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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 437

Kulturvolk Blog | Ralf Stabel

von Ralf Stabel

24. April 2023

Heute: 1. Berliner Ensemble – „Ich hab die Nacht geträumet“ / 2. Halle Tanzbühne Berlin – „anderland“ / 3. Volksbühne – „Sardanapal“

1. Berliner Ensemble - Schwere Träume

"Ich hab die Nacht geträumet" im Berliner Ensemble © Ruth Walz

Ein Lied hat – mir zumindest – gefehlt: „Im Leben, im Leben geht mancher Schuss daneben“, obwohl dieser Song der eigentlich unüberhörbare Grund-Tenor dieser Veranstaltung gewesen sein muss. In der Pause hat ein Großteil des Publikums (in der Vorstellung, die ich gesehen habe) das Theater verlassen. Vielleicht dachten sie auch, das Stück sei hier schon zu Ende. Die, die verblieben waren, hatten die Pause dazu benutzt, sich etwas gute Laune zu verschaffen. So wurde der zweite Teil des Abends heiterer.

„Ich hab die Nacht geträumet“ – so der Titel dieser Inszenierung. Die Regisseurin Andrea Breth hat wohl tieftraurige Träume (gehabt). Für ihr „Schauspiel mit Musik“ hat sie Lieder und Texte ausgewählt, die sich – meinem Empfinden nach – alle in der Stimmung und in der Aussage gleichen und somit wiederholen. Entstanden ist eine musikalische Revue der düsteren Töne und Themen. Wem also nach Texten ist wie „Am Anfang wollt‘ ich fast verzagen“, „Der schwere Traum“, „Bevor du sterbst“, „Frag nicht, ob ich dich liebe“, „Nur wer die Sehnsucht kennt“ z. B. vor der Pause und dann „Traumbuch eines Gefangenen“, „Mach dir nichts daraus“ oder „Küss mich bis die Welt vergeht“ nach der Pause, der ist hier richtig.

In dieser szenischen Lied-Text-Collage werden alle Beiträge aber in einem Gestus vorgetragen, der die Werke in Frage stellt und entfremdet; ich möchte nicht schreiben, ins Lächerliche zieht. Und das geht mir kurz vor Schluss an der Stelle dann doch zu weit, als die reale „Abschlussansage einer Air Berlin Purserette vor dem allerletzten take off“ von 2017, abgelauscht einer Youtube-Aufnahme, in eben diesem Gestus vorgeführt wird. Dass Kunst Kunst „durch den Kakao zieht“, ließe sich durchaus akzeptieren. Aber existenzielle Krisen vieler tausender Mitarbeiter*innen für Klamauk zu verwursten, halte ich für inakzeptabel.

Hausgeist Bertolt Brecht hätte seine wahre Freude an der durchaus kafkaesken Ausstattung von
Raimund Orfeo Voigt (Bühne) und Jens Kilian (Kostüme) gehabt, denn seine legendäre Aussage „Mir sind alle Farben recht, Hauptsache, sie sind grau“ ist hier vor-bildlich umgesetzt.

Wenn man schon des Öfteren im Theater war, erinnert man sich natürlich permanent an Vorheriges. So kam es mir vor, als hätten ständig Pina Bausch, Christoph Marthaler und andere ihre Kommentare zur Regie abgegeben. Erst nach drei Stunden ist dieser traurige Reigen vorüber. Wer nach der Devise leben kann „Geteiltes Leid ist halbes Leid“, kann sich an dieser so leidvollen Inszenierung laben.

Die Regisseurin gibt im Programmheft bekannt: „Ich bin ratlos und sprachlos. Ich kann nur noch Fragmente erzählen. Ich sehe mich nicht in der Lage ein stringentes Drama zu inszenieren, was ich eigentlich gern tue. Meine ganze Ratlosigkeit macht sich breit in einer Art von leiser Zerfetzung.“ Und das muss man den Darsteller*innen dann hoch anrechnen: Diese Zerfetzung verkörpern sie meisterhaft. Und wie ein Hoffnungsschimmer bricht diese so moll-ige Konzeption des Abends
am Piano ganz hervorragend Adam Benzwidann doch noch am Schluss, als „Gib mir den letzten Abschiedskuss“ wirklich berührend gesungen wird. Dafür danke!

Berliner Ensemble, 25. und 26. April, 3. und 4. Juni. Hier geht’s zu den Karten.


***

2. Halle Tanzbühne Berlin - Tanz durchs Ungewisse

"anderland" in der Halle Tanzbühne Berlin © Cristiano Primi

Bei Toula Limnaios und den Aufführungen ihrer Compagnie versammeln sich stets die Berliner Tanz-Zeitgenoss*innen.
Die Bühne und die sehr steile Zuschauer-Tribüne mit ihren sehr guten Sichtverhältnissen sind anfangs durch eine Folie getrennt, hinter der Bewegung, Leben auszumachen ist. Als dann dieser „Vorhang“ fällt, gibt er den Blick frei auf vier Frauen und drei Männer, die seltsam, weil so konventionell, gekleidet sind: die Tänzerinnen barfuß und im scheinbar gleichen schwarzen Kleid, die Tänzer mit unterschiedlichen Hosen, Hemden und Schuhen. Die Herren erhalten so Individualität, die Frauen so nicht. Auszumachen ist an der linken Bühnenseite ein Berg zerknüllter, also alter Zeitungen; hinten steht ein Stapel neuer an der Wand.

Anfangs scheinen alle mit sich selbst und dem suchenden Betasten von Kopf und Oberkörper beschäftigt. Man kann sich viel dabei denken, aber was dachte die Choreografin? Im Programmheft steht, dass das Stück „von der Sehnsucht nach greifbarer Wirklichkeit“ handele und „über das Streben nach Glück und den Schleier der Schwermut.“ Diese Schwermut wird dann doch durch Sprünge und Schwünge im Raum überwunden, bis unvermutet eine der Frauen, einem erwählten Opfer gleich, von allen anderen einvernehmlich malträtiert wird. Das Dasein als immerwährender Kampf? Aus den Lautsprechern dringen bedrohliche Sprachfetzen.

Doch wird vom Opfer abgelassen, als
das Requisit des Abends ins Spiel kommt: ein Ventilator. Über ihm fliegen Haare und Kleidung. Nach gut 40 Minuten kommt es zu einem Zeitungs-Tanz. Die Darsteller*innen wedeln mit eben jenen Seiten, kleben sich diese vors Gesicht und verfüttern sich gegenseitig und widerwillig die Gazetten. Wie von Geisterhand fliegt dann auf einmal ein Schleier über dem Ventilator und wird von einer Tänzerin geschickt und lange Zeit in der Schwebe gehalten. „anderland“ sei „die hellere Seite eines Diptichons über die Luftigkeit in der Schwere und der unerträglichen Leichtigkeit des Seins“, heißt es dazu im Begleittext. Anschließend werden dann auch die Zeitungsfetzen in der Horizontalen ventiliert – gegen ein Paar.

So ist schließlich die gesamte Bühne mit den Nachrichten von Vergangenem bedeckt und alle fangen an, sich in diesem Müll der Zeit – wie Kinder im Laub – zu wälzen. Es sieht spielerisch aus, doch weder in den Gesichtern noch in den Bewegungen drückt sich die Freude aus, die ansonsten ein Spiel ausmacht.

Das Publikum schaut nachdenklich und das soll es wohl auch, denn das Stück „hinterfragt die Empfindung und Wahrnehmung der Zeit, den Wunsch nach Verwurzelung und dabei doch immer wieder die Flüchtigkeit des Lebens vor Augen zu haben.“

Am Ende agieren vier Darsteller*innen als zwei Paare und die anderen als Individuen wieder isoliert voneinander. Ist das also unser Schicksal?

Dann wird es – nach einer guten Stunde – dunkel auf der Bühne und die Zeitgenoss*innen im Publikum applaudieren, trampeln und jubeln anerkennend und ausschweifend. Und das ist auch gut so.

Halle Tanzbühne Berlin, 26. bis 29. April 2023. Hier geht’s zu den Karten.


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3. Volksbühne - Haus der jungen Talente

"Sardanapal" in der Volksbühne © appoloniatheresabitzan

In der Volksbühne gibt es wieder Schüler-Theater, heute natürlich Schüler*innen-Theater: Jugend tanzt, musiziert und spielt.

Vermutlich hieß die Aufgabenstellung dafür so: Diskutieren Sie die Tragödie
„Sardanapal“ von Lord Byron aus dem Jahr 1821. Beachten Sie dabei die Umstände der Zeit. Lassen Sie Informationen über die Persönlichkeit des Autors einfließen und geben Sie die Handlung des Stückes wieder, indem Sie Hauptfiguren wie den König Sardanapal und seine Geliebte, die Sklavin Myrrha, mit den Mitteln des darstellenden Spiels vorführen. Stellen Sie auch Bezüge zum Heute her und lassen Sie Ihre persönliche Meinung und Ihre eigenen Assoziationen einfließen. Wählen Sie dem Werk angemessene Formen und Materialien, um Ihre Aussagen zu visualisieren.

Die Schüler*innen haben clevererweise Unterstützung von
Lilith Stangenberg und Fabian Hinrichs. Eigentlich sollte Hinrichs „nur“ die Regie übernehmen, aber dann fiel der für die Rolle des Königs Vorgesehene so kurzfristig aus, dass dies vor der Premiere verkündet werden und so Hinrichs auch dessen Part übernehmen musste. Die Rettung des Projektes für die vielen jungen Darsteller*innen in sprichwörtlich letzter Sekunde ist so bemerkens- wie lobenswert. Außerdem entbehrte sie nicht einer gewissen Komik, wenn Sardanapal z. B. mit Myrrha im Fluss Lethe (hier in einem Holzzuber) badet und beim Untertauchen immer den Arm mit dem Skript draußen lassen muss, damit der viele Text durch Feuchtigkeit nicht unlesbar wird.

Das Ergebnis sieht so aus: Die beiden Hauptfiguren lernen sich als Kunde und Kassiererin an einer REWE-Kasse kennen. Die dann musizierenden
Mitglieder des Jugendsinfonieorchesters Berlin am Georg-Friedrich-Händel-Gymnasium und die dann Tanzenden des Flying Steps Diploma Programms sowie die noch dazu engagierten Tänzer*innen sind sinnigerweise auch Supermarkt-Kund*innen und damit dann alle gleich auf der Bühne. Natürlich wird das Stück „Sardanapal“ nicht gespielt. Zu erleben ist ein assoziativer Szenen-Reigen, der sich um das Stück herumschlängelt, es mit eigenen Gedanken überschreibt und somit hinterfragt.

Einer Prüfungskommission würde die Bewertung und Benotung nicht leicht gemacht. Im Berliner Zeitungs-Blätter-Wald hagelt es inzwischen unerbittlich, und die Umstände, unter denen die Premiere über die Bühne ging, sind auch unglücklich. Doch das Engagement der jungen Künstler*innen ist allemal beachtlich an diesem Abend, den ich insgesamt durchaus als unterhaltsam und kurzweilig empfunden habe.

Beeindruckt haben mich insbesondere die Szene, in der zehn Darstellerinnen in weißem Gewand und mit Stäben verlängerten Armen, wie einst Loïe Fuller, die berühmte Serpentinen-Tänzerin, nach der die Rolls Roys Kühlergrill-Figur gefertigt wurde, agieren; die Schlussszene, in der Sardanapal und Myrrha auf hohem Podest stehend mit Fackeln in der Hand vor loderndem Hintergrund sich kurz vor ihrem Feuertod ihrer Liebe versichern und mich das an Leni Riefenstahls Olympia-Filme denken ließ; und selbstverständlich: Lilith Stangenberg mit ihrer physischen Präsenz – es geht um Sehnsüchte und Ängste, um Liebe und Tod – und ihrer so unverkennbaren die Vokale ziehenden, hauchenden Stimme!

Nicht vergessen seien
Sir Henry am Piano und Preda Bâzga mit Saxofon, die den Abend begleiteten und umrahmten.

Ann-Christine Müller und der Regisseur haben übrigens beeindruckende, wirkliche Bühnen-Bilder entworfen, von denen es leider noch keine Fotos gibt. Sie müssten also selbst hingehen, um sich das anzusehen. Es ist kurzweilig und obwohl schon über 200 Jahre alt wegen der jugendlichen Darsteller*innen doch auch ein lichter Blick in die Zukunft.

Ein Tipp: Versuchen Sie Randplätze in den unteren Reihen zu bekommen. Es werden 100 Becher Wein während der Vorstellung gereicht: Wohlsein!

Die Volksbühne weist zum Stück auf einen längeren Text hin, den Hinrichs bereits 2019 in der FAZ veröffentlicht hatte. Er sei Ihnen nicht vorenthalten:
https://www.volksbuehne.berlin/#/de/repertoire/sardanapal

Volksbühne, 4. und 27. April, 7. und 30. Mai. Hier geht’s zu den Karten.

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