HEUTE: „Golden Years“ – Wintergarten Varieté. Letzte Shows vor der Corona-November-Pause
Ein wuchtig ausladender Baukomplex an der Friedrichstraße, direkt am Bahnhof, prunkte einst in üppig wuchernder Neorenaissance zwischen Georgen- und Dorotheenstraße: Er war das Domizil vom „Wintergarten“, einem Hotspot luxuriösen Vergnügens und kostspieligen Nachtlebens der zur Weltmetropole sich aufraffenden Reichshauptstadt.
1945 alles zerbombt, dann weggeräumt. Jetzt sind dort Läden, Sparkasse, Büros, Arztpraxen und jede Menge Büros. Ein großer Block, nach 1990 rasch hochgezogen in bescheidener Investoren-Architektur. Zur Kaiserzeit betrieb man architektonisch sehr viel mehr Aufwand; ließ sich’s was kosten fürs Auge ‑ und fürs festliche Lebensgefühl.
Das kostbar ausgestattete Vorkriegs-Wintergarten-Varietè mit 2500 Plätzen sowie aufklappbarem Sternenhimmel (sommers ohne Regen) nebst allerhand weiteren technischen Finessen war in jeder Hinsicht teuer. Sei‘s drum, dort trafen sich die ganz feine, die feine, die gut- und sogar die kleinbürgerliche Berliner Welt. Und die Touristen sowieso. Nicht sonderlich Betuchte sparten auf einen Besuch im Wintergarten, dessen schillernd buntes, hochmodisches, hocherotisches, international wie lokal-milljöhhaftes Programm, das gespickt war mit Spitzenkräften und Stars der Szene. Und den unterschiedlichsten Publikumserwartungen entsprach. Die 2500 Tickets wollten schließlich verkauft sein. Ein Wintergarten-Abend sollte elegant sein, überraschen, verzaubern und ein gewisses Quantum Mumpitz haben – möglichst nicht frei von delikater Verruchtheit (ist im Prinzip bis heute so). Der Laden lief, die Massen strömten. Mithin hat es geklappt mit dem, glaubt man Zeitzeugen, stets verrückt spektakulären Programm-Mix.
Das alles haben wir längst wieder in der ‑ wie die Friedrichstraße ‑ so traditionsreichen Potsdamer Straße; paar Häuser weiter wohnte Familie Fontane. Freilich, jetzt hat der neue Wintergarten ein etwas verkleinertes, bescheideneres Format. Doch sein Motto „Dem Staunen gewidmet“ ist das alte. Sogar der Sternhimmel ist wieder da, wenn auch nicht aufklappbar. Und die Ausstattung ist jetzt Art Déco (nicht mehr Barock-Renaissance). Derweil die Toilettenanlagen im Souterrain, man wird nicht müde sie zu feiern, strahlen als – ja doch! – Gesamtkunstwerk in romantisch verklärter Postmoderne. Gar ein weißer Flügel steht dort zum wohltemperierten Beklimpern der intimen Geschäfte.
Was wir so ausführlich rühmten am Wintergarten der Altvorderen, bestaunen wir jetzt auch. Zuletzt in der Show „2020. Die 20er Jahre Varieté Revue“. Gemeint sind die nicht durchweg goldenen 1920er. Doch das war, als noch niemand wusste, was Corona ist. Und es war ein Riesenerfolg.
Deshalb jetzt im Herbst dasselbe (immergrüne) Thema, aber mit anderen Künstlern, in anderer Inszenierung – und dennoch eine Fortschreibung von Nummer 1; nämlich bezüglich des Erfolgs. Die Nummer 2 „Golden Years“ ist gleichfalls ein Knaller. Zugegeben, sie ist ein Stückchen weit klassischer, zirzensischer, possierlicher, obgleich ‑ wie immer in diesem tollen Haus ‑ musikalisch und optisch glamourös gerahmt.
Schon die Ouvertüre eine witzige Einspielung aufs Historische. War es im alten Wintergarten doch einst der große Aufreger, wenn die Anfänge des Films demonstriert wurden. Deshalb jetzt zwei zauberhafte Einspieler früher Bewegtbilder. Zum einen von den Brüdern Skladanowsky eine Slapstickiade mit zwei sich kloppenden Deppen; zum anderen ein Auftritt von ersten Autos, Herren mit Zylinder, einer Salonschlange im Negligé plus Zofe mit Häubchen, einem Boudoir mit Blick in den Park der vornehmen Villa.
Also Kintopp, das Plebejisch-Lustige zusammen mit Komisch-Elegantem quasi als das ins Bild gebrachte Motto der Varteté-Revue, die alles in allem komponiert wurde aus der Fülle des Marktes. Also mit feinfühlig spitzen Fingern ausgesuchten Nummern. Sie sind selbstredend internationale Spitzenkräfte ihres Fachs.
Ob nun schwebend in der Luft oder durch selbige halsbrecherisch fliegend und gefährlich stürzend; oder am Boden ekstatisch tanzend, mal sanft, mal rockig singend, bis an die Grenze zum Knochenbruch turnend oder himmlisch alberne Zaubereien demonstrierend und schwungvoll die Revuetreppe rauf und runter stöckelnd. Derartige, nicht nur Kinderherzen höher schlagende, leichthin mit einem Lächeln und Augenzwinkern servierte Kunststückchen sind zwar gar nicht mal brandneu auf der weiten Welt der Unterhaltungskunst. Doch ihr geschicktes Arrangement, die schick „Twenty“ eingefärbte, liebevoll lässige Inszenierung des Ganzen macht die Faszination des betörend goldig schimmernden Abends.
Ein Küsschen also für den Regisseur, Choreographen und Artisten Rodrigue Funke, der 1978 in DDR-Berlin geboren wurde und an der just in gefährlichen Turbulenzen trudelnden Staatlichen Ballettschule und Schule für Artistik ausgebildet wurde. Er wurde beim Circus Festival Monte Carlo ausgezeichnet, trat bei Roncalli auf, im Schweizer Nationalcircus Knie und erhielt beim Circus-Festival-Sankt Petersburg den Preis für Regie und Choreographie in Gold. ‑ So in etwa ist das Niveau aller auftretenden Künstler. Was für ein Wintergarten-Casting!
Der im Frack höchst elegant und dabei eloquent auftretende Meister Funke ist zugleich der charmant verführerische Moderator seiner subtil pointierten, freilich effektsicheren Regiekunst. Und: Mit seinen entzückenden beiden Hündchen vollführt er wie nebenher die bezauberndsten Kunststückchen. Dazu darf man wissen: Auf seinem Gartengrundstück kümmert er sich privat um Hühner und Tauben; demnächst dürften Dressurstücke mit Federvieh zu erwarten sein.
Auch derartiges dürfte er gewiss ‑ wie gehabt – hübsch zusammenbringen mit prickelnder Schaumweinlaune, was ja letztlich Wintergartens Hauptsache ist. Und, wer Appetit hat und ordentlich Zaster: Es gibt nicht bloß gut Schluck, sondern auch fein Essen.
(Bis zum 7. Februar 2011. Abgesehen von der Spielpause im November wegen Corona.)
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