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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 386

Kulturvolk Blog | Reinhard Wengierek

von Reinhard Wengierek

28. Februar 2022

HEUTE: 1. „Queen Lear“ – Gorki Theater / 2. „Mein Grand Prix. Pasquale Aleardi“ – Tipi am Kanzleramt / 3. „Erich Wonder – T/Raumbilder für Heiner Müller“; theaterhistorische Ausstellung Akademie der Künste

1. Gorki - Shakespeare umgebaut von King auf Queen

Svenja Liesau in Queen Lear © Ute Langkafel MAIFOTO
Svenja Liesau in Queen Lear © Ute Langkafel MAIFOTO

Gleich anfangs, als Ouvertüre, ein zünftiger Gruß an den Zeitgeist: Triggerwarnung! Vieles werde hier aus dem Ruder laufen. Bis hin zur Katastrophe. Szenen von Gewalt, verbaler, psychischer, sexualisierter, kollektiver Gewalt stünden bevor. Und Folter. Stimmt und verwundert nicht: Wir sind schließlich bei Shakespeare. ‑ Graf Kent ist‘s (Fabian Hagen), der bevorstehendes Unheil verkündet, nachdem er sich korrekt vorstellte: „Bin keine Frau, sondern ein menstruierender Mensch, Pronomen: they; ab und an: sie; häufig auch: them.“ Kent perfekt queer! Mit rosa Haarbüscheltolle.


Die neue Unübersichtlichkeit mit den Geschlechtern


Und schon kocht der Saal vor Begeisterung; freut sich auf einen ordentlich umgebauten „Lear“. Der King ist jetzt nämlich eine Queen, ihre berüchtigt bösen Töchter Goneril und Regan sind die Söhne Prince Goneril (Tim Freudensprung) und Renegade Regan (Emre Aksizoglu); nur die lieb süße Cordelia behält ihren Shakespeare-Geschlechterstatus als Charming Cordelia (Yanina Ceron).

Doch damit nicht genug: Graf Gloster ist neuerdings Gräfin Bossy Gloster (Catherine Stoyan), Sohn Edgar ihre Tochter namens Sister Eddi (Svenja Liesau). Allein Sohn Edmund bleibt Sohn, freilich ordentlich divers (oder bloß tuntig?) als Proud Boy Edmund (Aram Tafreshian). Die Krönung dieser neuen Unübersichtlichkeit aber ist Corinna Harfouch als Queen Lear.

Die große Harfouch hat freilich – an der Volksbühne – überzeugende Erfahrungen mit schweren Herren-Rollen: Anno 1982 die Titelrolle in Heiner Müllers „Lady Macbeth“ und 1996 als Fliegergeneral Harras in der Castorf-Inszenierung „Der Teufels General“. Trotzdem musste Regisseur Christian Weise den Superstar (Besetzungscoup!) erst für seinen neu gewandeten „Lear“ überreden. So die Verlautbarung im Gorki-Magazin. Und Harfouch leuchtete ein: „Gegenwart! Unser veränderter Blick auf Geschlechterrollen!“ Dazu passend die Meinung der Regie, „King Lear“ sei „frauenfeindlich“. Also alles umdoktern und neu schreiben, was das auf Derartiges spezialisierte so genannte Autorenkollektiv Soeren Voima mit beträchtlicher Bravour besorgte.

Mit eindeutig zwiespältigem; oder anders: mit deutlich zweigeteiltem Ergebnis. Queen Harfouch hätte sich besser uneinsichtig gezeigt...


Shakespeare-Klamauk im Star-Wars-Raumschiff


Teil eins knapp zwei Stunden bis zur Pause ist – jenseits des mythischen Shakespeare-Britanniens – ein tollkühn komisches Kabarett im futuristischen Science-Fiction-Setting einer Star-Wars-Parodie. Eine groteske Show machtgeil durchgeknallter, exotisch kostümierter Figuren, die sich, nach Kommandos von Shakespeare, gegenseitig mit witzigsten Worten und geistreichen Voima-Pointen (Cancel Culture, Moraldikdatur, Gendersternchen etc.) oder mit eben wüsten Gräueltaten an die Gurgel gehen. Jede Menge Slapstick einschließlich Laserschwert-Dancing in schicker Choreo dekorieren zusätzlich den comichaften Weltraum-Klamauk mit seinen dabei eher diffus bleibenden Allmachtkämpfen.

Queen Harfouch im schwarz gepanzerten, bei Darth Vader abgeguckten Outfit (Kostüme: Paula Wellmann) schaut dem lustig selbstzerstörerischen Treiben mit dezent befremdlichen, ansonsten mokant stoischen Blicken zu. Dabei hat sie es ausgelöst durch ihre saudämliche, klassisch Learsche Verteilung ihres Erbes an ihre ebenso dämlichen Gören. Im gegebenen Fall aus dem Raumgleiter betrachtet handelt es sich um nichts weniger als die Aufteilung der Welt. Große Gaudi im Publikum. Und man darf sagen, auch wir haben uns wie Bolle janz köstlich amüsiert. Zwar fast ohne Shakespeare, dafür mit tobendem Schauspielaktionismus.


Frauen sind keine besseren Menschen


Ohne freilich ganz zu vergessen, dass jenes Neu-Geschlechtliche keinen Beitrag leistet zum menschheitlichen Fortschritt. Es bleibt, queer hin, quer her, beim Fortschrott. Sowie bei der unbeantworteten Frage, warum in Gottes Namen der „Lear“ so gegen Frauen sei. Frauen sind nicht die besseren Menschen und umgekehrt.

Davon abgesehen, übersah die Regie, dass beispielsweise die beiden angeblich berüchtigt bösen Shakespeareschen Lear-Töchter Goneril und Regan bei genauem Blick auf Williams Text auch ziemlich emanzipatorisch handeln gegenüber ihrem Papa Lear, der so dumm ist wie nunmehr ihre Mama. Hat sich also was mit der schweren Frauenfeindlichkeit im Original des Elisabethaners.


Vom Allotria im All runter in irdischen Existenzialismus


Nun zu Teil zwei der kuriosen Veranstaltung; noch eine arg längliche Stunde nach der Pause. Das grandios comichaft malerische Raumschiff-Ambiente von Bühnenbildnerin Julia Oschatz ist abgebaut, die Leinwand hochgezogen, auf die (Netflix-Ästhetik) das aberwitzige Allotria im All mit Live-Kameras größtenteils übertragen wurde. Jetzt herrschen düster dräuende Bühnenleere, Einsamkeit, Daseinselend, Lebensschmerz, Tod. Erst Klamotte, jetzt Existenzialismus. Denn Harfouch und auch Weise pochten konzeptionell „auf den ganzen Shakespeare“. Also musste das philosophisch-psychologische Endspiel, das Ausweglose noch schnell her ‑ wirkte aber wie bloß angepappt.

Der Narr (Oscar Olivio) immerhin hat zu guter Letzt tröstlich schöne letzte Worte und Großkomödiantin Svenja Liesau nunmehr als Rotzgöre in kalter Nacht an der BVG-Straßenbahnhaltestelle mehrere hinreißende Monologe in allerlei Maul- und Mundarten – wenigstens das. Da kann die arme, elende, verbitterte Queen, abgewrackt im dünnen Kittelchen (ein irdisch Leichenhemd?) nur noch verstummen und leise weinen.

Dann aber dürfen wir, endlich einmal, erschauern: Ein Film zeigt wie aus weiter Ferne unsern Erdball, auf dem alles Lebendige in Kampf und Krampf erstirbt.

Wieder am 5., 6., 19., 20. März und am 17. April. Hier geht es zu den Tickets.

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2. Tipi - Supersound im Zeitenwandel

Anke Fiedler / Andreas Bieber / Pasquale Aleardi / Martin Mulders / Sigalit Feig (von links) © Barbara Braun / TIPI AM KANZLERAMT
Anke Fiedler / Andreas Bieber / Pasquale Aleardi / Martin Mulders / Sigalit Feig (von links) © Barbara Braun / TIPI AM KANZLERAMT

Gleich zuerst: Ein Aufschrei meiner Begeisterung! War hin und weg zur Uraufführung von „Mein Grand Prix. Eine Europa-Gala mit Pasquale Aleardi als Showmaster. Die flotte Zeitreise durch fast sieben Jahrzehnte ESC betörte durch ihre geradezu überwältigende musikalische Vielfalt in den wahrlich grandiosen Arrangements von Bandleader Damian Omansen. Was für ein Sound! Dazu die schmissigen Choreografien von Regisseur Danny Costello, der mit einfach tollen Einfällen überraschte auf der kleinen, von Tino Dentler und Okarina Peter effektvoll minimalistisch ausgestatteten Kleinbühne.

Großes Entertainment: glamourös (Kostüme: Heike Seidler), elegant, charmant, witzig, frech und herzlich. Mit Karacho und Tempo, aber auch vielen innigen, melancholischen Momenten. Und einem enorm starken internationalen Ensemble. Gesang und Tanz: Andreas Biber, Sigalit Feig, Anke Fiedler, Martin Mulders und in der Mitten Aleardi, der singende schweizerische Film- und Fernsehstar, der die Fülle der solistischen oder chorischen Auftritte samt ihren pop- und zeitgeschichtlichen Hintergründen amüsant plaudernd zusammenhielt.

Ein perfektes Gesamtkunstwerk (Autoren: Uli Heissig, Stefan Huber). Drei Stunden Hauptstadt-Unterhaltung vom allerfeinsten. Der rbb sollte sich sputen, diese so besondere, vom Publikum stürmisch gefeierte Europa-Revue aufzuzeichnen fürs familiäre Haupt-Abendprogramm.

Bis zum 27. März 2022. Hier geht es zu den Karten.

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3. AdK - Theatermomente im Epochenbruch ‑ eine Ausstellung

Erich Wonder NACHT(T)RAUM Acryl auf Leinwand  © Erich Wonder
Erich Wonder NACHT(T)RAUM Acryl auf Leinwand © Erich Wonder

„Mensch, der sagt ja nix“, stöhnt Erich Wonder, Bühnenbildner, über Heiner Müller, seinen Regisseur. „Immer bloß hm, hm, hm…“ Das war 1982 am Schauspielhaus Bochum. Müller inszeniert „Der Auftrag“. Der Autor aus Ostberlin trifft sich mit Wonder aus Wien für ein paar Tage, man redet über das Stück – es geht um Revolution, Verrat, Tod. Und man fährt wieder nach Hause. Nach zwei Monaten kommen sie wieder zusammen. Wonder: „Ich hab‘ ihm das Bühnenbild gezeigt. Hm. Er akzeptiert. Nimmt es als Kunstwerk, als etwas Autonomes. Über derartiges redet man nicht. Man arbeitet damit.“

Es war die erste gemeinsame Theaterarbeit des damals 33-jährigen Österreichers mit dem 15 Jahre älteren, in beiden Deutschlands wohl wichtigsten, zugleich umstrittensten Dramatiker. Denn trotz privilegierter Reisefreiheit für die andere Seite des Eisernen Vorhangs, Müller galt, so er selbst, für die Politbürokratie nach wie vor als „potentieller Staatsfeind mit trotzkistischer Tendenz“.


Bochum, Berlin, Bayreuth


Auf Bochum folgten bis zum Tod Heiner Müllers Ende 1995 noch vier Gemeinschaftsproduktionen: „Maelstromsüdpol“, 1987, eine für die documenta Kassel bestimmte Performance (Text Müller, Musik Heiner Goebbels); 1987 ein so genanntes Produktionsstück aus der DDR-Frühzeit „Der Lohndrücker“ am Deutschen Theater Berlin, am gleichen Ort 1989/90 „Hamlet/Maschine“ und 1993 Richard Wagners „Tristan und Isolde“ für die Bayreuther Festspiele.


Theatergeschichte(n) in historischer Zeitenwende


Das so Erstaunliche ist, dass die relativ wenigen Werke, die diese Künstlerfreundschaft hervorbrachte (Wonder erarbeitete insgesamt etwa 150 Inszenierungen), nichts weniger als ihre Epoche prägten. Grund genug für die Ausstellung „Erich Wonder – T/Raumbilder für Heiner Müller“ der Berliner Akademie der Künste. Wirft sie doch (ergänzt durch das Zeitzeugen-Rahmenprogramm „Zeitkino“) einen aufregenden Blick auf einen spannungsgeladenen Abschnitt deutsch-deutscher Theatergeschichte, der nicht nur aufgrund ästhetischer Innovationen so besonders ist, sondern obendrein eine historische Zeitenwende markiert.

Da bleibt es letztlich nachgeordnet, dass ihr Anlass die geglückte Übernahme des künstlerischen Archivs von Wonder durch die Akademie ist, die seit 1998 auch den Nachlass Müllers pflegt.


Wonder-Räume als Trampolin für Müller-Texte


Stephan Suschke, Kurator der Schau und einst Regieassistent des Dichters, also ein profunder Kenner beider Künstler, bemerkt, dass Wonders Bühnenräume genau passten zu Müllers „verknapptem Denken“. Müller selbst habe die Räume „wie ein Trampolin genutzt“, auf dem seine Texte sich hätten „ausruhen“ und „spielerisch frei“ sein können. Und die Darsteller hätten sich darin gefühlt wie „in Lebensmaschinen“. Für Wonder war entscheidend, dass seine Räume „mitleben mit den Darstellern, mitmachen bei ihrem Spiel“.

Im West-Ost-Fall Müller-Wonder passte künstlerisch Grundlegendes wunderbar zusammen: Beide verabscheuten platten Abbildrealismus. Suchten vielmehr, ein jeder auf seine Art, nach poetischer Spiegelung der Realitäten, denen im Stück wie denen in der Wirklichkeit. „Das Draußen in die Theaterkisten bringen“, sagt Wonder. Geprägt vom Großkino Hollywoods (Kubrick, Scorsese), spricht er vom großformatigen Hineinzoomen der Bilder in die Räume. Dabei ging es immer, so Stephan Suschke, um „artifizielle Überhöhung“. Um so im Theater „eine andere Welt zu imaginieren, die – Brecht spielt immer mit – Lust macht, die sattsam vorhandene infrage zu stellen“.


Dokumentenfülle plus Rahmenprogramm „Zeitkino“


So wird denn in den Ausstellungsräumen am Pariser Platz das große, ja spektakulär kunstvoll-theatralische Infragestellen des DDR-Zustands als Teil eines fragwürdigen Welt-Zustands signifikant nacherlebbar in den Dokumenten (Filme, Fotos, Skizzen, Notate, Gemälde, Requisiten, Bandaufnahmen, Kostüme; dazu das Rahmenprogramm „Zeitkino“) des Bochumer „Auftrag“ sowie der beiden DT-Produktionen „Lohndrücker“ (1988) und „Hamlet/Maschine“ (Probenbeginn Februar 89, Premiere 24. März 1990).

Das bestimmende Sinnbild war: Hamlet zwischen den Epochen: Zunächst eingefroren von Lenin/Stalin (letzterer grüßte als Puppe im Proszenium), dann allmähliche, irritierende Eisschmelze, dann fortschreitende Auflösung der Verhältnisse. Müller flapsig: „Vom Eiswürfel zum Brühwürfel.“ Oder: „Es fängt im Eis an und endet in der Wüste.“ Nicht nur Müller und Wonder empfanden ihre berserkerhafte Arbeit ‑ ein Jahr Vorbereitung/Proben, Aufführungsdauer gut fünf Stunden ‑ als ein Requiem auf die DDR. Und darüber hinaus…


Auf Anhieb rast die Erinnerungsmaschine


Freilich, die Zeugen von damals sind im Vorteil. Bei ihnen setzt die Ausstellung auf Anhieb eine diffizile Erinnerungsmaschine in Gang. Holt auch die von der Wucht der Worte, der Bilder, der ungelösten, ja unlösbaren dramatischen Konflikte geprägte, dabei zwischen Komik und Erschütterung wankende Stimmung zurück die während der Aufführung im Publikum herrschte. – Auf der Bühne die betrügerische Brigade mit ihrem auf Ehrlichkeit setzenden Kollegen Lohndrücker; diese Industrie-Proleten im Stalinismus der 1950er Jahre gezwängt in eine schwere Arbeitswelt aus Hochofen-Panzerturm-Bunker, was meint: Fortsetzung des Krieges (jetzt Sozialismus gegen Kapitalismus) mit anderen Mitteln. Der Mythos vom epochalen Neuaufbau im lodernden Bild der das Alte, Abgelebte wegsprengenden Industrieofenfeuerkraft; ein Bild, das zum Sinnbild wird von Zukunfts-Zerstörung und Untergang. Müllers Kommentar: Die Gründung der DDR nach Hitler bekam durch Stalin ihre unheilbare Krankheit von Geburt an. Der Tod der DDR folgte knapp 22 Monate nach der „Lohndrücker“-Premiere.

Was vom Autor einst als aufbauend-kritisches Spiel vom Fortschritt gedacht war, wandelte sich unter seiner Regie Jahrzehnte später, zum Endspiel, zur Tragödie. Selten stürzten Wirklichkeit und Kunst derart ineinander. Für beide Seiten ein Glücksfall. Für die beiden Künstler auch. Und für die Ausstellung.

AdK am Pariser Platz, bis zum 13. März.

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