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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 351

Kulturvolk Blog | Reinhard Wengierek

von Reinhard Wengierek

12. April 2021

HEUTE: 1. Kasperle ist wieder da – Immaterielles Kulturerbe / 2. Gift für die neuen Jakobiner – Charles Baudelaire zum 200. Geburtstag / 3. Das liebe Publikum – Eine Berliner Statistik

1. Seid ihr alle daaa???

Der Kasper © pixabay
Der Kasper © pixabay

Seit Ende des 18. Jahrhunderts tobt die Puppenfigur namens Kasper durch den deutschen Sprachraum. Eine clowneske, aufmüpfige, ungeniert unliebsame Wahrheiten frech ausschreiende Figur im buntkarierten Rock. Dazu rote Zipfelmütze, Grins-Gesicht, spitze Nase und Klatsche in der Hand. Zur Züchtigung der Bösen und des allgemein Bösen gleich mit. Heute könnte man sagen, die Volksfigur ist ein Kabarettist, Satiriker, Comedian    mit großer Klappe und wachem Verstand.

Nun hat die Kultusministerkonferenz das „Kasperletheater“ in das Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes in Deutschland aufgenommen. Weil es einst auf den Straßen und Märkten „als gefürchtete kritische Stimme sich zur Wehr setzte gegen Obrigkeit und boshafte Fabelwesen“. So ein bisschen hochtrabend die Begründung. – Und jetzt, ausnahmsweise zum Schluss, die berühmte Anwesenheitsfrage. Wir rufen ein kräftiges „Jaaa!“. Und ein Hoch dazu auf unsern tapfer die Klatsche schwingenden Freund, den wir lieben von Kindheit an.

***

2. Du heuchlerischer Leser, du mein Bruder

Portrait of Charles Baudelaire, circa 1862 © Étienne Carjat
Portrait of Charles Baudelaire, circa 1862 © Étienne Carjat

Sein Gedichtband „Die Blumen des Bösen“ sagt eigentlich schon alles und wurde prompt, wir schreiben das Jahr 1857, verboten. Da war Charles Baudelaire Mitte dreißig, wurzellos, depressiv und längst berüchtigt als dekadenter Sauhund und drogensüchtiger Radikalinski. Aber zugleich, in einschlägig prominenten und klarsichtigen Kreisen der Pariser Boheme, berühmt als avantgardistischer Modernist, der mit poetischer Wucht und Raffinesse den Rausch, den Ekel, den Dreck und das Grauen feierte. Und die Lüge bloßstellte.

Hemmungslose Lebensgier, schmerzlichster Lebenskampf und -krampf trieben diesen Wurzellosen um. Und seine Höhenflüge an. – Er bezahlte mit Syphilis, Schlaganfall, Siechtum und frühem Tod.

Die bittersüßen Nachtseiten des Lebens, die unergründlichen Abgründe des Daseins, das verführerisch Schöne wie Hässliche des Menschlichen waren der Generalbass einer faszinierenden Dichtkunst.
„Jedem Trank und jeder Speise“ vermochte er „Purpurnektar und Ambrosia“ abgewinnen.

Doch der Verbitterte, Geschundene und Gefeierte war kein Verkünder einer „falschen“ Moral. Baudelaire schoss vielmehr mit unbändigem Hohn und unerschöpflicher Fantasie gegen die Fassaden einer wohlfeil gutbürgerlichen Moral. „Du heuchlerischer Leser, du mein Bruder, mir so gleichend!“

Charles‘ Ruhm strahlt stark, greift über Jahrhunderte. Am 9. April hatte Baudelaire seinen 200. Geburtstag.

Freilich, ein Jahrhundertkünstler wie er mit derart schockierender Bedenkenlosigkeit in jeder Hinsicht würde auch heutzutage seine „bösen“ Lieder singen. Shit-Stürme der Tugendhaften, der massenhaft „heuchlerischen Leser“, dürften um ihn toben. Die neue jakobinische Wachsamkeit; wir schreiben das Jahr 2021. Allüberall Moralpolizisten und -innen.

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3. Berliner Publikum: Zwei Drittel, ein Drittel

Volksfeststimmung beim Kulturvolk-Sommerfest 2018 in der Ruhrstraße © Kulturvolk | Freie Volksbühne Berlin e.V.
Volksfeststimmung beim Kulturvolk-Sommerfest 2018 in der Ruhrstraße © Kulturvolk | Freie Volksbühne Berlin e.V.

Der Kultursenator will‘s mal wieder wissen und fragt: Lieben seine Berliner die Berliner Kultur? Eine Studie, was sonst, soll Antwort geben. Erstaunlicherweise existiert gleich dazu das passende Institut:
nämlich das für „Kulturelle Teilhabeforschung“.

So wurden zwischen Juni und Oktober 2019 13.000 zufällig ausgewählte Bürger und Bürgerinnen befragt. 3400 (= 27 Prozent) schickten den Fragebogen ausgefüllt zurück; das gilt statistikwissenschaftlich als relevant. Jetzt wurde auf 87 Druckseiten das Ergebnis veröffentlicht.

Die gute Nachricht: Zwei Drittel der 3400 sind fast hundertprozentig zufrieden mit dem „hauptstädtischen Kultur- und Freizeitangebot“. Die allermeisten gehen sogar „regelmäßig“ in Oper, Theater, Ballett, Konzert, Ausstellungen. Auch ist man dafür, dieses Angebot staatlich zu fördern. – So viel zu den, sagen wir, Kulturvolk-Leuten.

Jetzt die nicht so gute Nachricht: Es bleibt ein Drittel „Rest“. Und der ist unzufrieden. Er meint, die Angebote richteten sich eher nicht an Menschen „wie mich“.


Zugänglichkeit und Ansprache


Ein Grund dafür: „Bauliche Barrieren“; gemeint sein sollen Schwellenängste. Denn die Tempel der Hochkultur würden als einschüchternd, befremdlich oder gar als elitär empfunden. Da traue man sich angeblich nicht rein. Genau darin sieht die Senatsverwaltung eine Hauptaussage der Untersuchung! Zudem fordert sie größere Diversität und Repräsentanz bezüglich Personal und Programm. Die Schwellenängstlichen sollen sich wiederfinden, auf den Bühnen. Und man müsse, alles in allem, mehr tun „für Zugänglichkeit und Ansprache“.

Apropos Ansprache. Ich ahne, damit ist nicht nur Organisatorisches gemeint, sondern vielmehr Ästhetisches. Äußerte sich doch neulich auf Seiten der Kulturmacher der BE-Intendant Oliver Reese sehr nachdrücklich in der Öffentlichkeit: „Vielleicht ist es nach so einer Krise – er meint Corona – hilfreich, bestimmte High-Tech-Ansprüche für einige Zeit zurückzufahren.“ Ein starkes Thema, eine gute, spannende Geschichte, Menschen auf der Bühne, die sie packend spielen – mehr brauche man eigentlich nicht, das reiche schon. „Vielleicht haben wir vergessen, dass das Schauspiel der Kern unserer Kunst ist, und nicht die Fortsetzung des Seminarraums mit anderen Mitteln auf der Bühne. Back to the roots! Lasst uns wieder direkter werden und das Spiel stärker ins Zentrum unserer Arbeit rücken! Das ist die Kraft des Theaters.“

Diese Kraft wurde im darstellenden Bereich in den letzten Jahren vielerorts vernachlässigt zugunsten eines überambitionierten, abstrahierenden, höchstens noch für Fachleute und Feuilletons nachvollziehbaren Inszenierungsgebarens. Und auch so manche Verlautbarung der PR-Abteilungen ist durchweht von verkopftem Dramaturgen-Gedöns (das fiel sogar den kopfschüttelnden Spezies von der „nachtkritik“ auf).


Mehr Geld für Kiezkultur


Ein weiterer Kritikpunkt aus der Studie: Kulturangebote würden „direkt vor Ort“, also in den Wohngebieten, für „mangelhaft“ gehalten. Freilich, das hochmögend so genannte Hochkulturelle ist in Kiezen eher nicht so leicht möglich (Opernhäuser stehen nun mal im Zentrum der Stadt). Was umgehend sehr gut möglich wäre ist allerdings, die fürs soziale Klima so heilsame Stadtteilkultur deutlicher, also auch – echter Nachholbedarf! ‑ mit viel mehr Geld zu fördern (Bibliotheken, Clubs, kleine Museen, soziokulturelle Zentren etc.).

Doch an dieser Stelle noch einmal zurück zur „Schwellenangst“. Zumindest in einer Hinsicht erscheint sie mir völlig unverständlich: Da wird behauptet, es gäbe eine Kleiderordnung. Die existiert einfach nicht (für manche sogar zum Leidwesen).

Außerdem: die Theaterkantinen und Premierenfeiern sind oftmals offen für jeden; die Ticketpreise vergleichsweise moderat und fein gestaffelt (auch bei www.kulturvolk.de). Und nicht vergessen: Für die Ansprache von Jugendlichen lassen sich viele Einrichtungen längst allerhand einfallen (Jugendclubs, Education-Programme, Projekte im Programm „Theater und Schule“, die speziellen Streamings jetzt bei Grips-Theater und Parkaue).

Die Schwellenangst, die als ungenügend oder unpassend empfundene Zuwendung und Ansprache – das alles erscheint mir letztlich, zumindest teilweise, doch auch als ein Vorurteil, das aus Unkenntnis oder Trägheit erwuchs. Man muss sich schon ein bisschen selbst kümmern. Muss wenigstens ein bisschen Neugier haben. Und Unternehmungslust.


„Das tu ich mir nicht mehr an!“


Übrigens, in der Studie kommt noch das Problem der „Vorbildung“ zur Sprache, ohne die, so meinen nach wie vor viele, die Kunst nicht verstanden würde. Ich will jetzt nicht wieder auf die wie auch immer gearteten Informationsangebote der Institutionen verweisen oder auch auf die emsig arbeitenden Kulturvermittler von Kulturvolk, das ja beileibe nicht bloß Ticket- und Infoservice betreibt, sondern obendrein und hingebungsvoll auch so etwas wie kulturelle Erwachsenenbildung. Außerdem gibt‘s ja noch das Netz mit Wikipedia.

Trotz allem: Ich muss auch hier wieder an Oliver Reese denken. Und an gewisse Kunstproduktionen, die, vorsichtig gesagt, absichtsvoll schwer zugänglich sind. Ein Aufstöhnen ist sogar – gelegentlich ‑ von Enthusiasten zu hören: „Also das tu ich mir nun nicht mehr an!“

Fazit: Kulturbetrieb und Publikum sind zuweilen glücklich miteinander.
Aber, wer hätte es gedacht: Es gibt noch zu tun ‑ für beide Seiten.

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