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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 391

Kulturvolk Blog | Sibylle Marx

von Sibylle Marx

11. April 2022

Heute: 1. „Möwe“ – Berliner Ensemble, Neues Haus / 2. „WHITE PASSING“ – Vagantenbühne

1. Berliner Ensemble, Neues Haus - Ein Feuerwerk der Spielfreude

Möwe © JR Berliner Ensemble
Möwe © JR Berliner Ensemble

Nina, eine junge Schauspielerin möchte Ensemblemitglied im Berliner Ensemble werden und hat sich auf ein Vorsprechen vorbereitet. Sie ist die Nina aus Tschechows „Möwe“, sie ist aber auch die Beatrice aus Shakespeares „Viel Lärm um nichts“, die Julia aus dem „Sommernachtstraum“, die stumme Katrin aus „Mutter Courage“ Die Ebenen gehen ineinander über, eine Überschreibung folgt der anderen.

Sarah Victoria Frick, Burgtheater-Schauspielerin, hat diesen Vorsprechmonolog mit Lili Epply erarbeitet, der daraus entstandene Soloabend wurde von der Berliner Autorin und Schauspielerin Anne Kulbatzki begleitet.

Auf der Bühne im Neuen Haus des Berliner Ensembles entzündet Lili Epply ein schauspielerisches Feuerwerk. In 75 Minuten beschwört sie die Schönheit und Faszination des Theaters und des Schau-Spiels, entlarvt aber auch die schonungslose und brutale, manchmal menschen-, besonders frauen-verachtende Seite des Berufs. Sie wirft sich in die Rollen und wahrt gleichzeitig eine Distanz zu ihnen. Durch alle diese Bühnenfiguren bleibt die Schauspielerin Liliy Epply präsent, die sich dem Spiel mit jeder Faser ihres Körpers hingibt, sich aber auch immer wieder selbst infrage stellt.

Schriftprojektionen auf einem doppelten Brechtvorhang in Rosa kündigen die Szenen an. Der Doppelvorhang bietet viele Möglichkeiten für Auf- und Abtritte, wird zum Kostümteil oder Requisit oder zur durchscheinenden Leinwand für ein Schattenspiel.

Wenn später die Vorhänge beiseite gezogen sind, steht da ein zusammengeschusterter Kasten auf Rädern mit Handdeichsel und Spiegelfenstern. Teilweise abgerissene Plakate, die auf russisch schnelle Liebe versprechen, über der Türöffnung ohne Tür halb verblasste kyrillische Buchstaben: remonti obuwi, was auf deutsch Schuhe reparieren heißt. Ein trostloses Gefährt, das Künstlergarderobe sein könnte oder ein Wohnwagen, in dem eine Prostituierte ihre Freier empfangen (muss). Nina flüchtet in einem Moment tiefer Verzweiflung in diesen Wagen, schmeißt Gegenstände donnernd an die Wände und ist, als sie wieder auftaucht, in eine Art Panzer geschlüpft, der aussieht, als wäre er aus einem Sessel geschneidert, dick gepolstert, der Bezug aus Samt, dunkelgrün. Kopf und Beine schauen raus. Der Polsterumhang wird  zum Versteck, eine Muschelschale, in die sich Nina ganz wörtlich zurückziehen kann, bis nur noch das grüne Ungetüm auf der Bühne liegt.

Lily Epply beherrscht die Bühne in jedem Moment voll und ganz. Sie ändert in Millisekunden die Haltung. Eben noch ein blasses Mädchen mit Beinen voller blauer Flecken, schüchtern und zaghaft, im nächsten Moment eine Furie, in beinengespreizter Machohaltung sitzend, die ihr Gegenüber – in dem Fall ein Zufallsopfer, ein junger Mann aus der ersten Reihe – gnadenlos runterputzt.

Diese Frau kann alles: Sie kann sich bewegen, sie kann singen – mit und ohne Mikro, sie kann auf Highheels genauso tanzen wie in Spitzenschuhen. Sie kann ganz zart und leise sein und im nächsten Moment zum Vulkan werden, der eine Lava an Worten ausspuckt. Das berühmte „Es war die Lerche und nicht die Nachtigall“ ist Hintergrund für eine Aufzählung von geschätzten hundert Vogelarten in rasendem Tempo. Universal-Language nennt sie ihre Bühnensprache selbst: Als Nina spricht sie direkt mit dem Publikum deutsch mit russischer Sprachfärbung. Dann wechselt Hochdeutsch mit Urwiener Dialekt, zwischendurch wird’s schwäbisch.

Nina ist die Möwe, aber sie weigert sich, erschossen zu werden. Sie wählt selbst und lässt sich, zum Ende hin, eingehakt in einen Fallschirmgurt, nach oben ziehen. Da hängt sie, zappelnd wir ein Insekt, schreit, der Mund rotverschmiert. Der Kopf fällt nach vorn, das Theaterblut tropft auf den Boden.

Aber noch ist kein Ende, die Möwe gibt sich nicht geschlagen, sie möchte noch einmal die Sonne aufgehen sehen. Kraftvoll, laut.

Bei uns im Angebot am 3. Mai. Hier geht es zu den Karten.

2. Vagantenbühne - Deutschland in Spiegelstrichen

White Passing © Stella Schimmele
White Passing © Stella Schimmele

Passing, abgeleitet vom englischen to pass, beschreibt die soziologische Besonderheit, dass die soziale Identität eines Menschen, wie Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit oder sexuelle Orientierung von der Umwelt nicht erkannt wird und dieser Mensch damit nicht den gesellschaftlichen Normen unterliegt, die mit dieser Identität verbunden sind.

Ein berühmtes literarisches Beispiel ist Coleman Silk, die Hauptfigur aus „Der menschliche Makel“ von Philip Roth. Als gesellschaftlich relevantes Problem fand dieses Phänomen bisher wenig Beachtung.

Sie, die Heldin im Stück „WHITE PASSING“, lebt in einer schicken Altbauwohnung in Charlottenburg. Gut verdienend und wohlsituiert sitzt Sie an ihrem Geburtstag allein im Café Einstein am Savignyplatz. Der Geburtstag der Protagonistin fällt mit dem Tag der algerischen Revolution zusammen, was für Sie alljährlich eine Herausforderung darstellt, denn Sie wird als weiße Frau wahrgenommen. Ihre algerischen Wurzeln sind für andere nicht sichtbar, aber für sie selbst nicht zu kappen.

Ein befreundetes Paar wartet gemeinsam mit einem Freund in ihrer Wohnung auf Sie, als Überraschungsgäste sozusagen. Angesichts des SUV und des teuren Rennrades vor ihrem Haus flüchtet Sie in den Wedding, dorthin, wo sie ihre Kindheit verbracht hat, zu ihrem Jugendidol Bushido, dessen Musik ihr das Erwachsenwerden erträglich gemacht hat. Aber das ist lange her, nichts ist mehr wie damals auf der Badstraße, und es wird Zeit sich der Vergangenheit, der Herkunft und der eigenen Identität zu stellen.

Die Überraschungsgäste Jule, Max und Thomas, alle drei weltoffene Bildungsbürger:innen, warten vergeblich auf das Geburtstagskind und entlarven sich im Laufe des Abends als intolerante Spießer voller Vorurteile.

Es gelingt der jungen Autorin Sarah Kilter, die Geschichten so zu erzählen, dass die Figuren in all ihrer Unzulänglichkeit sympathisch bleiben und nicht verraten werden. Neben den tiefen Selbstzweifeln und Abgründen ist immer auch Raum für Humor und Ironie.

Den Spielszenen gegenübergestellt sind Aussagen, gefasst in Spiegelstriche, in denen die Deutschen unter die Lupe genommen werden. In mehreren Blöcken solcher Spiegelstriche wird dem Publikum in kurzen Repliken die Unzulänglichkeit der Deutschen um die Ohren gehauen. Da werden viele Wahrheiten ausgesprochen, allerdings in kabarettistischer und allzu plakativer Weise, mit dem immer erhobenen Zeigefinger. Und es stellt sich die Frage: Wer sind die Deutschen?

Ein drittes Element bilden Dialoge von A und B, die sowohl die Bühnenhandlung als auch die Herkunft und das Verhalten der Sie kommentieren. A und B, das sind die, die schon immer alles besser wussten, andererseits aber auch gar nichts wussten und deshalb auch gar nicht anders handeln konnten...

Es ist der Regie von Lars Georg Vogel gelungen, das in drei Teile zerfallende Stück zusammenzuhalten, und die Sichtweisen organisch wechseln zu lassen. Durch schnelle Umzüge und kleine Veränderungen auf der Bühne gehen die in rasantem Tempo abgespulten Kabarettszenen in die Spielszenen über. Das vierköpfige Ensemble – Melissa Anna Schmidt, Natalie Mukherjee, Urs Stämpfli und Julian Trostorf – in dem alle mehrere Rollen übernehmen, wirft sich die Bälle nicht nur im wörtlichen Sinne zu, und überzeugt in seinem Zusammenspiel und mit großer Sprachfertigkeit.

Melissa Anna Schmidt als Sie zeigt in den Monologen eindrucksvoll die Vielschichtigkeit der Figur. Hier die erfolgreiche Geschäftsfrau, die selbstbewusst, elegant und hoch aufgerichtet den Raum beherrscht und dort das Mädchen aus dem Wedding, zusammengekauert, eingewickelt, verkrochen in ein überdimensionales weißes Tuch: „… dieses Mädchen möchte einfach nur in Ruhe auf dem Lammfell liegen und mal wieder ihre Kindheit hören.“

Wieder am 24., 25 und 26. Mai sowie am 13. und 14. Juni, jeweils 20 Uhr. Hier geht es zu den Karten.

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