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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 255

Kulturvolk Blog | Reinhard Wengierek

von Reinhard Wengierek

30. April 2018

HEUTE: 1. Zum 55. Berliner Theatertreffen: „Partisan. Die Volksbühne 1992-2017“ – Filmvorführung im Haus der Berliner Festspiele, dazu der Buchtipp: Ein Paperback mit Castorf-Interviews / 2. Theatertreffen medial / 3. Verdi-Tage – Deutsche Oper

1. Castorf-Spiele im Theatertreffen-Kino: Den Arsch hinhalten - auch eine alte Tradition

 © Thomas Aurin
© Thomas Aurin

Schauspieler Henry Hübchen, Castorf-Star der frühen Jahre, erklärt schlüssig, worauf man sich einzustellen hat, will man Inszenierungen von Deutschlands berühmtestem Regisseur Frank Castorf gucken – neuerdings jenseits der Berliner Volksbühne, dafür in gefühlt allen größeren Städten deutscher Sprache: Es sei wie im Fußball, sagt H.H. „Auch wenn Castorf-Spiele ein wenig länger als 90 Minuten gehen, würde man beim Fußball niemals das Zuschauen abbrechen, nur, weil das Match zwischendurch bloß so vor sich hin plätschert. ‑ Könnte ja ein Tor fallen.“ Auch für Castorf-Sport gelte die einzig wahre Fanhaltung: „Bleiben. Durchhalten. Dann wird’s Genuss!“

 

Das Durchhalten heißt neuerdings, was anfangs nicht so war, mindestens acht Stunden. Gilt mittlerweile als Kult. Ohne Sitzfleisch kein Genuss. Gigantische Überforderung vor, auf und hinter der Bühne ist mittlerweile zum (ätzenden) C-Prinzip geworden. So geht es einem ja immer mit ihm: Er betört; und er geht auf die Nerven. Ob freilich seine Acht-Stunden-Spiele selbst hartgesottene Castorf-Liebhaber künftig bei der Stange halten, bleibt abzuwarten. Doch gegenwärtig und erst recht nach Castorfs von der Kulturpolitik verordnetem Volksbühnen-Abgang im Sommer letzten Jahres ist Frankie auf der absoluten Höhe seines Ruhms; sogar bei Leuten, die es ansonsten nicht länger als 100 Minuten-Kinolänge im Theater aushalten. So lässt er sich emmungslos (bis hin zur Vergötterung) feiern: Ein junger Wilder, aus dem kein alter Milder (66) wurde – man muss ihn lieben.

 

Das tut anrührend hingebungsvoll der Castorf-Kinofilm „Partisan“ (Regie: Lutz Pehnert, Matthias Ehlert, Adama Ulrich; Kamera: Wolfgang Gaube; Musik: Moritz Denis). Den aufrührerischen Titel spendierte der Bewunderte höchst selbst mit einem Zitat: „Theater ist der letzte Partisan, es muss aus dem Hinterhalt schießen.“ ‑ Wohin? Natürlich mitten hinein in die Gesellschaft. Wohin sonst (übrigens, jeder wahre Künstler zielt genau dorthin). Martin Wuttke sagt es schlichter: „Wir kannten nur eins: Haut se, haut se, immer auf die Schnauze!“ – Doch das kennen sie ja so oder so glücklicherweise bis heute.

 

Frank Castorfs weltweit Epoche machende Schläge in seiner Zeit als Volksbühnen-Chef (1992-2017) blättert dieser Film genussvoll auf, garniert mit Witz und frechem Charme. Immerhin, erinnert sich Sophie Rois, „war Anfang der Neunziger, als wir hier anfingen, alles für alle nur Dreck“ (so sind halt Anfänge). ‑ Alexander Scheer, der einst als 16-Jähriger die „Räuber von Schiller“ sah, erinnert bloß „einen Haufen Schwerstgestörter. Die machten unglaublich Druck auf der Bühne. Die meinten irgendwas verdammt ernst. Aber was?“ ‑ Nun, es war die Wut auf eine schnöde Welt und der Traum von einer besseren, was alle Welt alsbald kapierte und begeisterte.

 

Aber nicht nur. Denn Castorfs immer auch wieder vorkommendes Hauen und Stechen an der Schnauze des Publikums vorbei ins Leere oder hochmütig ins elitär Verstiegene, sonderlich in der flauen Überdruss-Zeit des Volksbühnen-Jahrzehnts zwischen 2005 und 2015, das blendet der Fan-Film natürlich aus. Das große dialektische, theaterwissenschaftlich fundierte Castorf-Volksbühnen-Bild wäre mithin noch zu zeichnen.

 

Jetzt also Leinwand-Lorbeer satt. Bewunderung, gestützt durch Beobachtungen bei der ungeahnt nervenzerfetzenden Regie-Arbeit (vornehmlich am vermächtnishaften „Faust“-Monstrum). Und natürlich durch die Fülle der Inszenierungs-Schnipsel aus einem Vierteljahrhundert Castorf-Volksbühne. Dazu gehören unbedingt auch Castorfs von ihm mehr oder weniger geliebte Kollegen, die er angeblich generös machen ließ („Loofen lassen!“) – was wir nicht ganz glauben wollen. Hier die wichtigsten Namen derer, die bei ihm durften: Marthaler, Kresnik, Schlingensief, Pollesch, Fritsch, Hartmann, Haußmann oder Gotscheff. Szenenausschnitte bilden eine faszinierende Revue der Gegensätzlichen. Auch: der dem Chef Entgegengesetzten, was für dessen Toleranz hinsichtlich stilistischer Vielfalt spricht.

 

Auf der stalinistisch breiten, blümchenbemusterten Couch im Parkettfoyer, die zur sowjetisch inspirierten Original-Nachkriegs-Wiederaufbau-Ausstattung gehört (Dercon hatte sie als letzte Amtshandlung flink stylish dunkelrot beziehen lassen), da auf dem Polster hockt also – was für eine Versammlung! ‑ ein Teil der großen Castorf-Familie zum grüblerischen Abfeuern liebevollster Statements auf des Meisters Ruhmesblätter in der europäischen Theatergeschichte: Angerer, Rois, Stangenberg, Fritsch, Hosemann, Hübchen, Scheer, Wuttke oder Bühnenarbeiter und Souffleuse. Da bekommt auch der Unkundige eine Ahnung davon, was dieses Theater ausgemacht hat. Nämlich nicht allein Star-Dust, Bilderschlachten, Textorgien, Popkonzerte, Sportwettkämpfe, sondern auch eine durchweg grandiose handwerkliche Meisterschaft – beispielsweise der bis heute autonomen Werkstätten (doch wie lange noch?). Oder die schrittweise Entwicklung des furiosen Video-Einsatzes. Oder das Volksbühnen-Design von Bert Neumann einschließlich des Räuberrad-Logos, das als meterhohe Skulptur vor der Fassade auf dem Rasenstück des Rosa-Luxemburg-Platzes fest verankert wurde und nach Castorfs Abgang nur mit schwerer Technik abzubauen war. Jetzt liegt das anarchisch-kraftvolle, eiserne Symbol der Rücksichtslosigkeit wie der Sehnsucht nach Gerechtigkeit gut verpackt in einem Depot.

 

Sophie Rois, aus Österreich kommende Königin im Castorf-Imperium, erklärt aufgeregt ein vermeintliches Paradoxon und sagt: „Wir sind die Traditionalisten!“ Frank sei ein echter Theatermann, der tolle Geschichten erzähle. „Aus Blut, Schweiß, Sperma, Kacke.“ Doch er wisse immer um Wirkung. „Es mag ja sein, dass wir hier unsere Ärsche zeigen, doch der König hat bei ihm stets die Schlusspointe. Auch ich, falls aufgetreten als Königin, hatte immer das letzte Wort. Traditionsgemäß. Wer wenn nicht wir sind also die Traditionalisten im Betrieb.“ ‑ Da staunste…!

(am 9. Mai, 20.30 Uhr, Haus der Berliner Festspiele, Bornemann Bar)

 

Frank Castorf: „Am Berliner Ensemble ist die Idee des Spiels neu und anders wichtig geworden. Der Satz aus den 1920er Jahren ‚Bitte mehr guten Fußball im Theater!‘ heißt ja, sich mehr um die Spieler zu kümmern. Das Spiel ist der Kern des Theaters. Mein großes Vorbild war das BE in der Zeit von Ruth Berghaus und Einar Schleef. Da bin ich jetzt angelangt. Ich kann mit den Schauspielern anknüpfen an das, was ich selbst erfahren habe und was in Vergessenheit gerät, weil es vielleicht nicht mehr gut zu verkaufen ist. Das ist meine Aufgabe: Das, was ich weiß, weiterzugeben.“ – Das diktierte Frank Castorf im November 2017 ins Mikrophon seines Gesprächspartners, dem Journalisten Peter Laudenbach. Da war F.C., der hier aus einer gewissen Verbitterung keinen Hehl macht, seit drei Monaten nicht mehr Intendant der Volksbühne und probte am BE „Les Miserables“. Schon damals sah er hellsichtig das künftige finanzielle Desaster seines Nachfolgers an der Volksbühne voraus.

 

Laudenbachs zahlreiche Interviews zwischen 1996 bis 2017 mit F.C. (beide einvernehmlich im Geiste) erschienen kürzlich gesammelt unter dem trefflich den Zeitgeist aufspießenden Titel „Am liebsten hätten sie veganes Theater“ im Verlag Theater der Zeit (142 Seiten, 15 Euro). Erfrischende Lektüre als Ergänzung zum Film mit höchst bedenkenswerten Ein- und Ansichten; dazu sarkastischem Spott über unheilvolle Deformationen im Politik- und Theaterbetrieb. „Politisch korrekte Meinungen dienen nur zur Stabilisierung der eigenen Lebensqualität.“ – Castorf.

 

Theatertreffen: Seine knapp siebenstündige Volksbühnen-Inszenierung „Faust“ nach Goethe, verstanden als monumentales Drama des europäischen Bürgertums, gibt es noch ein letztes Mal, aufwendig mit einer halben Million Extra-Geld aus Lottomitteln finanziert, zum Theatertreffen im Festspielhaus am 1. Mai (18 Uhr, Voraufführung) sowie am 5., 7., 8. Mai jeweils 18 Uhr. Die Vorstellung zur Theatertreffen-Eröffnung am 4. Mai ist ausverkauft.

2. Tipp Theatertreffen medial

 © Sandra Then
© Sandra Then

Von den zehn von einer Jury erwählten Theatertreffen-Einladungen sind drei (leider nur drei) bei freiem Eintritt zum Public Viewing im Sony Center am Potsdamer Platz zu sehen. „Die Odyssee. Eine Irrfahrt nach Homer“, Regie Antú Romero Nunes, Thalia Theater Hamburg, am 11. Mai, 18-19.50 Uhr. – „Trommeln in der Nacht“ nach Bertolt Brecht, Regie Christopher Rüping, Münchner Kammerspiele, am 12. Mai, 16-18 Uhr. – „Woyzeck“ von Georg Büchner, Regie Ulrich Rasche, Theater Basel, am 13. Mai, 16-18.55. Uhr.

 

Dieselben Stücke gibt es auch für zu Hause im Fernsehen auf 3sat, jeweils 20.15 Uhr: „Woyzeck“ am 5. Mai, „Die Odyssee“ am 12. Mai und „Trommeln in der Nacht“ am 19. Mai.

3. Deutsche-Oper-Tipp: - Verdi-Festival

 © Bernd Uhlig
© Bernd Uhlig

Was für ein Programm! was für eine logistische, was für eine künstlerische Herausforderung für jedes Opernhaus, das sich mutig einer solch immensen Aufgabe stellt: In dreieinhalb Wochen, zwischen dem 3. und 27. Mai gibt es sechzehn Vorstellungen von sechs Verdi-Opern (alle im Repertoire des Hauses) in jeweils erstklassigen Besetzungen und spannenden szenischen Deutungen: „Rigoletto“, „Ein Maskenball“, „Der Troubadour“, „La Traviata“, „Don Carlo“, „Nabucco“. Noch dazu ein Konzert mit Ausschnitten aus „Otello“, „Simon Boccanegra, „Luisa Miller“. Mit Angela Gheorghiu und Samir Pirgu (25. Mai). ‑ Ein schier sensationelles Verdi-Kompaktprogramm; eine seltene Gelegenheit, diesen ganz Großen des musikalischen Dramas derart konzentriert zu hören und zu sehen. Ein kostbares Geschenk der Deutschen Oper an ihr Publikum – und letztlich an sich selbst, denn mit solchen Großereignissen wächst letztlich ein solches zentrales Institut.

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