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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 408

Kulturvolk Blog | Ralf Stabel

von Ralf Stabel

19. September 2022

Heute: 1. "Intolleranza 1960"– Komische Oper Berlin / 2." Ophelia's Got Talent" Volksbühne Berlin / 3. "Mona Hatoum"-Ausstellung im Georg-Kolbe-Museum

 

1. Wir werden alle untergehen! – Der Schiffbruch unserer „Zivilisation“ - „Intolleranza 1960“, ein Probenbesuch in der Komischen Oper Berlin

Intolleranza 1960 © Jan-Windszus
Intolleranza 1960 © Jan-Windszus

Man mag es kaum schreiben, aber wahr ist es doch: das Werk von Luigi Nono ist mehr als 60 Jahre alt – und brandaktuell!

Ohne zu verraten, was es wirklich zu erleben gibt, sei doch erwähnt:
Hier wird alles anders sein, als Sie es bisher zu sehen gewohnt waren. Das ganze Haus ist vom Bühnenbildner Márton Àgh verwandelt, das konventionelle Bühnen-Zuschauer-Verhältnis ist aufgehoben: alle theatralen Verhältnisse sind verkehrt; die Welt ist aus den Fugen. Die Komische Oper ist zur vereisten Höhle „avanciert“. Eine treffendere Metapher auf unser Sein kann es nicht geben.

„Intolleranza 1960“, eine Art Collage mit dem Untertitel „Szenische Handlung in zwei Teilen“ ist für die Biennale in Venedig 1961 entstanden. Für diese Komposition wurden Texte von Bertolt Brecht, Wladimir Majakowski, Paul Éluard, Henri Allegs, Jean-Paul Sartre und Julius Fučik – alles Zeitzeugen des Grauens – über Flucht und Freiheit, über Vertreibung und Vergebung verwendet. Die zu sprechenden Passagen übernimmt die Schauspielerin
Ilse Ritter. Der Protagonist ist ein Emigrant, diese furchtbare Konstante unserer Menschheitsgeschichte, der Flucht und Folter, Verhör und Verhaftung übersteht und am Ende doch zu Tode kommt. Dieses Schicksal kann jede und jeden von uns jederzeit ereilen.


Die musikalische Leitung des Abends liegt in den Händen von Gabriel Feltz, der auf seinem Hochstand einem Turmspringer gleich das Geschehen dirigiert. Neben den Gesangssolist:innen Sean Panikkar als „Der Flüchtling“, Gloria Rehm als „Seine Gefährtin“, Deniz Uzun als „Eine Frau“ sowie Tom Erik Lie als „Ein Algerier“, Tijl Faveyts als „Ein Gefolterter“ und Josefine Mindus als Sopran-Solo ist in diesem Werk, das durchaus auch Merkmale eines Oratoriums aufweist, der Chor der Komischen Oper, in der Einstudierung von David Cavelius, der Star des Abends.

Das Werk ist kurz. Ja. Es macht kurzen Prozess mit uns, die wir nicht eingreifen beim Erkennen von Unrecht. Dieses apokalyptische Stück hat so viele Bezüge zu den Kriegen und Katastrophen unserer Zeit, dass wir meinen – und vielleicht sogar verstehen – könnten, dass wir im Auge eines Tornados leben, ohne wahrnehmen zu wollen, wie um uns die Zerstörung wütet.Im Stück wird auch Bertolt Brechts Gedicht „An die Nachgeborenen“ zitiert mit dem Schluss: „Ihr aber, wenn es soweit sein wird Dass der Mensch dem Menschen ein Helfer ist Gedenkt unsrer Mit Nachsicht.“ Der Dichter konnte noch auf diese Nachsicht hoffen. Wir wohl kaum.

Diese Inszenierung von
Marco Štorman ist das, was Theater immer sein sollte: ein einmaliges Erlebnis. Hingehen und ansehen! Es wird nur sechs Vorstellungen geben.

Komische Oper Berlin, Premiere am: 23. September, 19:00 Uhr, Weitere Vorstellungen: 25., 27., 29. September und 1. Oktober, jeweils 19:00 Uhr, 3. Oktober, 16:00 Uhr. Hier geht’s zu den Karten.

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2. Ophelia’s Got Talent - Uraufführung in der Volksbühne

Ophelia's Got Talent © Nicole Marianna Wytyczak
Ophelia's Got Talent © Nicole Marianna Wytyczak

Ophelia‘s Got Talent“ beginnt sinnigerweise als Talentshow. Drei Jurorinnen bewerten unter anderem die Luftaktrobatin, die Schwertschluckerin und die sich unter Wasser von ihren Ketten Befreiende. Die Kommentare der Jury sind eine gelungene Persiflage auf die „Originale“ im TV-Format. Nach einem getanzten Divertissement mit Sailers-Tap-Dance und Russischem Tanz wird dann der Pool auf der Bühne zum Zentrum des Geschehens. In der simultan stets mitgelieferten Film-Live-Übertragung an den Proszeniums-Wänden geben die schwimmenden Darstellerinnen ein wirklich poetisches Bild ab. Zeitgleich läuft eine Aufklärungsstunde der Bademeisterin zum Thema Wasser.
Der durch die Show führende Captain Hook sucht sich dann aus dem Publikum eine neue Crew zusammen. Auf die Bühne kommen sechs Mädchen im Kindesalter, die in einigen der folgenden Szenen mitspielen und die Zukunft darstellen sollen.

Was der Abend behandelt, liest sich in der Ankündigung so:
„In einer ozeanischen Landschaft voll kulturgeschichtlicher Referenzen zu Wasserwesen und ertrunkenen Unbekannten geht es nicht nur darum, wie man den prekären Umständen einer von klimakatastrophalen Szenarien geprägten Gegenwart durch Training entkommen kann, sondern auch um die Spekulation auf neue Lebensformen, die diese Umstände in sich aufgenommen, verwandelt, zu neuen Wesen machen.“ Es soll hier also nicht nur um Ophelia gehen, sondern auch um ihre Vorfahren und Verwandten wie Leda, Melusine, Undine, Nymphen, Nereiden oder Sirenen.
In einer fulminanten Bilder-Flut wird das Verhältnis von Frau und Wasser durchdekliniert.

Kurz vor Schluss der zweieinhalbstündigen pausenlosen Aufführung kommt Sturm auf. Ein tolles Spektakel, bei dem die Darstellerinnen einen einschwebenden Helikopter erklimmen, um sich in einer Art orgiastischem Höhepunkt seiner zu bedienen. Es folgen dann noch weitere Szenen mit Titeln wie „Fontäne“ und „Metamorphosen“ – und auch Helene Fischers „Atemlos“ darf schließlich nicht fehlen. Am Ende sind wirklich alle atemlos und am Ende.

Captain Hook ruft ins Publikum: Gebt mir einen wunderbaren Applaus, damit ich weiß, wer geblieben ist! Hatte er etwa mit einer Publikums-Flucht während der Vorstellung gerechnet? Warum? Es gibt zur Vorstellung eine Triggerwarnung. In ihr heißt es, dass die Show „Ophelia’s Got Talent“ selbstverletzende Handlungen, Blut, Nadeln, Stroboskop-Licht, explizite Darstellung oder Beschreibung körperlicher oder sexualisierter Gewalt beinhalte.
Und es wird der Hinweis gegeben: „Wir empfehlen für den Besuch der Vorstellung ein Mindestalter von 18 Jahren.“ Was ist gemeint? Es wird auf offener Bühne gepierct und tätowiert, mit Speculum und Magensonde"operiert, detaiiliert und anschaulich von Vergewaltigung berichtet und – ja: alle erwachsenen Darstellerinnen sind durchgehend nackt oder fast nackt. Vielleicht sollte das alles irgendwie auch erschrecken oder aufschrecken lassen, und das würde es in einem Stadttheater irgendwo im Land vielleicht sogar, aber nicht in der Volksbühne.

Diese Inszenierung von
Florentina Holzinger ist wichtig. Sie ist ein radikaler, nicht nur theatraler Perspektiv-Wechsel, denn aus der Sicht von Frauen ist diese Welt – und ihre Geschichte – eine andere. Die Vorstellung ist eine extreme Beanspruchung für die Darstellerinnen und Zuschauenden und daher eher etwas für Menschen mit starken Nerven.

PS: Während der Vorstellung kam mir die Idee, mich doch wieder einmal mit Antonin Artauds „Theater der Grausamkeit“ zu befassen. Vielleicht wäre das die passende Begleit- bzw. Vorbereitungs-Lektüre zum Stück?

Volksbühne Berlin: 19., 25. und 26. September, 22. bis 24. Oktober. Hier geht’s zu den Karten.

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3. „So much I want to say“/Kolbe zu Tisch mit Hitler - Ausstellung und Tagung im Georg-Kolbe-Museum

Mona Hatoum, Remains of the day, 2016-2018, Georg Kolbe Museum © Jens Ziehe
Mona Hatoum, Remains of the day, 2016-2018, Georg Kolbe Museum © Jens Ziehe

Im Georg-Kolbe-Museum ist derzeit eine Ausstellung mit Werken von Mona Hatoum zu sehen. Unsere Welt und ihre künstlerische Gestaltung scheint eines der Hauptthemen der Künstlerin zu sein. So empfängt uns gleich in Kolbes ehemaligem Atelier die Glasplatten-Installation „Tectonic“ aus acht mal sechs Quadraten am Boden, auf denen die Welt-Karte aus europäischer Zentralperspektive abgebildet ist. Diese Welt aus Glas ist jedoch gerade beschädigt, weil jemand sie aus Versehen betreten hat. So ist das Werk auf zufällige Weise ein zeitgemäßes, sehr zum Nachdenken anregendes Ab-Bild geworden. „Insideout“ ist eine Weltkugel, die aus Eingeweiden oder Gehirnwindungen zu bestehen scheint. Und mit „Shift“ zeigt die Künstlerin die Welt auf einem in verschobene Streifen zerschnittenen Teppich, der auch noch mit seismischen, von Nordarfrika ausgehenden Ringen überzogen ist.

Der Neubau beherbergt u. a. die Installation „Remains of the day“ mit Bezug zur Zerstörung von Hiroshima, die sehr an
die Skulptur von Karl Biedermann "Der verlassene Raum“ auf dem Koppenplatz in Berlin-Mitte erinnert. Das Untergeschoss ist der Dokumentation von Performances der Künstlerin anhand von Filmen, Fotos, Skizzen und Texten vorbehalten. Im verbindenden Treppenhaus läuft ein Film, in dem ein Frauengesicht in Großaufnahme zu sehen ist, dem der Mund zugehalten wird. Zu hören ist dazu die immer wiederkehrende Textzeile So much I want to say“. Das scheint Anliegen und Anspruch dieser Künstlerin zugleich zu sein. Ihre Werke sind in Form, Materialität und Gestaltung sehr vielseitig. Alle, die Freude daran haben, dass Kunst auch zum Rätseln und Nachdenken anregen kann, werden diese Ausstellung mögen.

Und nicht zuletzt: Im Georg-Kolbe-Museum fand am Anfang dieses Monats eine Tagung zum Thema „Georg Kolbe und der Nationalsozialismus“ statt. Nun könnte man meinen, dass dazu doch nun wirklich schon vieles, wenn auch noch nicht alles gesagt sei – doch weit gefehlt. Die Enkelin des Künstlers aus Vancouver an Kanadas Westküste hat dem Museum 180 Umzugskartons mit Materialien auch zu diesem Thema „vermacht“. Mit der Übergabe dieses Teilnachlasses „sind nun präzisierte Perspektiven auf sein (Kolbes) Agieren am Kunstmarkt, auf den Umgang mit öffentlichen und privaten Auf­traggeber:innen, auf Ausstellungsbeteili­gungen, auf seine politischen Kontakte sowie auf Selbstvermarktungsstrategien zwischen 1933-45 und die sich anschlie­ßende Rezeptionsgeschichte möglich“, schreibt das Museum. Es sei hier nur beispielhaft der Vortrag von Dr. Christian Fuhrmeister angeführt, der in seinem Referat mit dem Titel „An einem Tisch: Breker, Klimsch, Kolbe, Göring, Hitler und Frau Himmler. Zirkel, Kreise, Dependenzen“ eben über eine Einladung zum gesetzten Essen sprach und was man auch aus solchen Dokumenten heute an Informationen über die im wahrsten Sinne des Wortes Positionierung eines Künstlers in dieser Zeit und seine an diesem Tisch sichtbare Distanz oder Nähe zu den damals Handelnden ablesen kann. Die Beiträge werden in Kürze publiziert. Ein Gewinn für alle an diesem Thema Interessierten.

Ausstellung noch bis zum 13. November im Georg-Kolbe-Museum in Kooperation mit dem Neuen Berliner Kunstverein und dem KINDL – Zentrum für zeitgenössische Kunst.
Das Georg-Kolbe-Museum ist Partner von Kulturvolk, Mitglieder erhalten dort ermäßigten Eintritt.

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