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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 258

Kulturvolk Blog | Reinhard Wengierek

von Reinhard Wengierek

22. Mai 2018

HEUTE: 1. „The Contemporaries – Im Hier und Jetzt (Volume 2)“, Gala Landesjugendballett an der Staatlichen Ballettschule Berlin – Volksbühne / 2. „Shakespeare's Last Play“ – Schaubühne / 3. „Pinocchio kommt...“ – Das Helmi/Ballhaus Ost

1. Volksbühne: - Tanz-Show der Stars von morgen

 © Johann Sebastian Haenel
© Johann Sebastian Haenel

Endlich mal wieder volle Volksbühne Berlin, und das Publikum total aus dem Häuschen. Ehrlich, seit langem war ich nicht so beglückt in einem Theater wie bei der Gala der Staatlichen Ballettschule Berlin – der jugendliche Elan und Charme, das aufblitzende frühe Virtuosentum, doch auch die geradezu kreatürliche Tanzlust verbunden mit einem heiligen Ernst, das alles macht einen Staunen und froh. Ist Spitze!

 

Doch was heißt da Gala, das klingt so unpassend nach Pomp. Es war schlicht eine hinreißende Show! Sie zeigte, was die Azubis alles (schon) können in einem mit pädagogischer Intelligenz, aber auch viel Witz komponierten Programm aus stilistisch-thematisch konträrer Arbeiten zeitgenössischer Choreographen internationalen Ruhms. Sie alle wirken – ein Hoch der Direktion! ‑ an dieser Schule.

 

Für solche besonderen Auftritte (jenseits diverser Bühnen- und TV-Praktika oder Wettbewerbsteilnahmen sowie einem internationalen Studentenaustausch-Programm) wurde eigens das „Landesjugendballett Berlin an der Staatlichen Ballettschule Berlin“ gegründet. Für jeweils projektbezogen zusammengestellte Schulensembles, die im nationalen und internationalen Rahmen Auftritte haben. Diesmal nun die Produktion „The Contemporaries – Im Hier und Jetzt (Volume 2)“, da besteht die Truppe aus geschätzt einem Halbhundert Schülerinnen und Schüler des ersten bis neunten Ausbildungsjahres. Gezeigt werden vier in sich geschlossene, aufregend spannungsgeladene, teils auch humorige Choreographien von Wayne McGregor (England), Mauro de Candia (Italien), Marco Goecke (stammend Wuppertal) und schließlich vom Künstlerischen Leiter der Schule Gregor Seyffert. Ihre Arbeiten repräsentieren das Dreigestirn klassisch, modern, experimentell. Schon dadurch wird signifikant: An dieser Schule mit Studierenden und Lehrkräften aus zwanzig Nationen herrscht, was sonst, wenn sich alles um die „Weltsprache Tanz“ dreht, ein weit offener Geist. Schuldirektor Professor Ralf Stabel besetzt seinen Lehrkörper mit internationalen, teils weltberühmten Fachkräften, was auf optimale Vernetzung, einen guten internationalen Ruf des Instituts und nicht zuletzt auf Mut und Fantasie schließen lässt. Das pädagogische Konzept setzt prononciert aufs Moderne, Zeitgenössische, freilich ohne das Klassische zu vernachlässigen und ermöglicht sowohl den Bachelor of Arts als auch das Abitur; wobei der Bachelor-Studiengang Bühnentanz ein in Deutschland einmaliges Erfolgsmodell ist. – Am Anfang steht ein Eignungstest (4. Klasse), dem folgt die Aufnahmeprüfung. Ab der 5. Klasse beginnt die neunjährige Ausbildung für gegenwärtig 98 Mädchen und 70 Jungen aus 27 Nationen. Nichtberliner werden im schuleigenen Internat betreut.

 

(Gala „The Contemporaries“ wieder am 27. Mai und 25. Juni, 19.30 Uhr, in der Volksbühne. ‑ Noch der Hinweis auf ein Extra: Das Landesjugendballett feiert in der Volksbühne seinen ersten Geburtstag mit einem tollen Tanzfest und glamourösen internationalen Gästen: Am 4. Juni!)

2. Schaubühne: - Abendmahl mit Shakespeares Leiche

 © Gianmarco Bresadola
© Gianmarco Bresadola

Mit roten Ohren rufen sie: „Wir wollen was machen, was die Leute noch nie gesehen haben!“ ‑ Da haben die beiden Engländer Bush Moukarzel und Ben Kidd schon mal den richtigen Ansatz: Sie wollen populär sein, wollen Publikum haben. Deshalb gleich Shakespeare, immer eine sichere Bank. Und schon zu Beginn ein staunendes Ah und Oh in der Schaubühne: Sie präsentiert sich, getaucht in kühles trübes Licht, als herrlich leere Scheibe ‑ die Bild gewonnene große Verheißung. Dann – Überraschung! ‑ klappt die Scheibe wundersam auf, wie der Deckel einer Puderdose. Zum Vorschein kommt Sandstrand mit Steinen und Wasserloch. Und oben, im Innern vom Aufgeklappten, ein Screen: Der Einsatz von Mapping-Technologie für die digitale Anzeige dessen, was unten analog mit den Schauspielern sowie, um es gleich zu sagen, bloß ein bisschen Shakespeare passiert.

Dorthin, nämlich in den Sand vom öden Strand, hat es das Personal von Williams letztem Stück „Der Sturm“ gespült. Als Schiffbrüchige nach einem schweren Sturm. Den hatte der königliche Inselherrscher und Zaubermeister Prospero entfacht aus Rache für einst erlittene Demütigungen durch seinen politischen Gegner, der zugleich sein Bruder ist (ein übles Machtspiel als Vorspiel der Geschichte). Doch Prospero nebst einigen anderen Figuren haben unsere beiden flotten Jungregisseure gleich mal flink gestrichen aus dem Personenverzeichnis ihrer extrem freien, als „Shakespeare’s Last Play“ firmierenden Paraphrase auf „The Tempest“.

 

„Der Sturm“ ist ein böses und zugleich zutiefst humanes, höchst seltsames, schier unerforschliches poetisches Märchenspiel um Enttäuschung, Rache, Gnade, Verzicht, Alter, Jugend, Macht, Ohnmacht, Unterwerfung, Befreiung, Verirrung und Einsicht, Liebesnot und ‑ Liebesglück. O, dieser alte William, schwebend in schier überkomplexer Weltweisheit! Und schwelgend in einer blumigen Liebeserklärung an das unverwüstliche Theater.

 

Die talentvollen Burschen aus Dublin und London lieben ihn ganz offensichtlich. Indem sie am Ende ihrer Kurzfassung der komisch-grotesken Mär die vom Winde aufs öde Eiland Illyrien Verwehten und vor Hunger Verzweifelten kräftig im Sand buddeln lassen. Hervor kommt Shakespeares Leichnam, den sie in ihrer existenziellen Not schließlich – um zu überleben – verfuttern. Oder, anders gesagt, sich einverleiben als rettende Speise. Was für ein Finale! Was für ein Sinnbild Shakespearscher Art! Und dieser irre Einfall ist wohl auch der ganze Grund für das ganze stürmisch-witzige Shakespeare-Kabarett…

 

Aber ach und überhaupt: Diese Schiffbrüchigen! Diese unfreiwilligen Insulaner. Zunächst versuchen sie ihr Strand-Glück mal mit Sex, dann mit Liebe, dann mit beidem (die süß sexy Jenny König, der sexy athletische Mark Waschke). Die daneben Gestrandeten (und Traumatisierten?) wuseln eher orientierungslos umher: der notorisch jammernde Alonso (Thomas Bading) , die tantenhafte Antonia (Nina Kunzendorf) mit ihrer aasigen Lust, den blöden Gonzales (Moritz Gottwald) zum Mord an Alonso zu drängen (auf Befehl des leider überhaupt nicht auftretenden Übermackers Prospero). Die Trümmerstücke vom Rest des Stücks kommen nicht sonderlich logisch zusammen. Unwichtig: Es geht letztlich um die (auch selbstironische) Leichenfledderei im Schlussbild.

 

Mithin bleiben bei den beiden sympathischen Briten die dem ganzen Stück komplex immanenten philosophisch-moralisch-psychologischen Befindlichkeiten kess beiseite. Das ganze wehe, auch überkomplexe Fantasy-Ding interessiert sie kaum. Vielmehr wird es zum Anlass genommen für ein paar Fragen sowie witzige Mapping-Spielchen und einige allerdings sehr feine Schauspieler-Nummern mit Sandwerfen, Wasserplanschen, Leichezerlegen.

 

Zu den Fragen: Warum derartige Seltsamkeits-Schwerverständlichkeits-Stücke überhaupt heutzutage noch vorführen? Warum überhaupt Shakespeare, Drama, lineare Geschichten, Verwandlungsspiel? Antworten gibt es natürlich keine. Es sei denn, man nähme das grundsätzlich Unorthodoxe dieses immerhin kurzweiligen Abends, seine charmante Leichtigkeit, seinen Schauwert und die komödiantische Spiellust der Akteure für eine Antwort – Theater als tolle Unterhaltung. Und das kannibalische Finale als Sinnbild für ein überlebenswichtiges Nahrungsmittel Marke „Shakespeare“. Dann aber, nach der Atzung, ein letzter Gag: Die fünf nunmehr Gesättigten stecken die Köpfe in den Sand – und verschwinden drin. Licht aus.

 

Der immerhin nicht zimperliche Jahrtausendautor, dem nichts Menschliches fremd war und für den fließendes Menschenblut zwingend zum dramatisch-poetischen Geschäft gehörte, der mag über diesen kindlich-windigen Scherz grinsen, mit dem er hier gegrüßt und gefeiert wird mit dem landesüblich schwarzen Humor.

 

„The Tempest“, Shakespeares letztes Stück, bleibt zwar ungespielt, überwältigt aber als wüste Strand-Show unterm Motto „Last Play“ mit ab- und hintergründig gewitztem, obendrein horriblem Abendmahl. Shakespeares mundgerecht zerfetzter Kadaver ist Brot und Wein in einem. Immerhin: Auf diese Wahnsinnspointe muss man erst mal kommen! Oder steht etwa so was schon irgendwo bei Shakespeare…?

(wieder 22., 23., 24., 25., 26., 27. Mai)

3. Das Helmi: - Kindischer Mummenschanz


Klein gedruckte Ansage: „Nicht geeignet für Kinder und Jugendliche.“ – Oho, da hat das Berliner Figurentheater „Das Helmi“ wohl Verwegenes vor mit seiner Adaption der abenteuerlichen Mär vom Burschen Pinocchio, die sich der italienische Autor Carlo Collodi um 1881 ausdachte zur Belustigung und Belehrung der lieben Kleinen. Das Buch von der sprechenden Holzpuppe, die sein „Vater“ Geppetto aus einem Kiefernscheit schnitzte, wurde ein Welterfolg, massenhaft adaptiert (allein 27 Verfilmungen zwischen 1911 und 2015) und theoretisch analysiert (Bezüge zur Jesus-Legende bis hin zu Tolstoi oder italienischen Modernen wie Manganelli, Tabucchi, Eco). Diese drei übrigens plädierten dafür, Pinocchios Tour de Force durch eine gefährliche Fantasy-Welt nicht als Kinderbuch zu lesen, sondern als poetisches Gleichnis gegenwärtiger Menschen- und Weltzustände. – Deshalb vielleicht Helmis „Pinocchio“ nur für Erwachsene.

 

Tatsächlich, das aus der Schnitzwerkstatt getürmte Bengelchen erlebt viel Schlimmes: Hunger, drohenden Feuertod, Beinahe-Hinrichtung, Seenot, Lüge, Diebstahl, Gefängnis, Flucht, Kampf mit einem Riesenhai – und immer wieder Angst, Schrecken, Schmerz und Not. Ein wildes Kerlchen, vom Kampf ums Überleben gepeitscht – bis er schließlich, bei Helmis kaum belichtet, ein ehrlicher, fleißiger guter Junge wird aus Fleisch und Blut. Sozusagen die Auferstehung aus dem Holz, die Menschwerdung nach schweren Prüfungen.

 

Das alles wäre eigentlich zumutbar zumindest für Jugendliche, die sich längst mit viel härteren Sachen vergnügen im Netz und im TV. Wäre da nicht der PR-Text, der verkündet, man müsse sich Pinocchio als „Bruder aller Unterprivilegierten (Stricher, Sexarbeiter, Geflüchtete, Illegale) in einem italienischen neorealistischen Film – Pasolini! ‑ vorstellen, der heute in Berlin spielt“. P. als ein Junkie „ohne Ausbildung, Moral, Status, ohne Firewall gegen Arschlöcher, der bei der Drogenfahndung im Mauerpark erwischt wird…“

 

Auch das ginge an für Jugendliche (freilich nicht für Kinder). Das Jugendensemble des Deutschen Theaters Berlin beispielsweise hat es soeben vorgeführt mit der Inszenierung des drastischen Jugendbuchs „Tigermilch“ von Stefanie de Velasco. – Nicht das Thema ist hier bei Helmis das Problem, sondern dessen Umsetzung. Die ausgewählten Szenen aus dem dicken Kinderbuch-Klassiker sind derart dekonstruiert und nur in vagen Andeutungen skizziert, dass keiner sie ohne Quellenstudium versteht. Helmis pantomimisch verpuppte, eiernde „Pinocchio“-Umkreisung ignoriert Handlung; kriminelles Großstadtmilieu ohnehin – und tröstet mit ein paar hübschen Liedchen. Übrig bleibt ein Märchenspuk, der das Pausbäckig-Neckische noch unterstreicht durch eine aufwändige Paraphrase auf die prall gefüllte Augsburger Puppenkiste. Von existenziellem Überlebensdrama keine Spur.

 

Dafür hinreißende, meist aus Schaumstoff raffiniert geborene, höchst kunstvolle Puppenfiguren, dem Helmi-Markenzeichen: Fuchs, Katze, Taube, Grille, die fleißigen Bienen, der Feuerfresser, die Frau mit den blauen Haaren (mit leider fataler Anspielung aufs Nuttige) und das alberne fette Weib aus des Tischlers Werkstatt – alle diese köstlich gebauten Figuren betören für sich genommen, erzählen aber nichts von Vorgängen. Auch die Hauptfigur mit Kürbiskopf, traurigen Augen und spitzer Nase nicht. So wirkt alles zusammen (mit Ayam Am, Katharina Meves, Emir Tebatebai, Felix Loycke und Florian Loycke als künstlerischem Leiter) wie ein Mummenschanz im Zauberwald; irgendwie kindlich, aber ins Nirwana performt.

 

Vor gut einem Jahr gastierte das Helmi gleichfalls im Prenzlauer Berg-Offbetrieb „Ballhaus Ost“ mit der Seltsamkeits-Show „Fatrasien. Ein Unsinnswelttheater“. Da war die Truppe ganz bei sich, mit dieser philosophisch getönten Melange aus Märchen, kicherndem Nonsens, vagem Hintersinn und absurder Spielerei; prallvoll mit optischen Sensationen und ohne Handlung. Wie Kunst und Leben, wie Wahn und Wirklichkeit zart oder drastisch sich vernebeln, das wird assoziativ angedeutet, hingehaucht. Eine Großartigkeit, die aus (scheinbar?) schamlos naivem Dilettantismus erwuchs. Alles taumelte ‑ wie lax aus dem Ärmel geschüttelt ‑ ins Verstiegene, gar für überraschende Momente ins Bedeutende. Da passten Idee und Form. Diesmal passt nichts – verstiegener Anspruch, verwuselte Form. Doch Fantasy-Stories erzählen etwas, haben Handlung, brauchen stringente Dramaturgie sowie starke Bilder. Herrliche Puppenbau-Fantasie allein genügt nicht.

(Wieder am 23., 24. Mai im Ballhaus Ost; Pappelallee 15.)

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