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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 454

Kulturvolk Blog | Uwe Sauerwein

von Uwe Sauerwein

23. Oktober 2023

HEUTE: 1. Friedrichstadt-Palast – „Falling | In Love“ / 2. Deutsches Theater – „Baracke“ / 3. Stachelschweine – „Steglitz, wir haben ein Problem!

1. Friedrichstadt-Palast - Viel mehr als lange Beine

"Falling | In Love" im Friedrichstadt-Palast © Nady El-Tounsy

Eine Show der Superlative: Mit 14 Millionen Euro Produktionsbudget ist „Falling | In Love“ das bislang kostspieligste Unternehmen im Friedrichstadt-Palast. Wobei ein beträchtlicher Teil der Ausgaben durch den Vorverkauf bereits abgedeckt sein soll. Das Kreativteam um Autor und Regisseur Oliver Hoppmann arbeitet mit Stardesigner Jean Paul Gaultier zusammen. Aber für die größte Strahlkraft sorgt die Kooperation mit Swarovski. 100 Millionen Kristalle hat das österreichische Unternehmen zur Verfügung gestellt. In allen möglichen Schliffen und Farben bringen sie die „Grand Show“ zum Funkeln, auch 280 der insgesamt 550 Kostüme, die Gaultier für diese Fantasiewelt entworfen hat. Der größte Kristall, 180 Kilo schwer, schwebt gegen Ende der Show wie ein Fetisch von oben herab.

Das klingt nach Materialschlacht. Nach Luxus und Protzerei. Doch für Anspruch und Botschaft der Show steht eine weiße Feder. Ein junger, gehörloser Poet, er heißt You, nutzt sie zum Schreiben. Für ein Mädchen namens Me bedeutet die Feder, leicht vom Winde verwehbar, die Freiheit. Über Umwege werden You und Me zusammenfinden. Und dabei für eine bessere Welt sorgen. Das ist nicht kitschig, sondern echt anrührend. Gerade in Zeiten wie diesen.

„Falling | In Love“ lässt ja erst mal eine Liebesschnulze erwarten. Doch der Trennstrich im Titel macht den Unterschied. So wie der junge Dichter im Stück glauben auch wir manchmal, dass uns irgendwie der Boden unter den Füßen wegzubrechen droht. So ist die ganze Swarovski-Pracht nicht nur positiv besetzt. Die starre Diamantenstadt lässt nur drei Farben, die Primärfarben Blau, Grün und Rot und somit auch nur drei Lebensstile zu, eine Vermischung ist nicht möglich. Auf You und vor allem die freiheitsliebende Me wirkt diese Stadt wie ein Gefängnis.


Es geht um menschliches Miteinander


Um aus der Welt einen besseren Ort zu machen, braucht es unter anderem Geduld. Etwas, das auch Andreis Jacobs Rigolo mit seiner Performance einfordert, ein für eine Show ungewöhnlich langer, aber am Ende heftig bejubelter Balanceakt über das zerbrechliche Gleichgewicht zwischen Natur und Mensch. Auch die anderen artistischen Beiträge stehen für das Ideal des Miteinanders. Am Bungee-Trapez sowie auf dem Trampolin wird gezeigt, was möglich ist, wenn Menschen sich scheinbar blind aufeinander verlassen können.

Die Liebe von You und Me hilft beim Überwinden der Systeme, die ihrerseits zu einem Ort der Toleranz und der Lebensfreude verschmelzen, einem „Garden of Love“. Gleichnamiges Gedicht des Briten William Blake inspirierte angeblich Palast-Intendant und Produzent Berndt Schmidt zu dieser berauschenden Show. Sie soll natürlich wie die früheren Produktionen Publikum aus aller Welt locken. Das dürfte gelingen, auch wenn diesmal die Texte wichtig sind, in Deutsch, Englisch – und Gebärdensprache.

Trotz der nachdenklichen Momente geht gerade im zweiten Teil die Post ab. Die Songs sind durchschlagender im Vergleich zur Vorgängershow „Arise“ (mehr dazu im Blog vom 27. September 2021). Das gesamte Ensemble, die Choreografien, die Band unter dem Musikchef Daniel Behrens schaffen eine Stimmung, die an opulente Pop-Konzerte erinnert, etwa an Madonna, deren berühmtes Outfit ja Gaultier entwarf, wie die spitzen Büstenhalter, die wir auch diesmal vorgeführt, bzw. vorgetanzt bekommen.

Mögen viele neue künstlerische Wege beschritten werden im Friedrichstadt-Palast, an der legendären Girlreihe (die, wenn man ganz genau hinschaut, auch aus Boys besteht) führen sie nicht vorbei. Dabei spielen diesmal nicht nur die langen Beine eine Rolle. Lassen Sie sich überraschen.

Friedrichstadt-Palast Berlin. Hier geht’s zu den Karten.


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2. Deutsches Theater - Familie als kleinste Terrorzelle

"Baracke" im Deutschen Theater © Thomas Aurin

Eine Liebesgeschichte. Oder etwa doch nicht? Wenn das erste Wort des Abends „irre“ lautet, das zweite „Krieg“, wenn kurz drauf ein bewaffneter Halbwüchsiger in Wehrmachtsklamotten ausruft „Ich bin der Hass“, dann kann man davon ausgehen, dass die Lovestory unschön endet. Um eine Gruppe von Jugendlichen in Thüringen geht es in „Baracke“ von Rainald Goetz, uraufgeführt am Deutschen Theater. Zwei Menschen finden in der Clique zusammen, Bea und Ramin. Die Liebe währt natürlich nicht ewiglich. Bea verbindet sich mit einem anderen Kumpel aus der früheren Jugendclique, mit Uwe, der sich im Aufbegehren gegen die Eltern politisch radikalisiert. Ein gemeinsames Kind kommt zur Welt, man feiert Hochzeit bei Münchner Verwandten und zieht später in das Dresdner Villenviertel Weißer Hirsch. Dort kommt es zu einem bösen Ende, das schon dreißig Jahre zuvor im bösen Anfang schlummerte.

„Baracke“ ist ein Familienstück. Der Büchnerpreisträger von 2015 redet über Familie, Gewalt und über Deutschland. In der Inszenierung von Claudia Bossard und im Bühnenbild von Elisabeth Weiß wecken Bilder, Vitrinen und Projektionen Assoziationen an einen Museumsrundgang. Man erfährt, wie rauschhaftes Verliebtsein über die Institution Ehe mit all ihren Zwängen irgendwann in Gewalt mündet.

Alle Macht geht von der Familie aus. Auch alle Gewalt, so Goetz. Zwischen Mann und Frau, zwischen Eltern und Kindern, zwischen Geschwistern. So erscheint die Familie als Keimzelle für alles Böse dieser Welt. Die kleinste Terrorzelle überhaupt.


Hinweise auf NSU-Mordserie


Terroristen haben es Goetz angetan. Der Münchener Schriftsteller, schlag- oder besser schnittartig 1983 beim Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt bekannt geworden, als er sich bei seiner Lesung die Stirn mit einer Rasierklinge ritzte, hat sich sowohl mit der RAF und dem Deutschen Herbst als auch mit den islamistischen Anschlägen von 9/11 auseinandergesetzt. Nicht zuletzt durch die Vornamen Uwe und Bea und den Hinweis auf Thüringen erkennt man beim neuen Stück von Beginn an den Kontext zur Mordserie des NSU.

Nur wehrt sich Goetz nach eigenem Bekunden gegen Eindeutigkeit. Ihm geht es nicht um die Abbildung der Realität, sondern um die „Kommunikationsformen, die gesellschaftliches Denken erst konstituieren“. Uff! „Baracke“ wird folglich als „Revolte des Sprechens gegen das Schweigen“ angekündigt. Wie das bei Revoluzzern oft so ist, sie neigen zu Übertreibungen, ein wenig Schweigen würde der Sache gut tun.

Die zweieinhalb pausenlosen Stunden geraten doch arg monologlastig. Der Text ist wenig theatertauglich, das Verständnis wird auch nicht leichter, wenn man ihm schon akustisch über manche Strecken schlecht folgen kann. Erstaunlich und anerkennungswert ist es, was die Regie mit diesem sperrigen Konstrukt anzustellen vermag. Immer wieder gelingen atmosphärisch dichte Momente. Regisseurin Bossard sorgt für viel szenische und auch akustische Abwechslung, mal mit, mal ohne Verstärkung, mal an der Rampe, mal auf Bildschirme übertragen.


Alles Banane?


Es gibt, man wundert sich, einiges zu lachen, wenn zum Beispiel die Beteiligten in einer REWE-Werbung als Banane oder Schokoriegel verkleidet rumtanzen. Die Darstellung macht den Abend durchaus sehenswert, etwa Mareike Beykirch als Bea. Eines der vielen neuen Gesichter, die mit der neuen Intendanz von Iris Laufenberg ans Haus gekommen sind und auf die man sich auch künftig freuen darf.

Trotzdem: „Die letzten 17 Minuten“, die Ansage vor der in Dresden spielenden letzten Szene, empfindet man fast als Versprechen. Dann ist auch Schluss mit lustig. Der Vater erhängt sich, weil er mit den NSU-Mördern Kontakt hatte und nun das ganze Ausmaß der rechten Terrorwelle erahnt.

Die eigentliche Dimension, das Leid der Opfer, das Versagen der Behörden und skandalöse Vertuschungsversuche, das bleibt bei Goetz außen vor. Hier wird der Terror auf patriarchalische Zwänge reduziert. Irgendwie verstörend.

Deutsches Theater, 11., 19. und 24. November. Hier geht’s zu den Karten.


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3. Stachelschweine - Ein großer Schritt für Steglitz

"Steglitz, wir haben ein Problem" bei den Stachelschweinen © Dirk Dehmel

Wenn man, so wie ich dieser Tage, auf den meist rappelvollen Schienenersatzbus wartet, dann würde man die Verantwortlichen für den Öffentlichen Nahverkehr am liebsten auf den Mond schießen. Und ausgerechnet Berlin plant nun die Expedition ins Weltall? Nicht auf den Mond, auf den Mars! Ja, sind wir denn hier im Kabarett? Sind wir, und zwar im Europa-Center bei den Stachelschweinen. Unter dem Titel „Steglitz, wir haben ein Problem!“ wird berichtet, wie Berlin zum Mars flog.

Mars macht mobil. So will ausgerechnet ein Bezirk im Süden der Hauptstadt das Bärenbanner auf dem roten Planeten hissen. Andere Regionen haben Tesla und SAP, Steglitz schmückt sich mit dem Kreisel und dem Bierpinsel (das Schlosspark-Theater bleibt unerwähnt). Daher planen lokale Visionäre den großen Coup. Mit Hilfe der Wirtschaftssenatorin soll ein bemanntes, bzw. befrautes Raumschiff vom Tempelhofer Feld starten, finanziert über den Länderfinanzausgleich. „Statt auf Geld setzen wir auf Fantasie, das haben wir von Hertha BSC gelernt.“

Ober-Stachelschwein Frank Lüdecke und Sören Sieg haben ein rasantes Textbuch verfasst, das trotzdem inhaltlich schlüssig ist. Natürlich ist der Trip ins All in der von Marcus Kaloff punktgenau inszenierten Geschichte nur der Aufhänger, um zu zeigen, wo es hakt in Stadt, Land und Gesellschaft.


Welten prallen aufeinander


Der Aufruf, sich als Berlinonaut zu bewerben, wird nur per Plakat in der U7 (die mal wieder nicht fährt) sowie beim RBB (dessen Zielgruppe 70 plus ist) veröffentlicht. Gerade mal drei Personen wollen deshalb mit zum Mars: ein links angehauchter Privatdozent, eine versponnene Künstlerin sowie eine Lidl-Kassiererin.

Welten prallen somit aufeinander, als man auf dem Mars darüber streitet, was nun anzufangen ist mit dem neuen Lebensraum. Soll der Mars zur neuen Erde werden? Gibt es vielleicht Ureinwohner, die es zu berücksichtigen gilt? Unten auf dem Alex startet derweil eine Demo „Hände weg vom Mars“. In der Talkshow bei Lanz warnt Alice Weidel vor einem unkontrollierten Zustrom von Außerirdischen. Und Amazon-Chef Bezos will den Marsbesiedlern Rasenmäherroboter andrehen, obwohl auf dem roten Planeten gar kein Gras wächst, oder doch?

Robert F. Martin, Heike Ostendorp und Santina Maria Schrader zeigen sich nicht nur als Berlinonauten in Topform. Im Affenzahn wechselt das Trio Rollen und Geschlechter, Kostüme, Frisuren und Tonfall. Man darf richtig ablachen, aber selten unter Niveau,

 

Berlin in seinem Lauf halten weder Scholz noch Söder auf, heißt es in einem der Songs, frei nach Honecker. Ich würde eher sagen: Das Schicksal dieser Stadt steht in den Sternen.


Die Stachelschweine.
Hier geht’s zu den Karten.

 

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