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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 473

Kulturvolk Blog | Reinhard Wengierek

von Reinhard Wengierek

18. März 2024

HEUTE: 1. Volksbühne – „Ja nichts ist ok“ – Abschied von René Pollesch. / 2. Berliner Ensemble – „Sterben Lieben Kämpfen“ / 3.Jüdisches Waisenhaus Pankow – Buchpremiere: Die Autobiografie von Manfred Karge

1. Volksbühne - Tödlich zunehmende Verzweiflung. Gedenken an René Pollesch

"ja nichts ist ok" in der Volksbühne © Thomas Aurin

Fragt die eine Kerze die andere: Was machst du heute Abend? Antwort: Ich gehe aus. Hahaha! Ein Witz, den man hinquatscht in der Kneipe. Fabian Hinrichs zitiert ihn aus seinem privaten Gute-Laune-Büchlein „Angriff auf die Lachmuskeln“. ‑ Und das passt wie die freche Faust auf lebensmüde Augen zu René Polleschs letztem Stück „Ja nichts ist ok“. Er erfand es noch kurz vor seinem plötzlichen, frühen Tod mit gerade 61 Jahren gemeinsam mit seinem Herzensfreund Hinrichs. In seiner Wohnung in der Schönhauser Allee. Oder im „Sowohl als auch"-Café.


Requiem auf René


Fabian erinnert sich im Nachhinein, schwer erschüttert, an Heinrich von Kleist. An dessen Bemerkung über dunkle Ahnungen als Antrieb für Geist und Fantasie. Und tatsächlich: Dieses „Nichts ist ok“, dieses pessimistische 70-Minuten-Solo für Hinrichs, das liest sich nunmehr in seiner Grundstimmung als Requiem auf René; auch wenn es in einer imaginären Vierer-WG spielt. Bringt es doch mit zunehmender Verzweiflung die Unmöglichkeit eines gedeihlichen Zusammenlebens auf den Punkt. Und gleicht einem Endspiel menschheitlicher Gemeinschaft.

Denn in dieser WG mit Renéfabian, Claudia, Stefan, Paul, da geht nichts mehr; kommt nichts mehr zusammen. Eine Wohngemeinschaft ohne Gemeinschaftliches, die, unbehaust sich fühlend in Anna Viebrocks klapprigem Bühnen-Bungalow, einander nur noch nervt. Jeder klebt an seinen Wehwehchen, leckt die eigenen lebenswunden Pfoten, hängt abgeschottet in seiner eigenen Gedankenblase. O Mensch, was ist bloß los mit dir – geballte Ausweglosigkeit, geballter Schmerz bei Pollesch & Hinrichs, verblüffend locker dahin gesprochen, ausgespielt, sogar verwitzelt. Und doch zum lauthals Heulen. „Ich sterbe ganz weit hinten, wo nur noch Arschlöcher sind.“

Doch da gibt es den WG-Kühlschrank, aus dem in schlafloser Nacht eine KI-Stimme klugscheißend rät: „Das Leben ist lebenswert und da draußen gibt es Hilfe für dich. Wenn du nicht mehr leben willst, kontaktiere einen Freund oder Verwandten oder such dir professionelle Hilfe.“


Pollesch und Postdramatik wurden Kult


So ist er, der René: Immer gern und bis zuletzt auch ein Schalk. Wie liebenswürdig. Ob zynisch, bissig, blitzend ironisch oder kindlich verspielt, auch gelegentlich blödelnd und meist polarisierend, zumindest schwer irritierend.

Wie sein anfangs neumodisches, alsbald aber ein Standard werdendes, durch süffige Popmusik effektvoll strukturiertes postdramatisches Theater, das im so einzigartigen, so verrückt schillernden Pollesch-Sound Sachbuchtheorien kurzschloss mit den Alltagserfahrungen der Leute im neoliberalen Turbokapitalismus. Frappierend trefflich, an- wie aufregend. Aber oft eben auch fragwürdig durch die nur allzu lustvoll in verwegenes Geschwurbel überschießenden Abstraktionen.


Die Stars lagen ihm zu Füßen


Doch als tollwütige Gegengewalt hatte René seine hinreißenden Komödianten: die Rois, Angerer, Meyerfeldt, die Peters, die Minichmayr, der Wuttke, Peschel oder Claessens und wie sie alle heißen. Es waren die Spitzen der Zunft, die Stars, die R.P. zu Füßen lagen. Und er liebte sie alle. Ließ es locker zu, dass sie fleißig mitdachten und mitmachten beim Zusammenschrauben seiner Stücke. Das begann um die Jahrtausendwende im Volksbühnen-Prater. Wurde Kult und entfesselte einen schier einzigartigen Schaffensrausch. Etwa 200 Stücke – O mein Gott! ‑ brachte Pollesch allüberall auch inszenierend heraus.

Das Rüstzeug dafür holte er sich, der bewundernswert Belesene, bei Andrej Wirth und Hans-Thies Lehmann an der Uni Gießen, wo er mit 21 Jahren Mitte der 1980er anfing im damals ersten Jahrgang des neuen Studiengangs für Angewandte Theaterwissenschaften; dem Gottseibeiuns der klassisch-konservativen Theaterwelt.


Schwierigkeiten mit dem Chefsessel


Vielleicht hätte er 2021 es lassen sollen, die Übernahme der Intendanz des Riesentankers Volksbühne, weltbekannt, aber nach Castorf in der Krise. Großes Management, das war nicht seins. Und der Versuch kollektivistischer Führung in jeder Hinsicht arg verschleißend. Jetzt wissen wir: Zu arg! Und obendrauf noch die Zustände in Welt, Gesellschaft, Gemeinde. Das strauchelnd große Ganze… Pollesch analysierte nämlich immerzu rücksichtslos. Stach immer rein in die Schwach- und Schmerzstellen. Auf Dauer zermürbend. Die Folgen: Zunehmende Ratlosigkeit, zerstörte Zuversicht, aufgebrauchter Trost, kaputtes Herz.


Unvorstellbare Qualen


Das vorletzte Pollesch-Stück fragte noch mit sanft resigniertem Unterton „Geht es dir gut?“ Anschließend nun das tieftraurige Schlussstück „Nichts ist ok“ – völlig frei von Verfremdung, dafür insistierend auf Identifikation. Mit Hinrichs, der in bestürzenden Pollesch-Sätzen alle finalen Un-Okays auflistet: „Ich kann nicht mehr so weitermachen, mich nicht mehr ansehen, mich nicht mehr anfassen. In mir ist alles fertig. In mir ist nichts recht fertig... Ich lebe, ich arbeite, ich sterbe unter unvorstellbaren Qualen. Ich würde gern mal selbst zu jemanden rübergehen. Ich wäre gern mal rübergegangen. Ich würde gern mal rübergegangen sein.“ – Doch die Kerze ist ausgegangen.

Im Moment sind alle Vorstellungen von „Ja nichts ist ok“  leider ausverkauft.


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2. Berliner Ensemble - Daseinsnot und Künstlerelend

"Sterben Lieben Kämpfen" im Berliner Ensemble © Matthias Horn

Reichlich 4000 Seiten radikal narzisstische Selbstentblößung einschließlich diverser Essays über Literatur und Wirklichkeit, Schreiben und Schreibblockaden, Künstlertum und Gesellschaft. Der latent depressive norwegische Autor Karl Ove Knausgard, Jahrgang 1968, hat das penible Protokoll seines konfliktreichen Lebens von Kindheit an in sechs Bände gepresst unter dem Titel „Min Kamp“, erschienen zwischen 2009 und 2011, übersetzt in 30 Sprachen, dekoriert mit zahlreichen Auszeichnungen (in Deutschland der WELT-Literaturpreis 2016).


Das elende Fragen nach Lebenssinn


Da listet also ein Macho-Kerl total pingelig ohne Rücksicht auf sich selbst und alle Beteiligten (einige initiierten Gerichtsprozesse) auf, wie das war und ist mit einem gewalttätig herrschenden Alkohol-Vater, einer überforderten Mutter, einem nach Erfolg gierenden Schreiber, einem exzessiv lebenden Außenseiter. Mit einem von Kleinkindern, einer bipolar gestörten, gleichfalls literarisch ambitionierten Ehefrau, einem vom ätzenden häuslichen und außerhäuslichen Alltag sowie dem verzweifelten Ringen um den Sinn des Daseins überhaupt ach so grauenvoll Gebeutelten.

Knausgards Leserschaft reagierte teils hingerissen, teils aber auch irritiert oder gar angewidert peinlicher Zwang eines Exhibitionisten zum Voyeurismus. Immerhin: Ein komplizierter Fall, allemal aufregend genug, um ihn jetzt auch ins BE zu bringen unter dem Motto „Sterben Lieben Kämpfen“; es zitiert die Titel von drei der sechs Bände des dramatisch epischen Text-Monsters.


Bei Schriftstellers daheim aufm Klo


Die Bühne Bettina Meyers illustriert ein ziemlich ranziges Zuhause, wie man sich’s gern vorstellt bei Schriftstellers in deutlich ungeordneten Verhältnissen: Wie hingestreut auf einem Wimmelbild Bücherwand mit Schreibtisch und Schreibmaschine, Klo, Küchenzeile, Klappsofa, Nasszelle, Vorgartenidyll.

Yana Ross, die litauisch-amerikanische Regisseurin, filterte für ihr Script etwa 40 Blatt mit diversen Szenen aus Knausgards Textorgie. Da knallts, krachts, schreits, winselts und tobts in allen Registern zwischen den Eheleuten (Gabriel Schneider und Kathleen Morgeneyer) wie zwischen Karl Ove und seinem Papa, Bruder, Onkel, Freund. Enorm niederschmetternder Lebensalltag eben. Und eben ein bisschen zu viel davon. Das meist aufgepeitschte Ensemble stürzt – freilich gekonnt arrangiert! von Situation zu Situation. Zwangsläufig bleiben da die Figuren einigermaßen platt.

Allein die große Kathleen Morgeneyer schafft es, ihre vielen Kurzauftritte locker in eins zu binden: In die schwere Tragik einer zwischen unglücklicher Ehe, Mutterschaft und versucht eigenständigem Künstlertum zerriebenen, immerzu in Nervenzusammenbrüche getriebenen stark-schwachen Frau. Das ist suggestiv gespielt. Und herzzerreißend.


Peinliches Nazikabarett


Alles in allem: In höchstens zwei Stunden wäre all das interessiert hinzunehmen. Doch es folgt noch ein lähmend längliches, dickes Ende: Karl Ove findet im Nachlass des offensichtlich alt-nazistischen Vaters ein Exemplar von Hitlers „Mein Kampf“. Knausgard schließt nun seine eigene schwierige Jugend kurz mit Hitlers frühem, freilich erniedrigend scheiterndem, aber folgenreichem Versuch, eine Künstlerkarriere als Maler einzuschlagen. Auch das im Prinzip nicht uninteressant. In einer von der Regie als Menetekel wohl mutig gedachten comichaften Verkürzung jedoch, eingebettet in ein ausladend kabarettistisches Nummernprogramm, wirkt das höchst befremdlich, ungekonnt, peinsam.

Berliner Ensemble, 26. März und 22. Mai. Hier geht`s zu den Karten.


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3. BuchTipp: Manfred Karge - „Eigentlich immer Glück gehabt. Begegnungen und Begebenheiten“

 © Eulenspiegel Verlagsgruppe
© Eulenspiegel Verlagsgruppe

Der Theater und Filmschauspieler, Regisseur und Dramatiker Manfred Karge, Jahrgang 1938, erzählt in seinem autobiographischen Buch von Künstlern, Politikern, Musikern, Theaterleuten aus Ost und West, gehörte er doch zu den Spitzen des Bühnenbetriebs erst im DDR-Berlin (BE, Volksbühne) und dann, nach der Übersiedlung, im Westen.
Die „Brandenburger Eiche“, wie Kollegin Carmen-Maja Antoni den umtriebigen Vielkönner und Zeitzeugen nannte (geboren in Brandenburg an der Havel), kennt sich aus in den Labyrinthen des Kunstbetriebs. In seiner Biografie (Eulenspiegel Verlagsgruppe) durchkämmt er noch einmal die Kisten der Vergangenheit und erzählt, wer und was wichtig war auf seinem Lebensweg.

Zur Buchpremiere liest Felix Tittel. Hartmut Behrsing spielt Klavier und der Publizist Friedrich Dieckmann unterhält sich mit Karge über ein Halbjahrhundert deutscher Theatergeschichte.
20. März, 18 Uhr im Ehemaligen Jüdischen Waisenhaus, Leslie-Baruch-Brent-Hall (Betsaal). Berliner Straße 120, 13184 Berlin (am U- und S-Bahnhof Pankow)

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