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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 220

Kulturvolk Blog | Reinhard Wengierek

von Reinhard Wengierek

19. Juni 2017
HEUTE: 1. „Phädra“ – Deutsches Theater / 2. Hundert Jahre Werner Klemke, Grafiker, Buchkünstler, Berliner. Erlesene Ausstellung, erschütternder Film – Galerie Helle Panke / 3. Zum 5. Todestag der großen Münchner Schauspielerin Doris Schade

1. Deutsches Theater - Verbotene Liebe, Tragik, Pathos und feine Komik

 © Arno Declair
© Arno Declair

Was soll man da sagen: Eine Stiefmutter, die verrückt ist nach dem Stiefsohn… Kommt vor, ist aber streng verboten. Doch das Unerlaubte kitzelt besonders, heute wie einst, als Euripides seine Tragödie „Der bekränzte Hippolytes“ schrieb, die etwas später der französische Klassizist Jean Racine auf seine Art, nämlich in hohem Ton und steiler Vers-Sprache, überschrieb. – Neuer Titel: „Phädra“ ; Uraufführung 1677 in Paris.

 

Ein gutes Jahrhundert später übersetzte der deutsche Klassiker Friedrich Schiller das wegen seiner raffiniert gedrechselten Sprache als unübersetzbar geltende Werk seines französischen Kollegen und formte 1806 aus dessen gereimten Alexandrinern reimlose Blankverse – gleichfalls ein wuchtiges, enorm verdichtetes, wie in Marmor gemeißeltes Sprachkunstwerk.

 

Das Stück steht in mehrfacher Hinsicht unter Höchstspannung: Nämlich die zwischen der strengen Form der Sprache und der darin verhandelten Gefühlsraserei. Die wiederum gibt es gleich zweifach. Einerseits die verbotene Liebe der königlichen Phädra (Corinna Harfouch) zu ihrem Stiefsohn Hippolyt (Alexander Khuon), die dieser, ein Spross aus Vaters erster Ehe, nicht erwidert, weil er schwer verliebt ist in Aricia (Linn Reusse), eine Staatsgefangene aus dem feindlichen Geschlecht der Pallantiden. Doppelt vertrackte, unmögliche Liebes-Lage: Sie vermag nichts weniger als die Staatsraison zu untergraben.

 

Das bislang von Stiefsohn und Stiefmutter qualvoll unterm Deckel gehaltene „Wahnsinnstoben einer Liebensglut“ explodiert, als die Nachricht vom Kriegs-Tod des Königs, Vaters, Ehegatten (Bernd Stempel) eintrifft und Phädra nunmehr dem Hippolyt voll seliger Verzweiflung ihre Liebe offenbart, derweil Hippolyt gegenüber Aricia endlich das gleiche tut, was sie glücklich macht – im Gegensatz zu Phädra.

 

Doch Fake-News: Der kriegerische Chef ist nicht tot, kehrt heim, die familiäre Disziplin wird zwanghaft wieder hergestellt – durch Beschweigen der „Probleme“. Die freilich weiter ungelöst bleiben, bleiben müssen (das Inzest-Verbot, das Kontakt-Verbot zum feindlichen Lager). Ausweglose Lage. Das Drama endet zwangsläufig tragisch: Im Suizid von Phädra und Hippolyt.

 

Was für ein Extrem-Konstrukt aus Leidenschaft, Hingabe, Schuld, Lüge, Moral. Besonders interessant dabei die zwielichtige Rolle der Phädra-Vertrauten Oenone (Kathleen Morgeneyer), die wohl auch verliebt ist in ihre Herrin und sie nicht frei von Eifersucht, aber auch um der „Ordnung“ willen schamlos zur Lüge verführt. Sie soll ihrem heimgekehrten Gatten frech erklären, Hippolyt sei es, der ihr derart unerlaubt nachstellt.

 

So zugespitzt, so fremd und fern die Story im Einzelnen auf den ersten Blick auch scheint, so ist sie doch allgemein menschlich. Zugleich jedoch ist das exzessive Menscheln in eine artifizielle Form gegossen, vor allem eben durch Sprache – der „edle Ton“, der schon Schiller und noch dazu Lessing kritisch dreinschauen ließ und irritierte, aber auch faszinierte. Ein wahrlich tolles Kunst-Stück.

 

Der unauflösliche Widerspruch zwischen Herz und Kopf macht Regisseur Stephan Kimmig die Sache nicht leichter. Sein intelligenter Coup: Er versetzt das ganze cool geformte Heiße in ein Labor zur Beobachtung und Analyse menschlicher Affekte; man könnte auch meinen, in eine grellweiß aseptische Gummizelle, in der Extremverhalten beobachtet wird (trefflich das Szenenbild von Katja Haß).

 

So bekommt ein jeder der fünf Akte via Video ganz sachlich eine Überschrift. „Kapitel eins: Out of Order“; dann weiter die Kapitel „Freiheit“, „Gesetz“, „Chaos“, „Tod“. Und quasi als Vorspann, Vorwort, Motto der Demonstration des Experiments über Macht wie Ohnmacht exzentrischer oder eben unlebbarer Gefühle leuchtet an der Labor-Wand ein Spinoza-Zitat: „Unter Affekten verstehe ich die Affektionen des Körpers, durch die das Tätigkeitsvermögen des Körpers vergrößert oder vermindert, gefördert oder gehemmt wird.“

 

Dementsprechend unterschiedlich ist denn auch das Spiel der sagen wir Probanden zwischen Vergrößerung und Verminderung des körperlichen Tätigkeitsvermögens. Pathetisch erstarrte Posen wechseln mit gellenden Ausbrüchen, mit eisiger Beherrschung, angstschlotternder Nervosität, aufgesetztem Gleichmut, Raserei und Tobsuchtsanfällen.

 

Die Balance gelingt überwiegend. Nur gelegentlich wirkt manche Aktion des stilisierten Körpertheaters oder des psychologischen Einfühlens als etwas zu viel. Köstlich und zugleich erhellend wiederum ist das feinnervige Changieren zwischen ironischer Distanz, Komik, heiligem Ernst, Pathos. Da gibt es starke Momente, aber auch wieder befremdlich flapsige. Schiller hätte die nicht unbedingt jedermann packende, aber doch für jeden mit sensiblen Sinnen höchst interessante Sache wohl amüsiert durchgewunken; Lessing eher nicht.

 

Doch steifes Deklamationstheater oder gar hysterisches Dauer-Rasen wären auch keine Lösung; heutzutage erst recht nicht. Deshalb das Einlassen auf die alles in allem letztlich gekonnt durchexerzierte „Balance“ der leiblichen Affektionen. So fügt sich das bizarre Ganze, wie sich’s ziemt für Laborversuche, zu einer distanzierten Draufsicht auf dieses Menschen-Chaos, entfacht vom Terror der Triebe, der Begierden, der Glückssehnsucht und unauflöslich eingefasst vom Terror der Ratio.

(wieder am 27. Juni)

2. Helle Panke - Klemke – ein Held und ein Herr, Künstler, Charmeur, Lebemann

 © Katja Rehfeld
© Katja Rehfeld

Bussum ist ein Nest 20 Kilometer östlich von Amsterdam. Dort wurde, es war im Sommer vor sechs Jahren, per Zufall das vor den Nazis versteckte Archiv der Jüdischen Gemeinde dieses Städtchens entdeckt. Die Dokumente umfassen vollständig einen Zeitraum von 150 Jahren; einschließlich der gesamten Korrespondenz aus dem Zweiten Weltkrieg. Aus diesen Dokumenten konnte die Filmregisseurin Annet Betsalel die erstaunliche Geschichte zweier Wehrmachtssoldaten zu Tage fördern – Johannes Gerhardt und Werner Klemke. Mit lebensgefährlichem Risiko retten sie das Leben von Mitgliedern der jüdischen Familie van Perlstein, indem sie falsche Papiere für sie anfertigen; beide sind ausgebildet im grafischen Gewerbe. Zusammen mit den Perlsteins halfen Gerhardt und Klemke auch weiterhin, Dutzende Menschen vor der Deportation durch die NS-Besatzer zu bewahren. – Gerhardt fiel 1944; Klemke überlebte Krieg und Internierung, kehrte heim in seine Geburtsstadt Berlin und wurde einer der berühmtesten Grafiker und Buchkünstler der DDR; seine erotischen Titel-Zeichnungen über Jahrzehnte hin für die DDR-Monatsillustrierte "Das Magazin" sind bis heute in ihrer Art einzigartig und ein Sammelobjekt für Kenner und Liebhaber.

 

Über seine todesmutigen Rettungsaktionen als Dokumentenfälscher – gemeinsam mit Johannes Gerhardt – hat Werner Klemke zu DDR-Zeiten öffentlich nie gesprochen. Erst durch den Dokumentarfilm von Annet Betsalel zwei Jahrzehnte nach Klemkes Tod (und sieben Jahrzehnte nach dem qualvollen Sterben von Johannes Gerhardt) wurden die von den beiden organisierten Rettungsaktionen verfolgter Juden in Holland publik.

 

Annet Betsalel: „Ich wollte mit meinem Film ‚Treffpunkt Erasmus – Die Kriegsjahre von Werner Klemke‘ vor dem Hintergrund des zweiten Weltkriegs und des folgenden Kalten Kriegs eine Geschichte erzählen von heldenhaftem Kampf gegen Ungerechtigkeit, von einer großen Liebe zu Büchern und von engen Freundschaften mit den Geretteten, die ein Leben lang hielten“.

 

Betsalels bewegender, ja erschütternder Film voller Unglaublichkeiten, Bitterkeiten und Schönheiten wird im Beisein der Regisseurin am 28. Juni in der von der Rosa-Luxemburg-Stiftung betriebenen Galerie Helle Panke gezeigt. Im Rahmen einer kleinen großartigen Grafik-Ausstellung mit Klemke-Arbeiten aus den Privatsammlungen von Annet Betsalel, André Eckardt, Hans Hübner und Roland R. Berger. Anlass ist der 100. Geburtstag des bedeutenden Künstlers, des großen Menschenfreundes und hinreißenden Humoristen, geistreichen Charmeurs, witzigen Erotikers und eleganten Lebemanns.

(Die Ausstellung „Werner Klemke zum 100. Geburtstag“ ist noch bis zum 1. September zu sehen. Der Dokfilm „Treffpunkt Erasmus“ läuft am Mittwoch, den 28. Juni, 19.00 Uhr. Galerie Helle Panke, Kopenhagener Straße 9 /U-Bahn Schönhauser Allee.)

3. Denn alle Lust will Ewigkeit - Gedenken an Doris Schade

Alles fing von Grund auf im Theater an für die Tochter eines Ingenieurs aus Thüringen: Doris Schade war gerade 18, als sie am Alten Theater Leipzig die Schauspiel-Ausbildung aufnahm. Für zwei Jahre, weil mitten im Krieg (1942-44). Das Debüt dann später, 1946, in Osnabrück als Schillers Luise. Es war der Start in eine Karriere, die sie über Engagements in Bremen, Nürnberg, Frankfurt/Main nach ganz weit oben vorantrieb. Es war Fritz Kortner, der so überaus Wählerische, so genau und tief Lotende, der meinte: Die Schade passe genau in sein Kostbarkeits-Ensemble an den Münchner Kammerspielen. So begann 1962 als Desdemona (Rolf Boysen war Othello) ihre einzigartige Freundschaft mit dem Schwierigen. Er war der Regisseur, der sie besonders prägte dabei arbeitete sie mit fast allen wichtigen ihrer Zeit. Sie machte eigentlich alles; von Klamotte bis Tragödie.

 

Doris Schade war eine begnadete Verwandlungsvirtuosin; aber niemals Spieldose eines technischen Perfektionismus. Und sie war eine klassisch Konservative; also jemand, der das tradiert Gute seines Metiers bis ins Feinste beherrscht und tapfer hoch hält. Zugleich war sie, überrumpelnd für engstirnige Traditionalisten, erstaunlich weit offen für Neues; für junge Dramatik, für ungewohnte Spielformen.

 

Den Kammerspielen lebenslang treu (vom Ausreißer ans Hamburger Schauspielhaus abgesehen), avancierte Doris Schade zur allseits gefeierten Grande Dame des Münchner Theaters. Privat war sie, wie viele sagen, ladylike in vornehm gelassener Zurückhaltung. Das schließt vorurteilsfreies Interesse, ja herzliche Geneigtheit dem anderen gegenüber ja nicht aus. Die vielfach hoch Geehrte gab nie die Hohe Frau des Diventums. Gewiss, sie war ein Solitär. Aber mit Kollektivgeist und, ja doch, mit Dienstleisterdisziplin – wie sich’s gehört.

 

Die Schade war ein geheimnisvolles Wunderwesen. Und saftige Erdarbeiterin. Ob Satansbraten, Waschweib, Muttertier, ob Zimtzicke, Dame, Göttin – sie konnte alles; auch Kino (mit Fassbinder, mit von Trotta oder in TV-Krimis). Sie blieb bei all dem doch frappierend nüchtern: „Ich bin weniger unglücklich, wenn ich spiele“, sagte sie zum 80. Geburtstag. Vor fünf Jahren, am 25. Juni 2012 verstarb Doris Schade mit 88 Jahren daheim in München. Zuletzt sahen wir sie dort in Franz Wittenbrinks melancholisch-frechem Singsang „Denn alle Lust will Ewigkeit“. Sie war die verhuschte „Friedhofsgängerin“. Und summte entrückt den Stones-Brüller „I can’t get no satisfaction!“. Unvergesslich.

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