0
Service & Beratung: (030) 86009351
Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 483

Kulturvolk Blog | Reinhard Wengierek

von Reinhard Wengierek

27. Mai 2024

HEUTE: 1. Gorki Theater – „Unser Deutschlandmärchen“ – / 2. Wintergarten Varieté – „90s Forever“ – / 3. Renaissance-Theater –„Kalter weißer Mann“

1. Gorki - Vieles war schlimm, vieles schön

"Unser Deutschlandmärchen" im Maxim Gorki Theater © Ute Langkafel MAIFOTO

Es passiert einfach nicht: Fatma wird und wird nicht schwanger. In ihrer Verzweiflung ruft sie nach Maria, betet inbrünstig (Allah möge verzeihen!). Denn Maria kennt sich ja aus mit komplizierter Empfängnis… Und endlich: Es hat geklappt; freilich unter Mithilfe des Frauenarztes in Köln: Dincer kommt zur Welt, 1979; ihr ein und alles, das nur ihr gehört – und nicht dem lieblosen Vater, dem Säufer und Nichtsnutz, den sie hat heiraten müssen. Und der sie, als „Gastarbeiter“ fünf Jahre zuvor aus der Türkei nach Deutschland geholt hat. Nach Nettetal im Ruhrpott. Und dort ist sie es vor allem, die sich abrackert fürs Geldverdienen in der Fabrik. Und noch dazu als Erntehelferin auf den Gurkenfeldern.

Dincer aber, der soll so werden, wie Fatma sich einen ordentlichen, glücklichen Mann erträumt: Schule, Beruf, fleißig sein, Familie gründen, Nest bauen. Und wenn sie alt ist, wird er sich um seine Mama kümmern.


Theater statt Schlosserwerkstatt


Aber Dincer ist anders, ganz anders als Fatma sich das vorstellt. Zwar hängt er rührend liebevoll an Mama, bewundert sie, macht ihr verrückte Geschenke (als Achtjähriger teure Schuhe vom ersten selbstverdienten Taschengeld). Ansonsten aber steckt er seine Nase in Bücher, schreibt Gedichte, Geschichten statt sich für Mädchen und Fußball zu interessieren wie die anderen Jungs. Trotzdem quält er sich durch eine Schlosserlehre, doch abends fährt er nach Düsseldorf, will zum Theater. Fatma ist entsetzt. Normale Leute gehören dort nicht hin. Künstler – was ist das, wie soll man da sein Geld verdienen für Familie, Kinder, womöglich für ein Haus?

Doch Dincer bleibt stur, stellt rigoros klar: Mama, ich bin anders als du es willst! Er verlässt sie schweren Herzens, trollt sich, hungernd nach Abenteuer, neugierig durch die Welt. Und reift zum Dichter.

Der autobiografisch grundierte Roman „Unser Deutschlandmärchen“ von Dincer Gücyeter erzählt so herzbewegend wie spannend von einem schwierigen Leben des „Dazwischen“ – zwischen Herkunft und Dasein. Als türkischer Sohn (schwierig) und (auch schwierig) deutscher Ruhrpottjunge in zunächst ärmlichen Verhältnissen in einem Deutschland, das es seinen fürs Arbeiten gerufenen „Gästen“ schwer macht, hier anzukommen, heimisch zu werden. Und sich die „Gäste“ untereinander auch nicht grün sind. Erst recht sind sie gegen eine praktisch Alleinerziehende wie Fatma, die sich behaupten muss in einem ausbeuterischen, auch verflucht übergriffigen Arbeitsalltag und – nach Feierabend – im Klima türkischer Männerdominanz.


Wie süß und wie bitter


Der Regisseur Hakan Savas Mican hat aus Dincer Gücyeters Debütroman, ausgezeichnet mit dem Preis der Leipziger Buchmasse 2023, eine Art Revue gefiltert. Und diese opulent aufgefächerte, weit ins Historische greifende, ungewöhnlich freimütige Migrations- und Integrationsgeschichte konzentriert auf die bittersüße Mutter-Sohn-Geschichte zwischen Fatma (Sesede Terziyan) und Dincer (Taner Sahintürk).

Die beiden Gorki-Stars erzählen monologisch oder im quasi dramatischen Duett signifikante, von inniger Zuneigung und kritischer Ablehnung geprägte Momente der Selbst- und Identitätsfindung. Von Enttäuschung, vom Zweifeln, dem inneren Zerrissen-Sein. Da wechseln feindselige Härte, beklemmendes Befremden, Unverständnis, Tapferkeit, Wut, Mut, Liebe und Lebensfreude.

Ein faszinierender, mit Komik und Tragik durchsetzter Abend packender Szenen und mit musikalisch tollem Entertainment, gestützt von einer virtuosen Band: elegische türkische Lieder für Mama, westliche Pophits für den Buben – und natürlich Grönemeyer.

Was für ein Mix: Drama mit Show. Und einem Hauch betörender Sentimentalität über allem. – Tief bewegend. Beglückend.

Maxim Gorki Theater, 5. Juni. 6. Juli. Hier geht’s zu den Karten.


***

2. Wintergarten - Artistenglanz und Pop-Juwelen

"90s Forever" im Wintergaten-Vaiueté © Jakub Tryniszewski, Skating Donnerts

Eine donnernde Parade weltberühmter Hits der Popmusik vermischt mit atemberaubenden Glanzstücken internationaler Artistik – das Paraderezept für eine tolle Show. Da hat der Wintergarten schon mal nix falsch gemacht. Körperkunst und Musik gilt schließlich als Grundlage für jedes Varieté-Programm.

Vor einem Jahr war es „Woodstock“. Jetzt wird die so erfolgreiche Reihe Hits & Acrobatics fortgesetzt mit Knallern aus den 1990er Jahren: „schrill, süß, laut, schön und schnell“, so die verheißungsvolle Ankündigung. Stimmt! Vor allem aber stimmt: „Laut“. „I‘m Too Sexy“, „It’s My Life“ oder „Let Me Entertain You“ donnert die Band im Fortissimo (die große Pauke wird emsig überstrapaziert). Da muss das präzis intonierende und glamourös agierende Gesangsquartett mit Wucht die Stimmbänder spannen, um ordentlich mitzuhalten bei den hinreißenden Songs von Take That, Cher, Roxette oder Guns N’Roses, den legendären Boy- und Girlgroups mit Hardrock, HipHop, Britpop.

Nun ja, vielleicht hat unsereins allzu verzärtelte Gehörgänge, denn das Publikum ist trotz des orchestralen Dauerwumms, der die Feinheiten und Eigenarten der grandiosen Lieder meist übertüncht, schwer begeistert.


Fünf Bälle zischen Füßen und Händen


Dabei bleibt verwunderlich, dass die internationale Schar der Körperkünstler nicht die lebenserhaltende Konzentration verliert bei ihren so wagehalsigen Kunststücken. Etwa beim Balancieren in unglaublicher Höhe auf einem gefährlich wackelnden Turm aus Töpfen und Rollen oder einer (weltweit wohl einmaligen) Jonglage gleichzeitig mit Füßen, Händen und fünf Bällen.

Der von Regisseur Frank Müller mit sicherem Sinn für Kontraste zusammengestellte Mix von Artistik in luftiger Höhe oder am Boden mit Rollschuhen, Zaubereien, schillernden Hula-Reifen oder modern Dancing im Schneegetümmel erfüllt hohe Ansprüche ans Staunen, an Schönheit und Nervenkitzel. Einfach große Klasse.

Vielleicht zügelt der Band-Leader Lex Schäfer ein bisschen seine so kraftvoll loslegenden Herren. Und man nimmt das üppig bunte Video- und Lichtgeflimmer ein wenig zurück zugunsten konzentriert kontrapunktischer Effekte. Schließlich tobt das Entertainment noch eine Weile.

Wintergarten Varieté, bis zum 21. Juli. Hier geht’s zu den Karten.


***

3. Renaissance-Theater - Kleiner Stern, kolossale Wirkung

"Kalter weißer Mann im Renaissance-Theater © Ann-Marie-Schwanke-Siegersbusch

"Feinwäsche Steinfels G.m.b.H.“; das ist bester alter Mittelstand; seit 75 Jahren (BHs, Schlüpfer, später Slips, Push-Ups, Bikinis, Tangas, Strings). Jetzt starb ihr Gründer. Gernot Steinfels, hochbetagt, verwitwet, ohne noch lebende Verwandtschaft. Und Horst Bohne, sein seit ewig designierter Nachfolger (Markus Gertken), richtet die Trauerfeier.

Ihm zur Seite Chefsekretärin Rieke Schneider, mütterlich besorgt, gern ein Lied auf den Lippen, das Seelchen vom Betrieb (
Imogen Kogge mit anrührend zarter Singstimme); dann die ehrgeizige Alina Bergreiter, Chefin für Online Marketing, Vertrieb, New Development (chic und sexy: Alexandra Finder); Kevin Packert, Social-Media-Pfleger (verschusselt nerdig: Johannes Deckenbach) sowie Kim Olkowski, die flott vorlaute Praktikantin (Leonie Krieg).

Alles ist fein hergerichtet: In der Mitte unter Schinkels leuchtendem Sternenhimmel der Trauerhalle die Urne (
Bühne: Manfred Gruber); davor der teure Kranz mit dicker Schleife: „In tiefer Trauer. Deine Mitarbeiter“.


Da fehlt ein Geschlecht


Bohne und Sekretärin sind zufrieden, der Pastor (Felix von Manteuffel) kann loslegen. Da gellt ein Aufschrei: „O mein Gott! Stopp! Auf der Schleife fehlt ein Geschlecht.“ – „Wieso?“ – „Der kleine Stern muss her“, ruft die Jugend und zückt den Edding. Für: „Mitarbeiter*innen“. – Horst Bohne: „Lächerlich! Gender-Gaga. Nur über meine Leiche.“

Von da ab tobt eine zunehmend rücksichtslos und verletzend, dümmlich, albern, schamlos, vorlaut und witzig bis gedankenscharf geführte Pro-Kontra-Schlacht: Um die oft bis ins Absurde getriebene, neuartig-sensible Sprache allseitiger Rücksichtnahme und allumfassenden Respekts.

Kalter weißer Mann“, das im Renaissance-Theater mit bravourösem Furor uraufgeführte Stück von Dietmar Jacobs und Moritz Netenjakob spielt leicht mit schwer Polarisierendem. Im Mittelpunkt: Der gescholtene alte weiße Mann (wie Horst Bohne), der sich mit verzweifelter Selbstgerechtigkeit gegen vermeintlich kranke Korrektheit, gegen den modisch-lächerlichen Zeitgeist-Scheiß wehrt; aber auch ringt mit dessen lebensfremden Auswüchsen.

Sein Gegenüber: Die Jungen. Sie sagen, was Menschen empfinden und wie sie leben möchten, sei keine Mode, keine Krankheit, dafür müsse es korrekte Sprache geben. Als Ausdruck wahrer Gerechtigkeit. Sprache schaffe Realitäten, könne diskriminieren, herabwürdigen, ignorieren. Oder kenntlich machen.


Brodeln im Diskurs-Topf


Großartig, wie das ruhmreiche Autoren-Duo („Extrawurst“, 2020 im Renaissance; „Mord mit Aussicht“, „Ladykracher“ im TV), wie es all die Aufreger im Diskurs-Topf hochkocht: LGBTQIA, Rassismus, kulturelle Aneignung, Sexismus, Body-Shaming, Me-Too, Machtmissbrauch… Und obendrein das lautlose Schreien der Sirenen im Netz, die alles digital verstärken, jedes aus seinem Kontext reißen.

Social-Media-Bursche Kevin im Alarmzustand: 230.000 User verfolgen ätzend kommentierend die Redeschlacht, die ein unerkanntes giftiges „Blümchen23“ aus der Trauergemeinde (=Publikum im Saal) heimlich mit dem Handy aufnimmt und postet. Angstschweiß (das Netz kann vernichten), Wutanfälle auf der Bühne. Auch, als sich herausstellt, dass die woken Gerechtigkeitsjünger teils selbst agieren wie der alte weiße Adam – die intrigante Marketing-Lady liefert das hässliche Beispiel.

Das alles fügt sich – auch durch die Regie von Guntbert Warns – zu einer saftigen Menschenkomödie mit schönster Schauspielkunst.

Am Ende gibt es keine Sieger*innen im Clinch. Dafür das vom Herrn Pastor gesegnete, ironisch getönte Finale mit aufblühender Einsichtigkeit auf beiden Seiten. Das berühmt-berüchtigte Sternchen als ein Anstoß für jeden und für jede, sich kritisch zu befragen. Jenseits von blindem Eifer, beleidigender Rechthaberei, schmerzlicher Ausgrenzung.

Renaissance-Theater, 28. Mai bis 2. Juni. Hier geht’s zu den Karten.

Verwendung von Cookies

Zur Bereitstellung des Internetangebots verwenden wir Cookies.

Bitte legen Sie fest, welche Cookies Sie zulassen möchten.

Diese Cookies sind für das Ausführen der spezifischen Funktionen der Webseite notwendig und können nicht abgewählt werden. Diese Cookies dienen nicht zum Tracking.

Funktionale Cookies dienen dazu, Ihnen externe Inhalte anzuzeigen.

Diese Cookies helfen uns zu verstehen wie unsere Webseite genutzt wird. Dadurch können wir unsere Leistung für Sie verbessern. Zudem werden externe Anwendungen (z.B. Google Maps) mit Ihrem Standort zur einfachen Navigation beliefert.

  • Bitte anklicken!