0
Service & Beratung: (030) 86009351
Kulturvolk Magazin

Kulturvolk-Bühnenkritik Nr. 531

20. Oktober 2025

HEUTE: 1. Deutsches Theater – „Der Fall McNeal” / 2. Kabarett Stachelschweine – „Zu Risiken fragen Sie Ihre Nebenwirkungen“ / 3. Wintergarten Varieté – „Flying Lights“

1. Deutsches Theater - Künstler und Künstliche Intelligenz

"Der Fall McNeal" im Deutschen Theater © Thomas Aurin

Künstliche Intelligenz geht uns alle an. Ob wir sie mögen oder verteufeln. Deswegen spielt „Der Fall McNeal“ nicht wie vorgegeben in „sehr naher Zukunft“. Die technische Revolution hat unseren Alltag längst erreicht. Als „Stück der Stunde“ wurde das Künstlerdrama des US-Amerikaners Ayad Akhtar bei der Uraufführung am Broadway vor einem Jahr gefeiert. Der mehrfach ausgezeichnete Dramatiker hatte sich zwei Jahre lang mit den Möglichkeiten der Textproduktion mittels KI befasst. Er trifft auch jetzt im Deutschen Theater den Nerv der Zeit. Dass die Aufführung ein Erfolg wird, liegt aber weniger am Stück als am Hauptdarsteller Ulrich Matthes.

Am Anfang blicken wir auf einen Computer-Desktop. Ob Jacob McNeal den Nobelpreis für Literatur erhalten könnte, schreibt da jemand an den KI-Assistenten. Die Antwort folgt in der nächsten Szene, im kühlen Licht einer Praxis. Dort wirft man dem Patienten McNeal vor, erneut mit dem Saufen angefangen zu haben, bald seien die Leber und damit sein Leben futsch, so die Ärztin (Julia Gräfner). Gründe für sein Laster weiß der Schriftsteller genug, schließlich hat er vor kurzem seine Frau durch Suizid verloren. Da erreicht ihn ein Anruf aus Schweden: Er erhält den Nobelpreis!

Der Dichter ist auf dem Gipfel des Olymps, doch schnell erfolgt der Absturz. Bei der Nobelpreisrede hat er noch angeprangert, dass sich Kollegen von Chatbots und anderer Künstlicher Intelligenz helfen ließen. Schnell stellt sich heraus, dass der Verteidiger der wahren Kunst da keine Ausnahme macht.


Lockerer Ton vom Broadway


Das ist streckenweise richtig lustig, zumal Akhtar mit den Mitteln des Konversationsstücks zu Werke geht. So inszeniert es auch András Dömötör. Die Bühne von Ann-Christine Müller und Julia Plickat hingegen ähnelt dem Inneren eines Rechners, Video und Licht (Zsombor Czegliédi und Matthias Vogel) schaffen darauf ein bisweilen spektakuläres digitales Universum, das auch die Rauschzustände des durch Suff und Tabletten in den Wahnsinn abgleitenden McNeal abbildet.

Das Stück bietet das Psychogramm eines Betrügers. Seine Frau, die einen unveröffentlichten Roman geschrieben hatte, trieb er in den Selbstmord, um anschließend das Buch unter seinem Namen zu veröffentlichen. Ein Roman aus weiblicher Perspektive, wie genial! Anders als die Literaturagentin (Anja Schneider) durchschaut sein Sohn Harlan (Andri Schenardi) den väterlichen Narzissmus. Eine Redakteurin (Evamaria Salcher), mit der er ein Verhältnis hatte, wurde zur Abtreibung gezwungen. Gegenüber einer afroamerikanischen Reporterin (Mercy Dorcas Otieno) gibt sich der Nobelpreisträger auch noch rassistisch.

Kurzum, alles was in woken Zeiten ein echtes Scheusal ausmacht, verkörpert Ulrich Matthes. So stehen in den sieben Zweierszenen Gut und Böse von Beginn an fest. Spannend ist der Kampf, den McNeal mit sich selber führt, ein sterbender Mann auf der Suche nach Wahrhaftigkeit, im Leben und in der Kunst. Dass er angesichts der neuen digitalen Gewalt auf verlorenem Posten ringt, lässt uns, trotz allem, mit ihm mitfühlen.

Deutsches Theater, bis 25. Dezember. Hier geht’s zu den Karten.

***

2. Stachelschweine - Unsterblichkeit für alle

"Zu Risiken fragen Sie Ihre Nebenwirkungen bei den Stachelschweinen © Christoph Assmann

Was wäre, wenn, sinniert der Bundeskanzler. Wenn Frau Merkel das aufstrebende Talent aus dem Sauerland vor mehr als zwei Jahrzehnten nicht in die politische Versenkung gedrängt hätte. Dann wäre Deutschland heute ein Land, wo Milch und Honig fließt. Wo jeder Bürger seine Steuererklärung auf einem Bierdeckel vergessen könnte. Stattdessen erlebten wir bleierne Zeiten, erst unter Merkel, dann mit der Ampel. Während Friedrich Merz sein Dasein in Aufsichtsräten fristen musste. Und jetzt, wo er endlich das Land retten darf, macht ihm trotz Sondervermögen sein Koalitionspartner, dieser Lars Klingelbeutel, das Regieren madig. Nichts funktioniert. Keine Vision wird auch nur ansatzweise in die Tat umgesetzt. Nur die Agrardieselrückvergütung, die hat geklappt.

Es ist einigermaßen genial, wie Robert F. Martin in Bewegung und Tonfall den stocksteifen Sauerländer auf die Bühne bringt. Dieser Kabarettist kann Kanzler. Dass sich aus der Tristesse im neuen Stück der Stachelschweine ein turbulentes Spiel entwickelt, ist pharmazeutischen Einflüssen zu verdanken. Zwei junge Biologinnen an der FU haben im Labor eine Pille entwickelt, die ewiges Leben verheißt. Zwar wurde die Medizin bislang nur an sechs Mäusen erfolgreich getestet. Aber man kann sie ohne lange Probephase durchaus an den Menschen bringen. So was hat ja schon mal geklappt.

„Zu Risiken fragen Sie Ihre Nebenwirkungen. Wie Friedrich Merz das Land rettete“: Die Autoren des neuen Stücks, Stachelschweine-Chef Frank Lüdecke und Sören Sieg, gehen nach bewährtem Muster vor. Man entwickele eine abstruse Idee und wende sie dann auf die abstruse politische Lage an, in Deutschland, der Welt – und immer wieder mit kleinen Spitzen gegen Berliner Kalamitäten. So macht das Elend Spaß. Rasant in Szene gesetzt von Marcus Karloff und mit einem Trio auf der Bühne, das spielend, singend und tanzend alle Register zieht und keine Angst vor Klamauk kennt. Erneut wechseln Santina Maria Schrader, Heike Ostendorp und Robert F. Martin in Rekordtempo die Rollen, sogar die Kulissen schieben die Darsteller selber.


Entführung mit der BVG


In Windeseile hat die Kunde von der Erfindung der Unsterblichkeit nicht nur Elon Musk, sondern auch die politischen Machtzentren von Washington bis Pjöngjang erreicht. Man macht den beiden Biologinnen millionenschwere Avancen. Merz sieht Handlungsbedarf und lässt die Wissenschaftlerinnen festsetzen. Dummerweise durch die Bundeswehr, deren Fuhrpark dem Hauptstadtverkehr nicht genügt. Weshalb die Entführung mit Öffentlichen Verkehrsmitteln von statten geht, O-Ton einer Geisel: „Es war die Hölle!“

Gerade mal sieben Pillen des Wundermittels „Merzosan“ stehen anfangs der gesamten Menschheit zur Verfügung. Das ist nicht viel! Die Entscheidung darüber, wer die glorreichen Sieben sein sollen, die für den Fortbestand der Welt unerlässlich sind, bestimmt fortan die Handlung. Wobei natürlich auch auf Diversität geachtet werden muss.

Die stärksten Momente hat das Kabarett im Europa Center, wenn die Medien und die Verschwörungstheorien in den Sozialen Netzwerken ins Spiel kommen. Da kommt einem so einiges bekannt vor. Dass die omnipotente Pille dann doch noch in Massen lieferbar wird, bringt unser Land nicht weiter. Auf die Idee, dass Untersterblichkeit für alle nicht nur das Rentensystem überfordert, schlicht unfinanzierbar ist, kommt am Ende sogar der Kanzler. Kein Rambo Zambo also. Nur musikalischer Trost von Herbert Grönemeyer: „Deutschland schafft es irgendwie“, heißt der finale Song. Mit der Betonung auf „irgendwie“.

Stachelschweine, bis 30. Dezember. Hier geht’s zu den Karten.

***

3. Wintergarten  - Wie man gemeinsam abhebt

"Flying Lights" im Wintergarten Varieté © Ben Duentsch

Es werde Licht. Ob Spotlight, archaische Flammen oder modernste LED-Beleuchtung, ob Schatten oder gar Düsternis: Alle Facetten der lebenswichtigen elektromagnetischen Spannung lassen die „Flying Lights“ im Wintergarten erleuchten. Für diese „Fusion aus Licht und Bewegung“ arbeitete das Varieté nach dem Erfolg von 2022 erneut mit den Flying Steps zusammen, den weltweit gerühmten Straßenartisten aus Berlin, die heute Deutschlands größte Schule für urbanen Tanz betreiben.

Die Absolventen der Flying Steps Academy haben schon Bach und Mozart mitfliegen lassen, mit Mussorgskys Musik den Hamburger Bahnhof bespielt oder hoben an der Volksbühne ab. Da mag es fast profan anmuten, wenn die kunstaffinen Breakdancer mit Artisten des Varietés auftreten. Doch das Konzept im Wintergarten geht wieder mal voll auf. Wunderbar werden in der Show die Grenzen zwischen Tanz und Akrobatik verschoben, dürfen Artisten mittanzen im Ensemble oder umgekehrt ein Tänzer mit Unterstützung der gelernten Fachkraft per Seil nach oben schweben. So zaubern Wintergarten-Regisseur Rodrigue Funke und Vartan Bassil von den Flying Steps mit dem Choreografen Jeffrey Jimenez aus einer Nummernrevue hochkarätiger internationaler Zirkuskünstler eine delikate Melange zwischen den Genres.

Nicht nur Artistik und Tanz, auch die Geschichte des Kinos wird zitiert, von Harry Potter zurück zu den Gebrüdern Skladanowsky in die Frühzeit, als gerade in Berlin die Bilder laufen lernten. Auf der Wintergarten-Bühne lernen die Menschen fliegen, unfreiwillig wie der Fliegende Robert aus dem Struwwelpeter, aber ganz oft gekonnt und bewusst wie Jeka Dehtiarov an seinem 15 Kilo schweren Metallring oder die wunderbare Rousavy an den Strapaten. Die 19-jährige frischgebackene Absolventin der Staatlichen Artistenschule Berlin ist ein weiteres Beispiel, wie man nicht nur glanzvolle Acts einkauft, sondern selber sensationelle Künstlerinnen und Künstler fördert.


Seifenblasen und heiße Öfen


Eine gelungene Kombination aus Jonglage und Musik bieten die Canaval Twins, Kegel und Keulen schwirren nicht nur durch die Lüfte, sondern werden schlagkräftig neben Drums und Cello als Instrumente eingesetzt. Selbst traditionelle Darbietungen wie die Hula-Hoop-Künste von Geraldine Philadelphia oder Seifenblasen-Clown Darren Burell bekommen hier noch mal den besonderen Kick, ganz zu schweigen von der rasanten Elektro-Motorrad-Nummer im Käfig mit den VR Universal Drivers, die bereits in der letzten Show dabei waren (mehr dazu in der Kulturvolk-Bühnenkritik Nr. 513 vom 17. März 2025). Sei es bei den Akrobaten oder bei den tänzerischen Darbietungen, sei es solo oder im Ensemble: Man staunt und fragt sich, wie machen die das bloß? So soll es sein.

Wintergarten Varieté, bis 30. Dezember. Hier geht’s zu den Karten.

Verwendung von Cookies

Zur Bereitstellung des Internetangebots verwenden wir Cookies.

Bitte legen Sie fest, welche Cookies Sie zulassen möchten.

Diese Cookies sind für das Ausführen der spezifischen Funktionen der Webseite notwendig und können nicht abgewählt werden. Diese Cookies dienen nicht zum Tracking.

Funktionale Cookies dienen dazu, Ihnen externe Inhalte anzuzeigen.

Diese Cookies helfen uns zu verstehen wie unsere Webseite genutzt wird. Dadurch können wir unsere Leistung für Sie verbessern. Zudem werden externe Anwendungen (z.B. Google Maps) mit Ihrem Standort zur einfachen Navigation beliefert.

  • Bitte anklicken!