlichen Wohnkabuff unentwegt von den seltsamsten Besuchern irritierend heimgesucht. Oder von bewaffneten Schergen brutal verfolgt. ‑ Das aberwitzig verschachtelte, blümchenbunte Bühnenbild ertüftelte die großartige Julia Oschatz als schrilles Gleichnis für ein Tollhaus in Absurdistan (Kostüme: Pina Starke).

 

Christian Weise schüttelte jede Menge Regieeinfälle aus dem Hut; das geradezu akrobatische Exil-Ensemble mit dem Allround-Livemusiker Jens Dohle hat sie bis zur Perfektion einstudiert. Da wechseln brüllend alberne Momente mit bitter komischen. Gespenstisches Grauen und durch geknallte Komik fallen in eins. Wunderbar. Wenn, ja wenn die Regie nicht von jedwedem Sinn fürs Timing verlassen wurde.

 

Übrigens, zuletzt warf dieser Regisseur die musikalische Burleske von Marcel Schiffer und Mischa Spoliansky „Alles Schwindel“ auf die große Gorki-Bühne. Mit leider demselben Problem; was in dieser Breitwand-Revue nicht ganz so gravierend zu Buche schlug. Doch jetzt, bei Charms‘ Nummernzirkus pointierter Kurzszenen, da zerstörte das Breittreten eines jeden Gags, einer jeden Pointe das Ganze, machte es bei aller zirzensischen Agilität der tollen Akteure zäh und schwerfällig. Dabei wäre Schnelligkeit, Leichtigkeit, Hingetuschtes gefordert. – Es lohnte sich, die bitterböse Chose radikal zu straffen. Was für eine schmissig theatralische Kostbarkeit käme da unversehens zum Funkeln und Gleißen!

(wieder 9., 10. Juni)

3. TV-Rederei über Theater

 © Branka Pavlović
© Branka Pavlović

Heute, Montagabend, 20.15 Uhr, zum 46. Mal die „Montagskultur unterwegs“ von Kulturvolk live auf Alex-TV aus dem Studio in der Friedrichshainer Rudolfstraße 1-8 (Eingang Ehrenbergstraße); nahe S- und U-Bahnhof Warschauer Straße. Mit Alice Ströver sowie den Kritikern Arno Lücker und Stefan Kirschner. Der besondere Gast ist diesmal Susanne Chrudina, Leiterin Festival- und Programmkoordination Performing Arts Festival. Kritisch betrachtet werden die Premieren „Ballroom Schmitz – Ein Radioclub für Weltempfänger“ von Clemens Sienknecht und Barbara Bürk (Berliner Ensemble); „Die Rechnung“ von Clément Michel (Kleines Theater am Südwestkorso); „Semele“ von Georg Friedrich Händel (Komische Oper). Später auch im Netz auf YouTube.

4. Tipp: - Sommerfest bei Brechts

 © Wolfgang Frank
© Wolfgang Frank

Das elfte Sommerfest erinnert an die Eröffnung des Brecht-Hauses vor vierzig Jahren; damals ein geradezu staatstragender Akt – die DDR-Herrschenden schmückten sich gern als vorgetäuschte Freunde der Avantgarde mit Brecht & Co., ermöglichten aber auch (eher ungewollt) ein kritisches Diskurs-Forum, das weit über Literarisches hinaus ging.

 

So laden denn jetzt das Literaturforum im Brecht-Haus und das Bertolt-Brecht-Archiv zu Führungen durch die mit vielen originalen (!) Einrichtungsgegenständen und diversen edlen Möbeln vornehm bestückten letzten beiden Wohnungen des Ehepaars Brecht und Weigel ein sowie erklärenden Spaziergängen über den Dorotheenstädtischen Friedhof, zu Filmen, zu dem seltene Einblicke bietenden Offenen Archiv, zu einer Performance mit Leo Solter und Steffen Thiemann, zu Musik mit Bob Beermann & The Stormbirds, dem Singenden Tresen, dem Hanns-Eisler-Chor Berlin und Winnie Böwe sowie – witziges Extra – zu einer nächtlichen Geisterstunde auf dem Friedhof. Für Essen und Trinken sorgt die Weinwirtschaft; das einst so heftig frequentierte Kellerrestaurant mit Gerichten aus dem österreichischen Kochbuch der Helene Weigel existiert leider nicht mehr. Trotzdem ein feines Programm an historischem Ort: Sonntag, 9. Juni; 15-23 Uhr; Chausseestraße 125; U-Bahnhof Naturkundemuseum.

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