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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 413

Kulturvolk Blog | Uwe Sauerwein

von Uwe Sauerwein

24. Oktober 2022

Heute: 1. Kabarett-Theater Distel – "Wer hat an der Welt gedreht?" / 2. Renaissance-Theater – "Ewig jung" / 3. Atze Musiktheater – "Der Hauptmann von Köpenick"

1. Kabarett-Theater Distel - Wozu sind Witze da?

Davon geht die Welt nicht unter: Fred Symann, Stefan Martin Müller, Nancy Spiller, Frank Voigtmann und Matthias Lauschus © Robert Jentzsch
Davon geht die Welt nicht unter: Fred Symann, Stefan Martin Müller, Nancy Spiller, Frank Voigtmann und Matthias Lauschus © Robert Jentzsch

Erinnern Sie sich noch an die Zeichentrick-Serie mit Paulchen Panter? Jede Folge endete mit dem Song „Wer hat an der Uhr gedreht?“ In der Distel, dem Kabarett-Theater an der Friedrichstraße, hat man dieses Zitat leicht verfremdet. „Wer hat an der Welt gedreht?“ heißt das aktuelle Programm. Man bekommt eine düstere Ahnung, dass es wirklich schon zu spät sein könnte für unsere geliebte Erde.

Doch wann hat die viel beschworene Zeitenwende eigentlich stattgefunden? Mit Putins Angriff auf die Ukraine? Mit dem Auftauchen eines bis dato unbekannten Krankheitserregers? Mit dem Klima-Wandel? Oder Ende 1970? Das war das letzte Jahr, in dem wir Menschen nicht auf Kosten nachfolgender Generationen unseren Planeten plünderten.

Laut einer Umfrage würde mehr als die Hälfte aller Deutschen lieber in der Vergangenheit leben. Warum, darüber haben sich Robert Schmiedel und Frank Voigtmann den Kopf zerbrochen. Das Autorenduo verfasste bereits mehrere Programme für die Distel, zuletzt 2019 den Publikumsrenner „Skandal im Spreebezirk“.

Voigtmann führte erneut auch Regie und steht wieder als Darsteller auf der Bühne, mit Nancy Spiller und dem erfahrenen Kollegen Stefan Martin Müller. Als Müller 1995 in der Distel anfing, konnte man auf der Bühne noch Herrenwitze erzählen. Im neuen Programm wird denn auch nicht nur über die aktuelle Weltlage gerätselt, es geht auch um den Generationenkonflikt im Kabarett, um das heutige Selbstverständnis des Satirikers.


Weltbilder geraten in Schieflage


Wir erleben die erste Leseprobe zum neuen Stück. Da wird über Texte gescherzt und gestritten, werden Ideen ausprobiert und verworfen. Denn in der heutigen Zeit müssen Themen anders gedacht werden. Gerade dann, wenn so manches Weltbild in Schieflage gerät, wenn Nazis als grüne Müslis daherkommen und Grüne im Nadelstreifen-Outfit, wenn Ideale und Prinzipien in Vergessenheit geraten oder sogar die Seiten wechseln.

Man ertappt sich selbst bei Vorurteilen, bezichtigt Kollegen der Intoleranz. Wozu sind Witze da, worüber darf im Zeitalter von Wokeness, Cancel-Kultur, Gendern und Gender:innen überhaupt noch gescherzt werden? Förmlich mit Händen zu greifen ist in manchen Momenten die Unsicherheit des Publikums: Kann ich jetzt über diese Pointe laut lachen oder haben mir die da vorne auf der Bühne eine Falle gestellt? Aber keine Bange, der Humorfaktor des Abends ist hoch.

Ein Glanzpunkt ist Voigtmanns Tanz auf drei Beinen, drastisches Beispiel einer Impfnebenwirkung. Lustig auch Müllers Solo „Wir Männer vom Kollwitzplatz“ über den Mann um die 60, der mit einer Frau um die 30 rund 180 Quadratmeter bewohnt, eine Nummer, die an ältere, mehr Berlin-bezogenen Distel-Abende erinnert. Noch mehr als früher machen auch die beiden Musiker Matthias „Felix“ Lauschus und Fred Symann als gleichberechtigte Darsteller eine gute Figur. So brilliert Lauschus in der Rolle des tschechischen Schlagzeugers, den alle für einen Ukrainer halten.

Gegen Ende geht es um die Zukunft der Erde. Wenn man im Urlaub nicht mehr ans Mittelmeer fährt, weil das Mittelmeer zu uns kommt. Eine der Szenen, bei denen man schon mal schlucken muss. Aber wir leben ja auch in harten Zeiten.

Kabarett-Theater Distel, wieder ab 1.11. Hier geht’s zu den Karten.


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2. Renaissance-Theater - Rock ’n’ Roll im Altenheim

Ewig jung, auch mit 100: Das Renaissance Theater feiert Jubiläum © Renaissance-Theater
Ewig jung, auch mit 100: Das Renaissance Theater feiert Jubiläum © Renaissance-Theater

Wir wollten es zunächst kaum glauben. In mehr als 400 Kulturvolk-Blogs haben wir bislang kein einziges Mal über „Ewig jung“ berichtet. Im Oktober 2009, vor 13 Jahren, feierte die Produktion im Renaissance Theater Premiere. Seitdem erweist sie ihrem Titel alle Ehre. Auch jetzt wieder, bei der wer weiß wievielten Wiederaufnahme, erntete das Songdrama von Erik Gedeon ausgelassenen Jubel.

Eine Handvoll bekannter, in die Jahre gekommener Mimen, hockt im Jahr 2050 in dem Haus, in dem sie einst engagiert waren. Das Theater ist schon lange geschlossen, die Künstlerinnen und Künstler haben es zu ihrem Seniorensitz erkoren. Auf verschlissenen Sesseln und Sofas aus dem Fundus erinnern sie sich an große Zeiten und die Songs ihrer Jugend.

„Ewig jung“ zählt zu den erfolgreichsten Produktionen des Theaters. Vom Erfolg des von Gedeon selbst inszenierten Stücks wurden ähnliche Songspiele des Hauses inspiriert. Die formidable Besetzung ist immer noch dieselbe. Da die Premiere schon so lange zurück liegt, gibt es leider keine honorarfreien Pressefotos mehr. Vertrauen Sie diesmal bitte ausschließlich der Kraft des Wortes!


Rüstige Revoluzzer


Fast alle spielen sich selbst, bzw. das, was sie in einigen Jahren sein könnten. Dieter Landuris als Tattergreis, furchtbar hustend, mit Gehhilfe und einem Goldfisch im Glas. An seiner Seite, stocksteif, Guntbert Warns, heute Intendant des Hauses. Man erinnert sich noch an die Zeit, als beide Schauspieler als Spontis in der Urbesetzung von „Linie 1“ am Grips herumhüpften. Timo Dierkes, dessen Seemannskiste Porträts von Che Guevara und John Lennon zieren, tritt als Alt-Hippie auf.

Es ist ja die Generation der Revoluzzer und Blumenkinder, die hier ihre besten Zeiten beschwört. Die spielten bei der großartigen Katharine Mehrling in einem Baumhaus. Das wurde mal errichtet, um gegen den Bau einer Autobahn zu protestieren. Außerdem konnte man darin, Frau Mehrling lässt kein Detail aus, hemmungslos der freien Liebe frönen. Die Erinnerungen von Anika Mauer wiederum gelten glanzvollen Stunden im Renaissance Theater.

Viele Songs, mit erstaunlicher Power und Musikalität vorgetragen, passen zum Thema Altern, von „Talking Bout My Generation“ über „Staying Alive“ bis zu „Forever Young“. Der senile, scheinbar taube Pianist Harry Ermer haut dazu wie ein Wilder in die Tasten. Ein dicker Joint beschleunigt die Hochstimmung. Alles könnte so schön sein, wäre da nicht Schwester Angelika, verkörpert vom Musical-Star Angelika Milster, die ihre Hassgefühle gegenüber ihren pflegebedürftigen Schützlingen auslebt. So kommt es zum Methusalem-Komplott. Die Alten wehren sich, unter anderem mit einer Flinte…

Ob es ein Leben nach dem Tod gibt? Auf jeden Fall sollte man das Beste aus dem Leben vor dem Tod machen. „Ewig jung“, im Dezember wieder zu erleben, ist in diesem Sinne eine mentale Vitaminspritze. Und passt wunderbar zum Jubiläum, das am 29. Oktober mit einer großen Gala gefeiert wird (eventuell gehen Restkarten noch in den Verkauf). Ab 9. November kehrt zudem Guntbert Warns’ Inszenierung von Shakespeares „König Lear“ auf den Spielplan zurück (siehe Blog Nr. 370 vom 18.Oktober 2021).

Renaissance-Theater, „Ewig jung“, 13.-18. Dezember. Hier geht’s zu den Karten.

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3. Atze Musiktheater - Gute Menschen, schlechte Menschen

Boxt sich durchs Leben: Markus Braun als Schuster Wilhelm Voigt in „Der Hauptmann von Köpenick – Wie ich wurde, was ich wurde“  © Atze Musiktheater
Boxt sich durchs Leben: Markus Braun als Schuster Wilhelm Voigt in „Der Hauptmann von Köpenick – Wie ich wurde, was ich wurde“ © Atze Musiktheater

3. Atze Musiktheater: Gute Menschen, schlechte Menschen

Am 16. Oktober 1906 fuhr der Schuster Wilhelm Voigt von Berlin ins benachbarte Köpenick, begleitet von einem Trupp Soldaten, die ihn seiner Uniform wegen für einen echten Hauptmann hielten. Die Eindringlinge besetzten das Rathaus, verhafteten den Bürgermeister und raubten die Stadtkasse. Dabei ging es Voigt gar nicht ums Geld. Er benötigte dringend einen Pass, um nicht wieder, wie so oft in seinem Leben, ausgewiesen zu werden. Doch dummerweise gab es im Köpenicker Rathaus keine Pass-Stelle.

Der Coup, über den damals ganz Deutschland und selbst der Kaiser lachte, war also aus reiner Verzweiflung geschehen. Als Köpenickiade ging er in den deutschen Sprachgebrauch ein. Carl Zuckmayer schilderte die Geschehnisse in seinem großartigen Drama als krasses Beispiel für preußischen Untertanengeist. Kann ein ganz junges Publikum heute noch nachvollziehen, was absoluter Gehorsam und Uniformgläubigkeit bewirken können?

Im Atze Musiktheater steht weniger der Schelmenstreich im Rathaus, sondern das Leben des Schuhmachers im Blickpunkt. Statt auf Zuckmayers Stück griff Thomas Sutter für „Der Hauptmann von Köpenick“ als Autor und Regisseur auf Voigts Autobiografie zurück. „Wie ich wurde, was ich wurde“ lautet der Untertitel der szenisch-musikalischen Erzählung für Menschen ab zehn.


Schicksal eines Ausgestoßenen


Eine Geschichte, die komische Momente bereithält, aber streckenweise doch sehr traurig und manchmal brutal ist. Es geht um das Schicksal eines ständig Ausgestoßenen, der von seinem Vater, einem vom Krieg traumatisierten Säufer, misshandelt und rausgeschmissen wurde. Wegen Bettelei landet Wilhelm erstmals hinter Gittern. Vorbestraft, das bedeutet keine Anstellung, ohne Arbeit gibt es keine Wohnung, ohne Wohnsitz keine Aufenthaltsgenehmigung und daher keinen Pass. Ein riesiger Stempel (Bühne: Ulv Jakobsen), der Wilhelm fast erdrückt, symbolisiert die bürokratische Odyssee.

Natürlich ist das Ganze kein Historiendrama. Gewalt in der Familie, Kampf mit den Behörden, das sind ja durchaus Probleme von heute. Auch die Frage, was einen guten Menschen ausmacht und welche Werte uns wichtig sind. Eine tragende Rolle spielt wie immer im Atze die Musik. Sinem Altan, vielfach ausgezeichnete Komponistin, hat einen gefühlvollen, zum heutigen Berlin passenden Orient-Okzident-Mix geschrieben. Alle Instrumentalisten, darunter Özgür Ersoy, Virtuose auf der türkischen Langhalslaute Baglama, sind wie die Schauspielerinnen und Schauspieler auch darstellerisch in vielen Rollen aktiv.


Kein Mensch ist illegal


Sandro Constantini
verkörpert die zahlreichen autoritären Männer in Voigts Leben, Nina Lorck-Schierning spielt neben Wilhelms Mutter, die von ihrem Mann zu Tode geprügelt wird, auch eine geflüchtete Frau, die im Rathaus Köpenick wie Voigt nach einem Pass sucht. Denn ein Leben ohne Pass ist kein Leben, das wissen Millionen Menschen auch heute.

Viele Zeitsprünge gibt es in der Geschichte, die Franziska Marie Gramss als Voigts Schwester Marie erzählt. Selbst als Erwachsener muss man sich konzentrieren, um die Handlung gut verfolgen zu können. Dass Markus Braun in der Titelrolle immer gleich alt ist, ob als Kind oder als Hauptmann von Köpenick, macht die Identifikation nicht leichter. Zumal er mit Nikolaus Herdieckerhoff noch ein Alter Ego erhalten hat, das die Gewissenskonflikte verdeutlichen soll.

Ob Wilhelm ein guter oder schlechter Mensch ist, ist leicht zu beantworten, auch wenn der falsche Hauptmann eben nicht als preußischer Robin Hood idealisiert wird. Man spürt durchaus, dass das Schicksal des Schusters auch die Jüngsten im Auditorium berührt.

Atze Musiktheater, 27. November; 4. , 26., 27. und 28. Dezember. Hier geht’s zu den Karten.

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