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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 88

Kulturvolk Blog | Reinhard Wengierek

von Reinhard Wengierek

26. Mai 2014

Theater im Palais


„Heute kam der Liebesbrief: ‚Sie haben sich am 23. Nov. 1915, vormittags 8 Uhr, auf dem Hof des Bezirkskommandos IV zu stellen!‘ Da haben wir den Salat.“ - Adolf Nieke in seinem Kriegstagebuch.

 

„Wir mussten über eine Flussbrücke, die dauernd von Russen mit Granaten überschüttet wurde. Es war ein fürchterlicher Höllenlärm; ich stolperte, sah und erschrak: es war ein toter Russe ohne Kopf. - Adolf Troegner in einem Feldpostbrief 1915.

 

 

Was für ein Zufall! Im gelegentlichen Gespräch unter Kollegen fanden die beiden Berliner Schauspielerinnen Gabriele Streichhahn und Franziska Troegner ganz beiläufig heraus, dass Adolf Nieke aus Friedrichshagen (Köpenick), geboren am 21. Juli 1887 in Ermsleben/Harz, der Urgroßvater von Gabriele, und dass Adolf Troegner aus Oberschöneweide, geboren am 18. Juni 1879 in Neurode/Schlesien, der Großvater von Franziska, dass die beiden Männer Kriegstagebücher führten, die, zusammen mit der Feldpost und Fotos, von ihren Nachfahren gehütet wurden wie ein Schatz. Der wird nun, aus gegebenem Anlass, nämlich dem Gedenken an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs vor hundert Jahren, von den Nachfahren Streichhahn und Troegner im kleinen Theater im Palais in die Öffentlichkeit gehoben – Motto: „Tagebuch im Sturmgepäck“.

Es sind fürs Private bestimmte Berichte, teils komisch, teils auch grotesk, überwiegend aber entsetzlich und grauenvoll. Sie erzählen vom Alltag in der Etappe und an der Front und gelegentlich auch vom Leben der (zuletzt hungernden) Familien daheim in Berlin. Sie berichten von quälenden Strapazen, von elenden Märschen (teils 50 km am Tag mit 35 kg Gepäck), von Not und Krankheit, vom Sterben und Überleben. Und so zeichnen sie ein sehr konkretes Bild vom Alltag des Krieges, den man den Ersten Weltkrieg nannte. Und dem, als der in aller Welt gellende Ruf „Nie wieder!“ verhallt war, alsbald ein Zweiter Weltkrieg folgen sollte…

A. Troegner, Drogist und später AEG-Angestellter (er starb 1935), wurde gleich in den ersten Kriegstagen eingezogen, kam im Osten zum Einsatz; A. Nieke hingegen musste sich erst bei einer Nachmusterung 1915 stellen und wurde in den Westen kommandiert, er war Buchbindermeister mit Werkstatt und Papierwarenladen und starb 1968. Beide Adolfs waren verantwortlich für Munitionsnachschub, hatten also viel mit Transportpferden und deren Versorgung zu tun. Und beide überlebten glücklicherweise ihre Höllen und konnten unverletzt heimkehren zu ihren Familien nach Oberschöneweide, Schillerpromenade, oder nach Friedrichshagen ins Papierwarengeschäft.

Die saftigen, sehr detailreichen Aufzeichnungen der beiden Großväter nahmen ihre beiden Enkelinnen zur Grundlage für eine packende (Kriegs-)Geschichtslektion „von unten“. Von zwei Kriegern, die sehr lebendig aufscheinen in diesen Dokumenten, weil sie sehr direkt über das Auskunft geben, was längst historisch – und dennoch virulent ist in der Welt („Menschen vollkommen zerrissen; Tote wie gesät“).

 

Das freilich Besondere daran ist, dass es Familienangehörige der Zeitzeugen sind, die uns das dokumentarische „Material“ ihrer Ahnen vortragen – und: dass es obendrein Schauspielerinnen sind, die eindrücklich sprechen und obendrein dem Ganzen noch persönliche Bemerkungen einflechten, was die Sache umso aufregender macht. Ergänzt werden die Vorträge durch musikalische Assoziationen vom Klavier (die wunderbare Pianistin Ute Falkenau!) sowie einige bestürzende literarische Zitate etwa von Hugo von Hofmannsthal, Stefan Zweig, Ernst Jünger, Gerhart Hauptmann, Käthe Kollwitz, Rosa Luxemburg. Und an der Videowand sehen wir Fotos der beiden Adolfs – in Uniform und mit Kriegskameraden sowie in Zivil und mit ihren Frauen, Familien, Kindern, Freunden.

„Tagebuch im Sturmgepäck“ ist also ein sehr intimer Abend – und zugleich übergreifend ins ganz Große. Liebevolle Erinnerung, Klage und Anklage kommen da unversehens zusammen. Eine seltene Mischung; großartig, aufrüttelnd, das Herz ergreifend.

 

(Wieder am 3. und 14. Juni; nach der Sommerpause am 6. und 13. August.)

Theatertreffen Nachklapp

Im letzten Spiral-BLOCK war schon die Rede vom bevorzugten Interesse der Festival-Jury für „performative und installative“ Spielformen (die Hälfte der eingeladenen Produktionen sind keine Stücke, sondern Romanadaptionen, Tanz oder Textcollagen). Handwerklich perfekt gemacht war das sonderlich zu erleben etwa bei „Onkel Wanja“ (Regie Robert Borgmann) vom Staatstheater Stuttgart sowie bei „Fegefeuer in Ingolstadt“ von den Münchner Kammerspielen (Regie Susanne Kennedy, die dafür den mit 10 000 Euro dotierten 3Sat-Preis für eine „richtungsweisende innovative Leistung“ bekam).

Das Problem: Spätestens nach einer halben Stunde schon ist die „installierte“ Grundaussage klar: Die in beiden Stücken vorgeführten Menschen sind durch unauflösbare gesellschaftlich-ideologische Bande gefesselt und psychisch deformiert und rotieren also um sich selbst wie der gefangene Hamster im Rad. Die Figuren „performen“ (oder abstrahieren) sich unentwegt als neurotische Hampelmännchen und Sprechapparate (mit extrem eingedampftem Text) in einer eisig-düstereren Untergangsstimmung. Für den Moment frappierend, schockierend, überwältigend, dann aber rasch und zunehmend langweilend als blutleeres Theater. Das ist nicht abendfüllend! Und ich denke: Ohne ein gewisses Maß an auch für eher Unkundige also für Normalverbraucher nachvollziehbarer Handlung, ohne ein gewisses Maß an Einfühlung und erzählendes Figurenspiel geht es nicht, sondern führt theatralisch in die Sackgasse.

 

Dort steht dann – in den gegebenen Extrem-Fällen aus Stuttgart und München entweder die starr-plakativ komprimierte Idee von einem Stück („Fegefeuer“). Oder eine opulente szenische Materialschlacht (Onkel Wanja“), die freilich auch wieder nur die eine komprimierte Idee vom Stück, also eine Abstraktion, illustriert. Das immerhin hat einen etwas größeren, weil spektakuläreren Unterhaltungswert als die trocken-minimalistische „Fegefeuer“-Askese.

Solcherart Spielweisen mögen als ästhetisch extrem avancierte Einzelfälle interessant sein (sonderlich für Freaks). Werden sie dominierend im Theaterbetrieb, sieht es mau aus für dessen Zukunft. Einem breiten Publikum nämlich dürften sie sich in ihrer verfremdenden Abstraktion kaum erschließen.

 

Zum Schluss eine spitze Bemerkung übers 51. Theatertreffen: Viel Lärm, allerhand Gewusel, hohe Kosten, kaum wirklich Bemerkenswertes, viel Kopfschütteln. Man kann nur staunen, wie die Jury tickt.

David Superstar im Gropius

Er ist der Großmeister eines gigantischen (Welt-)Theaters: David Bowie; geboren in London vor 67 Jahren als David Robert Jones. – Der hatte eine wenig glückliche Kindheit, fand in der Musik Trost und Kraft und die Möglichkeit zur Flucht nach vorn ins abenteuerliche, wilde Leben.

 

Bowies Kunst-Prinzip ist: Überrumpelung des Publikums durch immerwährende Wandlung. Theaterästhetisch gesehen (s. Nachklapp Theatertreffen!): die Synthese von Einfühlung und Abstraktion. Bowie nahm sich die Freiheit zur immerwährenden Selbstneuerschaffung. Und sagt: „Kunst ist immer unscharf. Es gibt keine einzig richtige, sondern nur verschiedene Deutungen.“ Eine uralte Weisheit Kunst ist Spiel.

Bowies mannigfaltige Spielarten (auch privat, jenseits der Arenen) werden jetzt im Martin-Gropius-Bau illustriert in einer prachtvollen, aufschlussreichen Ausstellung, einem Gastspiel des Londoner Victoria and Albert Museums. Selbstredend ist da auch die Rede von Berlin, von den 14 Monaten zwischen 1976 und 1978, als David, nach gefährlich entgrenzenden Drogenexzessen in Los Anegeles, Zuflucht fand in der Schöneberger Hauptstraße 155, im damals ummauerten, eingegrenzten Westteil der Stadt. Außerdem interessierte ihn an Berlin nicht nur das popartistisch wie sexuell und alternativ-politisch aufgeladene Kreuzberger Labor SO36 (nebst deren Queen Romy Haag), sondern vor allem der verflossene Kulturbetrieb in den Zeiten der Weimarer Republik, dessen Exzesse und avantgardistische Erfindungen diesen phänomenalen Katalysator der Moderne.

Ein interessantes Detail der tollen Schau: ein „Verbasizer“, von dem sich der Texter Bowie seit Mitte der 1990er Jahre inspirieren lässt. Das Ding zerlegt Sätze nach dem Zufallsprinzip in immer neue Sätze, was, so Bowie, „Traumzustände“ erzeuge – eine Grundlage fürs Dichten.

 

Noch ein Tipp: Der 15. Juni ist Bowie-Gedenktag; da gibt es im Haus der Berliner Festspiele u.a. einen Bowie-Lookalike-Wettbewerb und ab 16 Uhr eine Bowie-Gala mit massenhaft Bands und Popartisten aller Arten.

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