HEUTE: 1. Maxim Gorki Theater – „Drei Schwestern“ / 2. Volksbühne – „Sturm und Drang“ / 3. Nochmal Volksbühne – „Theaterfest zum 100. Geburtstag von Benno Besson“
Anno 1979 war im Gorki der ganz große Premierenauflauf: Thomas Langhoff, Superstar der DDR-Szene, inszenierte Tschechows „Drei Schwestern“, das Stück (der Stunde) über die quälende Sehnsucht nach einem freien, glücklichen Dasein. Es wurde sogar 1982/83 fürs DDR-Fernsehen verfilmt, blieb mit 157 Aufführungen bis 1993 im Repertoire und zählte, zusammen mit Volker Brauns hochpolitischer Fortschreibung in sinnigerweise gleicher Besetzung ein Jahrzehnt später („Die Übergangsgesellschaft“), zu den größten Erfolgen des Gorki – wie des DDR-Theaters überhaupt.
Jetzt wird das Gorki siebzig – der passende Anlass, im szenischen Spiel zurück zu schauen. Zu fragen, wie schmerzlich aktuell damals der alte Text wahrgenommen wurde von den Darstellerinnen der Olga, Mascha, Irina mit ihren vergeblichen Träumen von einem zum besseren veränderten Leben; wie das Publikum darauf reagierte mit seinen Erfahrungen einer eingemauerten, stagnierenden Gesellschaft. Und wie es heute steht um die alten Sehnsüchte, Illusionen, Utopien.
Gute Idee, Theatergeschichte kurz zu schließen mit Gegenwärtigem
Also griff sich Regisseur Christian Weise das historische Filmdokument von 1984 und spulte die Kassetten, grobkörnig verzerrt (der zeitliche Abstand) ab vom Monitor. Der Ton bleibt gedimmt, dafür Live-Gedudel einer Elektro-Orgel. Dazu spricht eine Gruppe durchweg männlicher Schauspieler in froschgrünen Ganzkörperanzügen den Text wie im Synchronstudio und stellt obendrein noch die Gestik der Figuren aus den TV-Flimmerkisten im Rücken nach. Ein Dressurakt.
Sinnlosigkeit als avancierte Methode
Was Gelächter auslöst im Saal. Tschechow, Langhoff, das wunderbare Gorki-Ensemble von damals bloß als Witz vorgeführt. Mal mit Fröschen, mal im Look von Prinz Eisenherz. Immer schön nachgeäfft die Langhoff-Inszenierung. Diese Sinnlosigkeit soll, so die Ansage, ein „Reenactment“ sein. Die Dramaturgie spricht großspurig von „Rückeroberung des Films für die Bühne“. Man meint, „die respekt- und mühevolle Einverleibung des Vergangenen“ könne „einen besonderen Raum eröffnen“. Doch da ist kein besonderer Raum. Und Respekt gleich gar nicht.
Aber halt, ein paar neu hinzugefügte, aktuelle Videoschnipsel zeigen die „Alt“-Schwestern Monika Lennartz und Ursula Werner im Interview mit ein paar Sätzen übers einst und jetzt. Dabei fällt der lakonische Satz: „Die Zeiten damals waren schlechter, die Theaterarbeit besser.“
Wäre disskussionswürdig. Doch die gefühllose, hochmütige Regie ignorierte die Bemerkung. Wie alles, was da war und was heute ist. – Glückwunsch zum Geburtstag, trotzdem.
Gorki-Studio, 9., 10., 14., 15. November. Hier geht’s zu den Karten.
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Wo ich bin, ist Deutschland, meinte Thomas Mann. Gleiches gestand er Goethe zu. In „Lotte in Weimar“, seinem zwischen 1936 und 1939 entstandenen, so unterhaltsamen wie geistreichen, obendrein politischen Roman (Ach, diese lieben Deutschen!), da beschreibt er den Weimar-Besuch 1815 der Charlotte Kestner, geborene Buff, und das Wiedersehen mit „dem Alten“, ihrer Jugendliebe. Ist doch die ergraute Dame jene Lotte, die 1771 den damals 23jährigen Heißsporn Goethe zu seinem Bestseller „Die Leiden des jungen Werther“ inspirierte.
Bemühungen ums Große
Passagen aus beiden Klassikern und noch dazu Zitate von Klopstock, Hölderlin, Jünger sowie aus Manns Novelle „Tod in Venedig“ (1912) verschnitt der Regisseur Julien Gosselin zu einer pausenlosen (!) Dreieinhalb-Stunden-Collage „Sturm und Drang. Geschichte der deutschen Literatur I“. Der Franzose, Jahrgang 1987, im Nachbarland sehr bekannt durch Roman-Adaptionen und Literatur-Puzzles, greift also ins ganz Große, zur deutschen Literaturgeschichte. Und verspricht kühn weitere Teile derselben.
Um es gleich zu sagen: Wir sind nicht sonderlich gespannt auf die Fortsetzungen. Ist doch schon die erste Vorlesung nebst Versuchen, zugleich in Tiefen und Untiefen deutschen Wesens (oder Unwesens?) durchzudringen, wenig erhellend. Was da wie und warum stürmt und wohin es drängt (ins radikal Innerliche, ins Totalitäre?), kein Lüftchen der Erkenntnis dringt aus dem zweigeteilten Sperrholzbühnenbild von Lisetta Buccellato.
Da sehen wir zum einen das mit billigem Trödel dekorierte Hotel „Elephant“ zu Weimar (die spätere Hitler-Absteige), wo Charlotte, ankommend mit wackeliger Postkutsche, residiert. Zum anderen die ärmliche Behausung Charlottens in Wetzlar.
Thomas Mann und Goethe gemixt auf der Drehbühne
Im Dämmer der abwechselnd auf der Drehbühne vorgezeigten Gehäuse steckt das jeweils passende Personal des Mannschen oder Goetheschen Romans: u.a. Benny Claessens als depressiver Hofrat Riemer, Hendrik Arnst im aggressiven Kommandoton als Hotelkellner Mager, dazu die beiden Hauptpersonen von Goethes Briefroman Marie Rosa Tietjen als knäbischer Werther und Victoria Quesnal im Doppel als Girlie-Lotte oder unentwegt entgeisterte Kästner-Buff. Und alle rattern sie – noch mikrophonverstärkt ‑ emsig mit Text. Wir erleben es auf gleich drei ausladenden Leinwänden – der Franzose liebt auch das Kino auf der Bühne.
Martin Wuttke im deutschen Mythen-Wald
Nach zwei Stunden Szenenwechsel. Raus aus Weimar wie Wetzlar und rein in den düsteren deutschen Mythen-Wald mit Baumriesen aus Pappmaschee. Drunter schwingt Superstar Martin Wuttke als Geheimrat G. nervös hochgespannt und groß gerahmt Reden über Leiden und Wuchten genialen Künstlertums: „Ich bin Schoß und Samen zugleich.“ Und brät schließlich zu ziemlich später Stunde dem großen Lümmel, dem Volk, noch fix eins über: „Wenn ich tot bin, werden sie sich wieder ausdrücken wie die Ferkel.“
Alles in allem: Ein schier endloses Zitaten-Leporello, wie der märchenhafte Brei, den kein Zauberlehrling, kein Publikum in den Griff bekommt, derweil die Regie längst schon den Löffel abgab. Doch keine Sorge: Die deutsche Literaturgeschichte samt des Stürmens und Drängens bleibt uns ja im Netz. Man darf, bitteschön, googeln.
Volksbühne, 13. November, 18 Uhr. Hier geht’s zu den Karten.
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Brecht hat er 1947 am Zürcher Schauspielhaus kennengelernt, als Student, der etwas von ihm „ganz lustig“ inszenierte. „Da hat er mich eingeladen nach Berlin“, so Benno Besson in seinen Erinnerungen. „Doch nach seinem Tod passte ich plötzlich nicht mehr ins Kollektiv.“ Es war das Undogmatische, Lebenspralle und zugleich elegant wie intelligent Komödiantische, das den Gralshütern Brechts missfiel am „kleinen B.B.“, der 1949 ans BE kam und alsbald mit einem hämisch antiautoritären „Don Juan“ von Molière für Feuer sorgte.
Erfinder des Prinzips Volksbühne
1958 verließ der bunte Vogel das in epischer Didaktik erstarrende Haus und ging, nach Zwischenspielen im Westen – immer war er ein Wanderer zwischen den Welten – ans DT als Chefregisseur. Dort kam er durch die so einfache wie artifizielle Verquickung von poetischem Witz mit dem hintergründig Politischen zum ganz großen Ruhm mit den epochemachenden Inszenierungen „Der Frieden“ (Peter Hacks nach Aristophanes) und „Der Drache“ von Jewgeni Schwarz.
Doch auch hier düpierten ihn alsbald die Neider seines Erfolgs. So wechselte er 1969 an die Volksbühne. Hier konnte er sein „Theater für die Leute“ zum Blühen bringen und aus diesem Theater sein Gesamtkunstwerk formen. Frank Castorf über seinen Vor-Vorgänger-Chef: „Er kreierte das Prinzip Volksbühne.“ Ein politisch packendes, schlitzohriges Volkstheater, das bei aller Kunstfertigkeit alles Tempelhafte der Kunst sprengt. Seine Spektakel und Happenings vom Keller bis unters Dach und nach draußen machten groß Schule – nicht nur in der DDR. Besson: „Mir wurde nichts verboten, aber wir waren sehr wohl sehr privilegiert.“ Bis auch hier wieder die Apparatschiks zuschlugen, und Besson 1978 den Hut nahm.
Gegen Originalität um jeden Preis
Besson pochte auf ein „Theater der Sinnlichkeit“. Verkopftes und Grobes waren diesem weisen Spaßmacher und genialischen Traditionalisten, diesem bei all seiner sprühenden Phantasie stets geerdeten schweizerischen Bauernsohn wesensfremd. Über den gegenwärtigen Bühnenbetrieb meinte er noch kurz vor seinem Tod in einem Berliner Krankenhaus im Februar 2006, die Regisseure wollten Originalität um jeden Preis, ignorierten hochmütig die Tradition. Das sei eitel individualistisch. „Die Kunst der Antike hat den Menschen situiert innerhalb des Kosmos und der Natur. Die Kunst heute sieht ihn gern davon losgelöst. Ein Niedergang.“
Was für ein bedenkenswertes Schlusswort eines bedeutenden Regisseurs, der am 4. November 1922 geboren wurde. Anlässlich seines 100. Geburtstags gibt es in der Volksbühne ein großes B.B.-Theaterfest. Motto: „Spielen! Spielen! Spielen!“
Volksbühne, 4. November, 20 Uhr. Im Anschluss der Dokfilm „Benno Besson – Der fremde Freund“ (Schweiz 1992, Regie Philippe Macasdar).
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Extra Tipp: Deutsches Theater – Buchpremiere „Theater in Deutschland“
Der große Theatermann Günther Rühle verstarb im gesegneten Alter von 97 Jahren am 10. Dezember 2021. Bisher erschienen die ersten beiden Bände seiner einzigartigen deutschen Theatergeschichte, ein Monument, ein Jahrhundertwerk, das die deutsche Theatergeschichte von 1887 bis zum Ende der NS-Herrschaft (Band 1) und weiter von 1945-1966 (Band 2) detailliert beschreibt. Jetzt erschien posthum der ergänzende dritte Band (800 Seiten, 98 Euro, S. Fischer-Verlag Frankfurt am Main), betreffend die Zeit von 1967 bis zum Tod von Heiner Müller am Jahresende 1995. Dieser dritte Band wurde nach Rühles Tod aufgrund umfangreicher Manuskripte endgültig fertig gestellt und herausgegeben von Hermann Beil und Stephan Dörschel.
Am 7. November, 19.30 Uhr, gibt es im Rangfoyer des Deutschen Theaters eine Buchpremiere mit Beil und Dörschel einschließlich einer Lesung von Ulrich Matthes (Mehr dazu und über Günther Rühle im Blog 388 vom 21. März 2022).
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Buch-Tipp Die ganze Welt ist Bühne
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