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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 460

Kulturvolk Blog | Reinhard Wengierek

von Reinhard Wengierek

4. Dezember 2023

HEUTE: 1. Schaubühne – „The Silence“ / 2. Renaissance-Theater – „Die Weihnachtsfeier“ / 3. Wintergarten Varieté – „Zimt und Zauber: Peter Pan“

1. Schaubühne - Das Schweigen der Vergangenheit

"The Silence" in der Schaubühne © Gianmarco Bresadola

Es geht sofort heftig zur Sache. Durch Ansagen, die uns, einem Trommelfeuer gleich, vor den Kopf knallen: „In meiner Familie“, sagt der Sohn, „haben wir nie gesprochen…“ – über Gräueltaten des Vaters im Krieg; über sein außereheliches Verhältnis zur damals minderjährigen Mutter; über ihre entsetzliche Flucht aus Westpreußen; über ihr jahrelanges demütigendes Beiseiteschieben als heimliche Geliebte bis zur Heirat nach zwei Schwangerschaften und Scheidung des Vaters; über dessen von der Mutter blind akzeptierte patriarchalisch harte Familienherrschaft; über erzieherische Strenge; Gehorsamspflicht („immer lieb sein“); über das permanente misstrauische Überwachen und Kontrollieren des Sohnes durch die Eltern; über ihre absurden Versuche, seine Homosexualität bekämpfen zu wollen; über das kalte Familienklima überhaupt…

Kurz gesagt: Der Sohn empfand sein Zuhause als Hölle. Als Hort überkommener und als Brutstätte von neuen Traumata. Nie wurde darüber gesprochen. Bis jetzt. – Jetzt wagte Falk Richter, der Sohn, Autor und Regisseur (Jahrgang 1969) mit seinem autobiographisch grundierten Stück „The Silence“ die Mauer des Schweigens zu durchbrechen. Eine zentrale Rolle dabei: Seine erstaunlich offenherzigen, zuweilen aufschreckend hart insistierenden Gespräche mit Mutter Doris – klar im Kopf und sehr sympathisch – filmisch aufgezeichnet von Lion Bischof


Versteckt oder direkt: Der permanente Druck, sich einzupassen 


Es ist eine mutige, weitgehend beklemmende, auch schockierende Reise ins Dunkel der eigenen Vergangenheit sowie die der Vorfahren. Eine Art Forschungs- und Findungsprozess: Was wurde mir angetan, was geschah mit mir, mit Falk Richter, und warum? Und was mit meinen Leuten? 

Dabei weitet sich der persönliche, ja intime Blick aufs kleinbürgerlich elterliche Eigenheim im „fucking“ Buchholz/Nordheide mit seinen bedrückenden Geheimnissen und bösen, unausgesprochenen Wahrheiten ins Allgemeine. Auf die Zwangsjacke normierter Wohlanständigkeit, den auch politischen Konformismus, der keinen Platz hat für Störer. Auf dieses Korsett, das der von NS-Herrschaft, Krieg und Vertreibung traumatisierten Gesellschaft zwar Halt und Kraft gab; in deren Formiertheit aber auch – nicht nur hinter den glatten neuen Fassaden – versteckt oder direkt Gewalt wucherte gegen alles, was da anders war, kritisch, nicht lieb. 


Offene Erzählweise durch wirkmächtige theatralische Montage


Es ist diese Spannung von bestürzend privaten Innensichten und übers Private weit hinaus gehenden Draufsichten, die den 90-Minuten-Abend zum packenden Erlebnis macht. Ist die gekonnte, im postdramatischen Betrieb derart wirksam nur selten zu findende theatralische Montage; der raffinierte Wechsel der Perspektiven zwischen Dokumentation und Reflexion. – Was uns da bannt ist, ein aufklärerisches Frage-, kein wohlfeiles Klage- oder Anklagestück. Und schon gar nicht billige Seelenstripperei. 


Dimitri Schaad, der neue Schaubühnen-Star 


Ein Glück für den Regisseur: Er fand für seine wahrlich nicht einfache Sache den einzigartigen Dimitri Schaad. Die deutsche Erstaufführung von „The Silence“ (eine französische gab es, anders besetzt, 2022) ist Schaads Schaubühnen-Einstand; für Richter war es nach Jahren die geglückte, gefeierte Rückkehr ans alte Haus.

Schaad, zuvor Protagonist am Gorki-Theater, auf Augenhöhe mit Kollegen wie Meyerhoff oder Eidinger. Geradezu sensationell! Beherrscht er doch wie selbstverständlich, also souverän spielerisch, den selbst im Komisch-Grotesken noch kühlen Erzählton sowie die Ausbrüche von Bitterkeit, Verzweiflung, Wut oder Vergeblichkeit. Faszinierend diese Wechsel zwischen hochkochenden Gefühlen und sachlicher, gleichwohl schmerzlich schonungsloser Analyse. Die auch nicht haltmacht vor der Frage, ob man sich selbst nicht allzu wichtig nimmt.

Wir wollen nicht verschweigen, dass die so schlagend gegenwartsnahe Vergangenheitsforschung sonderlich bei den Gesprächen von Sohn und Mutter offenlegt, was die von den Zeitläuften gebeutelte (oder deformierte) Elterngeneration für ihr Verhalten Entlastendes vorbringt. Nämlich: Ohne verdrängendes, ob nun böses oder Wunden stillendes Schweigen, hätte sie ihre Gegenwart wohl nicht leben können.

Mit dieser bedenkenswerten, auch um Nachsicht bittenden menschenfreundlichen Aussage werden wir entlassen. – Die bohrende Befragung der eigenen Biografie bleibt uns als dauerhaft nachhallende Herausforderung. Was für ein aufwühlendes Theaterereignis.

Schaubühne, 5., 6.,7., 10. und 11. Dezember. Bei uns nur noch wenige Karten für den 7. Dezember.


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2. Renaissance-Theater - Ballermann in der Stadtrandsparkasse

"Die Weihnachtsfeier" im Renaissance-Theater © Ann-Marie-Schwanke-Siegersbusch

Das Kollektiv einer netten kleinen Bankfiliale hat nicht selten was Familiäres an oder in sich. Oder genauer: Was von einer Bande. Familienbande könnte man sagen. Da kennt über die Jahre ein jeder jeden; man arrangiert sich, kooperiert oder kloppt sich.


Wie in dem Jahresend-Stück „Die Weihnachtsfeier“ von Peter Jordan und Leonard Koppelmann, das wirklich jeden erdenklichen Wahn- und Blödsinn semifamiliärer Banden vorführt, von dem man so hört oder von dem man weiß aus einschlägigen Veranstaltungen im Büro oder gar im heimischen Wohnzimmer. Lametta-Loriot lässt beißend grüßen; wir gratulieren an dieser Stelle nachträglich zum 100.! 

Zurück zur Happy-Birthday-Jesus-Party mit dem zunächst Üblichen: Christmas-CD, Punsch in rauen Mengen, dicke Käse-Igel, Frotzeleien, Tänzchen aufm Schreibtisch, Küsschen aufm Klo und Schlägerei mit der Grünpflanzen-Deko. Rock’n’Roll gibt’s auch, aber später. Wie gesagt: Man kennt sich; im Drucker-Raum auch ohne Unterwäsche.


Absurde Volten mit rasendem Halligalli 


Doch man kennt sich – Achtung! – nicht genau. Und das ist, vom rasenden schauspielerischen Halligalli abgesehen, der Witz dieser Farce: Ihr Personal, geladen mit beträchtlichen sexuellen und kriminellen Energien, sorgt unentwegt für erstaunliche Überraschungen. Schlägt absurde Volten, dass es nur so knallt in der Ballermann-Klamotte. 

Zwischendurch wird reichlich, ob rockig oder sentimental, geträllert und getrötet – fast wie im Musical. Und schnell mal aufgeklärt über das vermeintliche Prinzip Geldinstitut („Bescheißen“), über fragwürdige Digitalisierungen und Rationalisierungen – Vorboten der befürchteten Schließung der feiernden Filiale. Und Auslöser einer Extra-Schlacht der Egoismen: Wer darf bleiben, wer fliegt raus. Die Ekstase treibt einen älteren Mitarbeiter auf die nette die Idee, seinen nackten Hintern auf den Kopierer zu knallen. Pups! – So etwa der Humor. 

Ja doch: Sparkassen-Vorstände werden die von Jordan und Koppelmann gemeinsam inszenierte Chose überhaupt nicht mögen. Feingeister eher auch nicht. Trotz des mit hauptstädtischen Schauspiel-Größen gespickten Ensembles: Gesine Cukrowski, Inka Friedrich, Noelle Haeselin, Heiko Deutschmann, Harald Schrott und Daniel Warland


Bombe mit Brecht-Bonmot 


Aber die Mehrheit im spaßwütigen Publikum haut sich auf die Schenkel. Und erschrickt über die Bombe, die da plötzlich ins Jingle-Bells kracht und zum zufällig zuvor zitierten Brecht-Bonmot vom unausgewogenen Verhältnis von Bankgründung und Bankeinbruch passt. 

Ein Einbruch! Hilfe, Gangster im Keller! Das Party-Chaos ist so groß wie der Schwenk ins selige Finale: Da nämlich haben die beiden größten Deppen im Team den einsamen Schlussauftritt als Bonnie und Clyde der Stadtrandsparkasse. Umschlungen in Liebe präsentieren die Ober-Gangster, von aller Weihnachtswelt unentdeckt, ihren Bomben-Coup: Tresor gesprengt, Geld geklaut. O du fröhliche… 

Renaissance-Theater, bis zum 22. Dezember. Hier geht’s zu den Karten. 


*** 

3. Wintergarten - Krokodil mit Reisewecker

"Zimt und Zauber: Peter Pan" im Wintergarten © Ben Duentsch

Hier das poetische Kontrastprogramm zur ballernden Sparkassenfete im Renaissance-Theater: „Zimt und Zauber“ wie alle Jahre wieder im Wintergarten für die lieben Kleinen (nebst ihren Großen). Zimtsterne werden großzügig verteilt; deutlich größer freilich ist der Popcorn-Verkauf, das nebenbei.

Gar nicht nebenbei, sondern im Mittelpunkt der auch ohne Zauberei zauberhaften Show turnen die Nachwuchsartisten vom Berliner Kinder- und Jugendzirkus CABUWAZI aus Marzahn. Doch was heißt turnen: Sie fliegen durch die Lüfte, schrauben und spreizen sich in die Höhe an Seilen, radeln Treppe rauf, Treppe runter und im Kreis, teils locker im Sattel oder auf dem Lenker. Sie liefern altersgerechten Leistungssport an Klettergerüsten und erzeugen johlende Beifallsstürme. 


Meerjungfrau trifft Indianerhäuptling 


Das erregte Kreischen allerdings geschieht bei den abenteuerlichen Geschichten um Peter Pan, der mit seinen Leuten, auch droben im Flugzeug, durchs Nimmerland zieht. Er trifft Meerjungfrauen, den Indianerhäuptling Federleicht, das Krokodil, das die Zeit frisst und obendrein einen immerzu klingelnden Wecker verschluckt hat. Da wird die gekaperte Tigerlilly befreit im Kampf, teils im Schlauchboot, gegen das Piratenschiff des bösen Käpt’n Hook und seiner Mannschaft. Die Kurzszenen (Script: Tamina Cukowski, Musik: Tim Schultheiss) aus „Peter Pan“ liefern sozusagen die wilden Zwischenspiele für die Auftritte der zirzensischen Nachwuchskader. Obendrein werden ganz locker pädagogisch wertvolle Lebenshinweise eingestreut. Ihre Themen, teils chorisch gesungen: Mut, Selbstbewusstsein, Zeit sinnvoll nutzen, Geld und Glücklichsein. In 90 Minuten ist der Spaß vorbei (Regie: Fabian Gröger). Und alle sind glücklich.

(Wintergarten Varieté, bis 28 Januar. Hier geht’s zu den Karten.

Hinweis: Die grandiose Abendshow „Mad Magic“ läuft parallel. (mehr dazu im Blog Nr. 447 vom 4. September 2023)


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4. Extra-Tipp:
Wiederaufnahme in der Neuköllner Oper „Bis keiner weint. Ein Meinungsmärchen mit Musik“. Und einem provokanten, lustvoll durchgespielten Thema: Wie geht man im Kunstbetrieb um mit Wokeness? (mehr dazu im Blog Nr. 445 vom 19. Juni 2023)

Neuköllner Oper, bis 30. Dezember. Hier geht’s zu den Karten.

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