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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 456

Kulturvolk Blog | Reinhard Wengierek

von Reinhard Wengierek

6. November 2023

HEUTE: 1. Berliner Ensemble – „Woyzeck“ – / 2. Deutsches Theater – „Der geflügelte Froschgott“ / 3. Gorki Theater – „Planet B“

1. Berliner Ensemble - Verzweifeltes Toben am Hackeklotz

"Woyzeck" im Berliner Ensemble © Birgit Hupfeld

An der Rampe ein Tümpel, Schilf und Schlick; auf der Bühne der dunkle deutsche Wald. Tannen bis hoch in den Bühnenhimmel, Zelte, Feuerstätte, ein Anstand für die Jagd. Und in der Mitte ein ordentlicher Hackeklotz. Dort schwingt Woyzeck die Axt, haut wie besessen Baumscheiben klein. Und sich den Frust aus dem Leib: Übers elende Dasein, Ungerechte, überhaupt übers Widerliche der Welt, in der zu leben er nun mal verdammt ist. 

Was für ein seltsamer Kerl, dieser Woyzeck: Spindeldürr, aber kraftvoll. Baumlang mit tiefliegenden Augen, entrückten Blicks; wirr das Haar, filzig der Bart gleich einer Christusfigur. Und wenn er nicht wie verrückt Holz zertrümmert, hockt er in sich gekehrt im Schilf und stiert ins Leere. 

Das sich wiederholende Toben mit der Axt, das düstere Brüten am Wasser, die fragile, doch wuchtige Präsenz des faszinierenden Schauspielers Maximilian Diehle das allein ist schon Sinnbild dieser irritierend stimmungsvollen „Woyzeck“-Inszenierung von Ersan Mondtag. Da wird er beinahe nebensächlich, der Kreuzweg Woyzecks von den Demütigungen durch soziale Verelendung, übergriffige medizinische Experimente, menschenverachtende Herrschaft bis hin zum Verrat seiner fremden Freundin, mit der er ein Kind hat und die er tötet im blinden Eifer wie im Wahn höherer Gerechtigkeit. 


Woyzeck als Glied einer widerständischen Aussteigerbande 


Mondtag, als Regisseur wie Bühnenbildner ein origineller Meister für suggestive Albträume und schreckensstarre Abgründe, entwirft für Georg Büchners sozialpolitisch anklagende, aber auch philosophisch depressive Untergangsgeschichte eines Individuums – ohne sie prinzipiell zu verändern – ein neuartig herausforderndes Setting. 

Da ist Woyzeck Glied einer im Wald versteckt hausenden Aussteiger-Kameradschaft; gewisse Zeichen verweisen auf rechtslastigen Widerstand, auf Kampf gegen das kalte Draußen vor dem Wald. 
Es herrscht also ein männerbündisches, latent repressives und aggressives, zugleich jedoch Wärme, Schutz und Heimat bietendes geschlossenes System. Woyzeck ist da kein tragisch Einzelner, wie von Büchner signifikant gezeichnet; er versinkt in der Horde. 

Deshalb immer alle beisammen im Dunst der Kumpanei. Zünftiges Wildschweinessen, die Plackerei alltäglicher Selbstversorgung, zum Feierabend Bier und Tanz ums Lagerfeuer mit Männergesang zur Blasmusik. Unheimliche Romantik. Testosteron wird ausgeschwitzt bei Schlägereien oder gruppendynamischen Terrorspielen. Denn Frauen gibt es nicht; auch Marie, die zwar „Marie“ gerufen wird, ist ein bärtiger Kerl (Gerrit Jansen). Und es wird auch, von schüchterner Umarmung abgesehen, nicht „schwul“; ihre Liebelei mit dem Tambourmajor (Max Gindorff) bleibt bloß angedeutet, da genügt ein funkelnder Blick auf sein Geschenk, den Ohrschmuck. Die das Büchner-Drama schließlich ins Tödliche treibende Kraft, nämlich die Macht der Gefühle wie Sexgier, Eifersucht, Wut, entfällt.

Mondtag inszeniert kein eskalierendes, messerscharfes „Woyzeck“-Drama, sondern malt in düsteren Farben eine „Woyzeck“-Dystopie, indem er ein katastrophenhaltiges Zustandsbild erfindet: Eben diesen neurotischen Männerhaufen im unheilvollen Freiraum der Selbstisolation, abgekoppelt vom Gesellschaftlichen, dem Feindlichen. Nichts ist gut hier, flüstert die breitbeinig aufgeladene Stimmung, wenn Trompeten schmettern und mit viel Liedgut alte oder neue Wunden geleckt werden. 

Zum Schluss, der Frauenmord ist fix abgetan, knattern Hubschrauber, kreisen Scheinwerfer, fällt eine Strickleiter herab. Doch keiner steigt auf – und aus. Man kriecht nur umso enger zusammen ums Lagerfeuer am Zeltplatz im vernebelten Mondlicht. Singt und säuft Angst weg.

Berliner Ensemble 21. November; 13. und 14. Dezember. Hier geht’s zu den Karten.


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2. DT Kammer - Himmel, Hölle oder nix?

"Der geflügelte Froschgott" © Thomas Aurin

Nur mal so gefragt: Falls der Tod nicht das Ende ist, was käme danach? Geht es dort weiter, und wenn ja, in welchem Zustand? Und für wen? Und wenn es so wäre: kann ich meine Chancen aufs Jenseits erhöhen und ist das sinnvoll? Und wie viele Jenseits gibt es in etwa?! 

Tja, das sind so Sachen, mit denen sich die Menschheit seit Menschengedenken herumschlägt. Mit leider unbefriedigenden Ergebnissen. Sollte man sich vorbereiten aufs „Danach“ (brav sein, gute Taten listen)? Lohnt sich das überhaupt? Ist das „Danach“ wirklich besser, gerechter, komfortabler als das „Davor“? Oder kommt gar nix nach dem Tod? Dann freilich wäre auch eine jede Religion aus dem ohnehin irritierenden Überangebot sinnlos und die entsprechenden Götter arbeitslos. Auch, nur um ein Beispiel zu nennen, der nach Überlieferungen eklig glitschige geflügelte Froschgott aus der Fülle der Tiergötter, denen immerhin – weiß die Wissenschaft neunzig Prozent aller Religionen huldigen.

Das erfährt man nebenbei in einer bis in den Aberwitz getriebenen menschlichen Befragung der mehr oder weniger lieben oder schleimigen Götter im Monologstück von Ingrid Lausund „Der geflügelte Froschgott“. Die Autorin wurde berühmt unter dem Psyeudonym Mizzi Meyer als Drehbuchschreiberin für die mit Grimme-Preisen bedachte kultige ARD-Comedy-Serie „Der Tatortreiniger“. 

Da ging es mit Sarkasmus und Pointenschärfe gleichfalls um den Tod; genauer gesagt: um die Beseitigung schmutziger Hinterlassenschaften mörderischen Tuns. Jetzt jedoch, eine Drehung weiter, wird’s philosophisch bei einer kecken „Neuberechnung der Unsterblichkeit“. Da wird in einem funkelnden Gedankenspiel lustvoll durchgewürfelt, wie das funktionieren könnte mit dem Ticket in die Hölle, ins Paradies oder ins Nichts. Zugleich wird wütend auf den Tisch gehauen, warum kein Gott, keiner der schier unendlich vielen, endlich mal Klartext spricht, um Schluss zu machen mit notorisch irdischem Gezweifel an der Unsterblichkeit. Oder am von wem auch immer beschworenen Alleinstellungsmerkmal der einen Gottheit. Warum nicht mehreren dienen; die Auswahl ist enorm? 


Zwischen süßer Trostsuche und galliger Aufklärungsnüchternheit 


Das mit Provokationen vollgestopfte Pingpong der hintersinnigen geschliffenen Sätze – sentimentale Sehnsuchtsrufe nach tröstlicher Transzendenz, aufklärerisch hingeknallte Skepsis inszeniert FX (Franz Xaver) Mayr als virtuoses Duett mit den beiden grandiosen Sprechkünstlern Regine Zimmermann und Bernd Moss. Höchst unterhaltsam. Höchst bedenklich. Da steckt man die überflüssigerweise als Denkpausen gedachten esoterisch-therapeutischen Übungen eines elektromusikalisch umgurrten Gymnastik-Quartetts glatt weg. Staunt aber nicht schlecht über den plötzlichen Auftritt vom Sensenmann. Mit coolem Grinsen bittet er auf die Bühne zum Freibier. Wie das, jetzt Beten mit Bier? – Aber nein! Bloß bisschen locker Party zum Schluss. Wie nett vom Tod

DT Kammer, 5, 12. und 19., November; 3. und 27. Dezember; 1. Januar. Hier geht’s zu den Karten.


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3. Gorki - Aliens spielen Rauschmeiß-Show

"Planet B" im Maxim Gorki Theater

Wir sitzen erwartungsfroh im Parkett und werden nicht enttäuscht. Denn gleich beim Start des neuen Stücks „Planet B“ vom Autorenduo Yael Ronen und Itai Reicher klären uns sieben reizende, hauteng in glänzendes Schwarz verpackte Humanoiden mit lila Prinz-Eisenherz-Perücken über unsere sensationelle Lage auf. Nämlich: Wir befinden uns in einem Raumschiff irgendwo im Weltall und schauen von dort aus 40 Millionen Jahre zurück auf die Erde. Dort ist die angeblich vernunftbegabte Menschheit gerade dabei, mittels notorischer Ignoranz und Hybris und folglich selbstverschuldet lebensbedrohlichem Klimawandel das fortzusetzen, was bis dahin Asteroiden, Vulkane, Superviren nicht so recht gepackt haben: Das nunmehr bereits sechste Massenartensterben.

Also übernahmen Aliens die Sache und machten kurzen Prozess mit dem Tod vom übrig gebliebenen Rest der Arten. Und weil sie nett sind, die schwarz gekleideten Außerirdischen mit den lila Haaren, und weil sie Sinn haben für Entertainment, organisierten sie für die Abwicklung der Erde ein Spielchen, eine Art Reality-TV-Show, der wir, das galaktische Publikum, amüsiert zuschauen dürfen aus 40 Millionen Jahren Entfernung. 

Die Rausschmeiß-Show läuft nach offensichtlich ewig gültigem Muster massentauglicher Unterhaltung. Die uns vorgeführte „Kandidatengruppe H“ besteht aus sieben gegeneinander konkurrierenden „Teilnehmenden“: Huhn, Panda, Ameise, Fuchs, Krokodil, Fledermaus sowie dem die Menschheit vertretenden Boris, Versicherungsmakler aus der Ortschaft Bremen. 


Die gute alte Fabel in der Science-Fiction-Comedy


Ihre Auftritte zur signifikanten Selbstdarstellung jeweils einzeln oder gemeinsam geben Auskunft über ihre Überlebenschancen, die von der Alien-Jury entsprechend bewertet werden. Womit wir beim Kern dieses Survival-Show-Casts sind. Der sich als grandiose Science-Fiction-Comedy präsentiert, in der ein jedes Tierchen (einschließlich des Menschleins aus Bremen) zum Spiegelbild von Allgemeinmenschlichem wird. – Es lebe das gute alte Verstellungstheater oder anders: die Fabel! 

Da wäre das kraftstrotzende Krokodil (Dimitrij Schaad) mit seinem Mackertum, das mit stolzgeschwelltem Panzer schon zwei Massenartensterben überlebt hat oder der total depressive Panda (Maryam Abu Khaled), der keine Lust hat auf Fortpflanzung. Dann das gockelhaft aktivistische Huhn (Orit Nahmias), das nur knapp Massentierhaltung und Döner-Produktion überlebte. Oder die freche, sexsüchtige Influencer-Füchsin (Alexandra Sinelnikova), die opportunistisch angepasste Großstadtstreunerin. Und die streng kollektivistische Ameise (Aysima Ergün), die einen Moment lang vom selbstbestimmten Dasein jenseits ihrer diktatorischen Königin träumt. Und die Fledermaus von Jonas Dassler als schwer melancholischer Alt-Rocker mit rauer Gitarre und ebensolcher Rachenröhre sowie mühselig versteckter Angst vorm Tod. Und eben Niels Bormann, der etwas feige, etwas verlogene, etwas moralisierende, aber knallhart egoistische Mittelstandskleinbürger von der verdreckten Weser. 


Pointen-Pingpong und messerscharfer Witz


Was für ein tolles Ensemble, von Amit Epstein märchenhaft fantastisch mit typisch menschlichen Zeichen kostümiert, das da auf Wolfgang Menardis gefährlich schräg hängender, bereits mächtig ruinierter Erdkugel tobt mit rasendem Pointen-Pingpong, messerscharfem Witz und doch gelegentlichem, sehr berührendem, schmerzlichen Innehalten angesichts einer stürzenden Welt. Regie: Yael Ronen

Ihr gelingt, auch als Autorin, das eher seltene Kunststück, so ziemlich sämtliche gängigen oder auch überflüssigen Diskurs-Debatten von heutzutage (aus Sicht der Aliens: die Endzeit der Erde) auf unterhaltsamste, auch galgenhumorige Art so einfühlsam wie überzeugend an- und auszuspielen. Und somit unsere unheilschwangeren Gegenwartskrisen poetisch zur Kenntlichkeit zu entstellen. Großartig!

Maxim Gorki Theater, 16. und 17. Dezember. Hier geht’s zu den Karten.

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