Auf der Suche nach der Wahrheit und Voll das LebenHeute: 1. „Falsch“ – Vagantenbühne / 2. „SELFIE“ – GRIPS Theater im Podewil / 3. „Harald Hauswald. Voll das Leben“ – Austellung C/O Berlin
Zwei Schwestern im Auto auf der Heimfahrt von einer Familienfeier, es war dunkel, es regnete. Kat, die eigentlich fahren wollte, war ziemlich betrunken (wie so häufig) auf dem Beifahrersitz eingeschlafen. Also musste Sis fahren. War sie vielleicht zu schnell, hatte sie nicht aufgepasst? Das Auto war gegen irgendwas geknallt, nur die Leitplanke oder doch eine Radfahrerin? Wie später die Polizei behauptete...
Was ist die Wahrheit? Gibt es die eine überhaupt oder gibt es mehrere? Können wir die Realität als solche wahrnehmen oder erleben wir sie gefiltert durch unsere Erfahrungen und Gefühle? Welche Rolle spielen Moral und Werte? Inwiefern existiert Schuld, wenn man sich zwar nicht richtig verhält, das aber unabsichtlich?
Diesen Fragen geht Lot Vekemans in „Falsch“ nach, einem Stück, das 2014 in den Niederlanden als bester Theatertext prämiert wurde und derzeit in der Vagantenbühne zu sehen ist.
Die Polizeiwache, auf der die beiden Schwestern festgehalten werden, ist hier ein mit Knallfolie ausgeschlagener Raum. Das Rascheln des Materials oder das Kratzen darauf mit den Fingernägeln verursachen Geräusche, bei denen es einen fröstelt. Dieses Gefühl wird durch blauweißes Licht noch verstärkt. Auf der Rückwand läuft eine Projektion immer und immer wieder ab: Eine Landstraße im Dunkeln, schnelle Fahrt, ein Hinweisschild, das nach rechts zeigt, dann die Kurve.
Der Raum ist leer, ein paar aufgestapelte Kästen mit Wasserflaschen unter einer Plastikfolie, die zu Sitzgelegenheiten, gegenseitigen Abgrenzungen oder auch Schutzwällen werden. Schutzwälle bauen beide Frauen auf, mit Worten oder eben mit den Flaschenkästen. In teils heftig geführten Dialogen ringen sie miteinander. Sehr bald geht es nicht mehr nur darum, was in dieser Nacht passiert ist, sondern darum, wie sie sich gegenseitig sehen. Konkurrenzkämpfe, die schon öfter geführt wurden, flammen auf: Wer führt das bessere, das sinnvollere Leben? Wer darf sich moralisch überlegen fühlen, wer wird von der Umwelt mehr geschätzt.
Die Inszenierung von Bettina Rehm setzt stark auf den Text. Stück für Stück entblättert sie die Beziehung zwischen den beiden Schwestern und legt die jeweils wunden Punkte offen. Stella Denis-Winkler als Sis und Magdalene Artelt als Kat führen die Auseinandersetzung mit Mitteln, die, sparsam eingesetzt, umso wirkungsvoller sind.
Komplettiert wird das Ensemble durch Björn Bonn als Ge, der als Zeuge der Vorgänge in dieser verhängnisvollen Nacht ebenfalls von der Polizei befragt wird. Aber auch sein Verhalten stellt sich als nicht eindeutig heraus. Ist er wirklich am Tatort gewesen, was kann er tatsächlich gesehen haben? Könnte er nicht helfen, könnte er durch seine Aussage nicht die Beurteilung durch die Polizei verändern?
Und plötzlich halten die beiden Kampfhennen zusammen gegen den Dritten, den vermeintlichen Feind. Die verbale Auseinandersetzung eskaliert, Kat und Sis bieten alle Kräfte auf. Sie werfen die Plastikfolie über Ge und ersticken ihn fast darunter, bevor sie dann doch erschöpft von ihm ablassen und er sich befreien kann.
Und jetzt, nach den ganzen gegenseitigen Vorwürfen und Verletzungen zeigt sich – ganz zart – die Liebe zwischen den Schwestern. Und beide wissen: Lügen können benutzt werden, um für eine gewisse Zeit von der Schuldfrage abzulenken. Die Frage bleibt und beantworten muss sie am Ende jede für sich.
Vagantenbühne, wieder am 30. und 31. März, am 1. April sowie am 13. und 14. Mai. Hier geht es zu den Karten.
Da sind Chris und Emma: ineinander verliebt, schon lange. Aber sie trauen sich nicht, denken beide, dem bzw. der anderen nicht zu gefallen, nicht zu genügen. Und da ist Lily, die immer gern das Sagen und die Dinge in der Hand hat. Sie will auch, dass Emma (ihre beste Freundin) und Chris (ihr Bruder) ein Paar werden. Eine spontan angesetzte Party bietet die beste Gelegenheit. Anfangs läuft alles super. Es sind megaviele Leute gekommen, die Musik ist megatoll, es gibt megaviel zu trinken, alle haben Megaspaß. Chris und Emma begegnen einander, es kommt zu einem Kuss...
Was danach passiert, weiß Emma am nächsten Tag nicht. Ein ungutes Gefühl beim Aufwachen, dass auch nicht besser wird, als sie auf dem Heimweg die vielen Wodkas und Tequilas und Smirnoff-Ices, vermischt mit Ananassaft, ausgekotzt hat.
„SELFIE“, die neueste GRIPS Theater-Produktion, die im Podewil gezeigt wird, widmet sich dem Thema des sexuellen Konsens, das Erwachsene wie Jugendliche gleichermaßen betrifft und das in den letzten Jahren, ausgelöst durch die „Me too-Bewegung“ endlich zu einem gesellschaftlich relevanten Thema geworden ist: Was ist Einvernehmen? Wo beginnt Zustimmung? Ist kein „Nein“ automatisch ein „Ja“?
Die kanadische Autorin Christine Quintana behandelt diese Fragen vor dem Hintergrund des Social Media-Lebens, das junge Erwachsene heute führen (müssen).
Das Stück erzählt von der Abhängigkeit von Posts und Likes, zeigt, unter welchem Druck die Jugendlichen stehen. Es macht den Zwang deutlich, etwas darstellen zu wollen, gleichzeitig aber auch zu wissen, dass das Selfie vor diesem unglaublichen Hintergrund, auf dem man so toll aussieht, ein Fake ist. Es setzt sich mit der Suche nach der Wahrheit auseinander, fragt nach, wie viele Wahrheiten es gibt und welche die richtige ist.
In ihren Dialogen bedienen sich die Figuren in „SELFIE“ der verknappten und flachen Sprache, in der in den sozialen Medien miteinander kommuniziert wird und die für junge Menschen völlig normal und akzeptabel ist. Worthülsen wie „Oh mein Gott“, (omg), „What the fuck“ (wtf), „Okay, Alter“ (auch wenn ein Mädchen angesprochen wird) werden bis zum Überdruss strapaziert und ständig angereichert mit englischen Ausdrücken wie creepy, scary oder weird. In intimen Szenen oder in Monologen, in denen Emma oder Chris Geschehenes oder eigene Gedanken reflektieren, ändert sich die Sprache, da wird sie tiefgründiger und gestischer und lässt Zuschauer:innen jenseits der 50 aufatmen.
Das dreiköpfige Ensemble hat es unter diesen Voraussetzungen nicht leicht, den Text in spielerische Vorgänge zu übersetzen. Auch Bühnenbild und Kostüme (Lea Kissing) können kaum dazu beitragen. Die Bühne ist bis auf wenige Dekorationsteile leer. Ein luftiger Rundhorizont schließt den Raum nach hinten ab. Zu Beginn lümmeln die drei Darsteller auf einer überdimensionalen Daunensteppdecke, ein Video mit süßen Katzen im Hintergrund, plätschernde Fahrstuhlmusik. Das Bühnengeschehen wird aufgepeppt durch dröhnenden Techno, schnell wechselnde Projektionen in schrillen Farben und mit stroboskopischen Lichteffekten. Auf einer oben abgebrochenen Säule, einer halben Treppe und einer Art Tresen wird hin- und hergefahren.
Alles ist in Mintgrün gehalten, auch die Kostüme (Merle Richter) der drei Schauspieler, die in ihrem Stil heutig anmuten und gleichzeitig aus der Zeit gefallen scheinen. Rüschen und aufgenähte Perlenschnüre verfremden T-Shirts ins Folkloristische, beinahe Märchenhafte. Würde eine junge Frau wie Lily heute echt knielange unförmige Hosen mit Gummizug und Puschelpantoffeln wie in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts tragen oder ein toller Typ wie Chris im Jogginganzug rumlaufen, dessen Beine in rote Kniestrümpfe gesteckt sind?
Trotz dieser äußeren Widrigkeiten ist es der Regisseurin Maria Lilith Umbach und ihren drei Darstellern gelungen, die Geschichte eindrücklich zu erzählen. Die Motivationen der Figuren werden nachvollziehbar und die Figurenentwicklungen glaubhaft, weil die drei Spieler:innen authentisch sind. Lily (Yana Ermilova) ist einfach laut und nervt mit ihrer großen Klappe, will aber unbedingt loyal sein, ihrem Bruder und ihrer Freundin helfen, und gewinnt in dem Maße, in dem sie die Dinge verschlimmbessert, an Liebenswürdigkeit. Chris (Marius Lamprecht), von allen geliebt und ein bisschen zu großspurig, lässt im Laufe der Inszenierung seine Unsicherheit und seine Sehnsucht nach echter Wärme und Anerkennung spüren.
Und Emma (Lisa Klabunde) besticht in ihrer Suche nach der Wahrheit und nicht zuletzt ihrer eigenen Identität. In ihren Monologen gelingt es ihr, sich selbst zu befragen und gleichzeitig ihr Gegenüber, das Publikum, mit einzubeziehen.
Das Publikum, schätzungsweise 9. oder 10. Klasse, folgte der Aufführung aufmerksam. Obwohl die Schülerinnen und Schüler unruhig waren, Kommentare hören ließen und sich manchmal unterhielten, war zu spüren, dass sie dicht an den Vorgängen auf der Bühne dranblieben. Heftig miteinander diskutierend verließen sie nach der Vorstellung den Saal.
In seiner mehr als 50-jährigen Geschichte hat das GRIPS unzählige Preise gewonnen. 2020 ist ein weiterer dazugekommen: Der Internationale Anatolische Theaterpreis 2020. Wegen der Corona-Pandemie konnte der Preis erst Anfang Februar übergeben werden. Das GRIPS, das schon seit vielen Jahren mit türkischen Kinder- und Jugendtheatern zusammenarbeitet, erhielt einen der bedeutendsten Theaterpreise der Türkei für seine einzigartige künstlerische Arbeit und seinen Einsatz für die Menschenrechte. In der Laudatio wurde besonders hervorgehoben: „GRIPS ist ein Theater, das Menschen, insbesondere Kindern und Jugendlichen, Mut macht und dabei auch noch unterhält und sie immer wieder zum Lachen bringt. GRIPS ist ein Symbol für Wachsamkeit, Weisheit und für den Mut. Das GRIPS Theater glaubt an eine menschenwürdige Welt, an Frieden und Freiheit.
Mit „SELFIE“ ist das GRIPS diesem Anspruch ein weiteres Mal gerecht geworden.
„SELFIE“, für Menschen ab 14 Jahren.
GRIPS Theater im Podewil, wieder am 6. und 29. April sowie am 18. Juni. Hier geht es zu den Karten.
Die Ausstellung „Voll das Leben“ im C/O Berlin gehört zu den kulturellen Höhepunkten in Berlin, die im vergangenen Jahr der Pandemie zum Opfer fielen. Sie war nur kurze Zeit zu sehen und wurde dankenswerterweise noch einmal ins Programm genommen. Die dort gezeigten 250 Fotos stammen aus vier Jahrzehnten. Hauswald-Fans kennen viele von ihnen, ein Teil war bereits in früheren Ausstellungen zu sehen oder wurde in Fotobänden veröffentlicht.
Aber auch beim x-ten Anschauen lösen die Bilder etwas aus. Sie amüsieren, wie das Bild von den beiden alten Frauen vor einem Porzellan-Geschäft: Eine der beiden ist auf den Sims vor dem Schaufenster geklettert und kniet, um besser sehen zu können, was hinter der Scheibe ausgestellt ist. Mit einer Hand stützt sie sich am Rahmen ab, an der anderen wird sie von ihrer Freundin, die hinter ihr steht, gehalten.
Ein anderes zeigt drei ältere Männer in der U-Bahn: Ganz rechts einer mit Pelzkragen und Pelzmütze. Der in der Mitte im Anorak hält eine Aktentasche auf dem Schoß. Ganz links der in Wollmantel und Schal mit Hut. Arbeiter, Angestellter, Intelligenzler? Alle drei scheinen den Fotografen nicht wahrzunehmen.
Wieder ein anderes Foto löst beim Betrachten Gelächter aus. Es heißt „1. Mai-Demonstration“: Eine Gruppe Fahnenträger ist von Regen und Wind überrascht worden und kämpft nun mit den langen Stangen und den daran befestigten, sich bauschenden DDR-Fahnen gegen die Naturgewalten.
Fernab von Ideologie und Propaganda dokumentiert Harald Hauswald das Alltagsleben in der DDR, hauptsächlich in Berlin. Für Menschen, die selbst dort gelebt haben, ist diese Ausstellung eine wunderbare Gelegenheit, sich zu erinnern. Für Westdeutsche oder junge Leute, die die DDR, wenn überhaupt, aus den Geschichtsbüchern kennen, eröffnen die Fotos einen Blick in eine vergangene Welt.
Harald Hauswald war nicht nur Fotograf, er gehörte auch zur Opposition. Dem MfS (Ministerium für Staatssicherheit) war er über Jahrzehnte ein Dorn im Auge. Die über ihn angelegten Akten füllen ganze Regalbretter, 40 IM (Informelle Mitarbeiter) waren zeitweise auf ihn angesetzt, ein Haftbefehl gegen ihn lag schon in der Schublade. Bevor man die eigentliche Fotoschau betritt, muss man an einem überdimensionalen „Steckbrief“ vorbei – das erste Blatt seiner OPK-Akte beim MfS (Operative Personenkontrolle). Neben Angaben zur Person wie Name, Geburtsdatum, Größe ist dort auch verzeichnet: lange Haare, blasser Teint, nach vorn gebeugte Körperhaltung…
In einem Extra-Raum der Ausstellung sind die Wände mit Kopien verschiedener Berichte geradezu tapeziert. Auch wenn man nur einen Bruchteil dieser Blätter liest, wird deutlich, wie allumfassend die Bespitzelung durch die Stasi war.
Der Gegensatz zwischen diesen teils nüchternen, teils zynischen und schlecht geschriebenen Texten und den Fotos, aus denen tiefe Menschlichkeit spricht, könnte größer kaum sein.
C/O Berlin, Hardenbergstraße 19. Noch bis zum 21. April.
1. Staatsballett Berlin Fremd bin ich
2. Deutsches Theater In einem kranken Haus
3. Maxim Gorki Theater Armenien: Zukunft ungewiss
1. Komische Oper Requiem für einen Lebemann
2. Kriminal Theater Rettung durch Mord?
3. Hans Otto Theater Triumph des Scheiterns
1. Theater an der Parkaue Ionesco weitergedacht
2. Berliner Ensemble Auf der Strecke geblieben
3. Kabarett-Theater Distel Wo man singt
1. Deutsches Theater Sei ein Mensch
2. Distel Lachen ist gesund
Stiftung Stadtmuseum Berlin Geschichte und Erinnern
1. Berliner Ensemble Was Covid mit den Menschen machte
2. Gorki Das Monster in uns
3. Staatsoper Gedämpfte Freude am Belcanto
1. Deutsches Theater Disruption und Wohlfühlwimpel
2. Theater im Palais Terzett mit Paul Linke, Dorothy Parker und Marlene Dietrich
3. Schaubühne Dreier in der Schlacht auf der Couch