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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 343

Kulturvolk Blog | Reinhard Wengierek

von Reinhard Wengierek

5. Oktober 2020

HEUTE: 1. „Love Letters“ – Renaissance Theater / 2. „Gott“ – Berliner Ensemble / 3. „Keine Zeit für Piccolo“ – Prime Time Theater im Kino 

1. Renaissance Theater: - Hallo, so spielt das Leben

Love Letters © Renaissance-Theater Berlin
Love Letters © Renaissance-Theater Berlin

Andrew: „Willst Du mich heiraten am Valentinstag?” – Melissa: „Jaa! Aber nur, wenn ich Dich nicht küssen muss.“ So geht es schon eine Weile hin und her zwischen den beiden. Mit gegenseitig Zettelchen schreiben unter der Bank. Heimlich im Unterricht; die beiden gehen noch zur Schule. Aber miteinander „gehen“, das tun sie nicht. Doch voneinander lassen, das können sie auch nicht. Ein Leben lang nicht.

 

Freilich bleibt es nicht bei den Zettelchen, es werden Zettel, Collegeheftseiten, später Telegramme, Telefonate und immer wieder Briefe, Briefe, Briefe. Die Post hat jahrzehntelang viel zu tun mit Melissa Gardner, kapriziöse, künstlerisch ambitionierte Tochter aus reichem Haus und Andrew Ladd, dem zielstrebig aufs Fortkommen und, ja doch, auf steile Akademiker-und Politiker-Karriere bedachten Burschen aus sehr einfachen Verhältnissen. Zwei liebenswürdige Menschenkinder, deren Gegensätzlichkeiten wie auch seelische Gleichgestimmtheiten, ihr trockner, frecher Witz, ihre nüchtern ironische Beobachtungsgabe und nicht zuletzt ihr Charme sich gegenseitig anziehen. Sie möchten und können dann aber doch nicht miteinander. Sie verpassen, jeder für sich, die Momente, wo man hätte können. Einmal, in späten Jahren, kommt es sogar zum Sex, doch es funktioniert nicht – allzu viele Briefe… Trotzdem schreiben, beichten, beschreiben, beschimpfen, beweinen, belustigen sie unentwegt einander – per Post. Letztlich lauter Liebeserklärungen. Versteckte Unglücklichsein-Bekenntnisse. Schmerzen und Scherzen, verpackt in Sarkasmus und Melancholie.

 

Ein Kammerkonzert der Stimmungsschwankungen, ein offenherziges Duett über eine offene platonische Zweierbeziehung ‑ er wird Einser-Jurist und republikanischer Senator mit Familie; sie, Malerin, verfällt nach kaputten Ehen dem Alkohol und bringt sich um. Eigentlich ist alles eine Tragödie – wobei der amerikanische Autor Albert Ramsdell Gurney in seinem Zweipersonen-Konversationsstück „Love Letters“ das Tragische mit einem verständnisinnigen Lächeln serviert wie ein Hallo, so spielt das Leben mit uns ‑ und wir mit ihm.

 

Der lebenskluge Text über die Dinge des Daseins ist ein Glücksfall für Schauspieler: Hier mit Imogen Kogge, die uns all die Wendungen und Windungen der schlimm-schönen Geschichte zwischen Lebenslust und Vergeblichkeit mit analytischer Intelligenz und souveränem Gespür erleben lässt. Da wechseln Schalk, Sanftheit, Wärme oder Kühle mit Schroffheit, Härte oder gar mit Wut. Ein gellendes Lachen kontert Verzweiflung, ein mildes Lächeln Traurigkeit. ‑ Ihr kongeniales Gegenüber: Michael Rotschopf, der, seiner Figur entsprechend, die Gefühle eher vornehm bändigt. Er ist der strukturierte Verantwortungsmensch; sie ein freigeistig hemmungsloses Ego. Beide zusammen machen Schauspielertheater vom Feinsten; szenisch meisterlich diskret eingerichtet von Gerd Wameling. Ein spannungsvoller Abend mit großen Könnern – amüsant, betörend, bittersüß, erschütternd.

 

A. R. Gurney (1930-2017), Literaturprofessor in Cambridge, zählt zu den meistgespielten Autoren in den USA (Romane, Stücke für TV und Theater); sein Hit „Love Letters“ kam 1988 in New Haven (Connecticut) heraus; auf Deutsch zwei Jahre später in den Münchner Kammerspielen; Übersetzung Inge Greiffenhagen, Daniel Karasek.

 

Neue Intendanz: Glücklicher Start trotzallem 

 

Eigentlich wollte Schauspielstar Guntbert Warns, der neue Chef des „Renaissance“ nach 43 Jahren Horst Filohn, sein Amt wuchtig antreten: Mit „König Lear“ in der Neuübersetzung von Thomas Melle mit Starbesetzung (u.a. Felix von Manteuffel, Katharina Thalbach, Imogen Kogge, Catrin Striebeck). Doch da kam Corona. Und ein krisenbedingter, gleichwohl sehr origineller Umstieg auf literarisch ambitioniertes Kammerspiel, glänzend besetzt (demnächst Strindbergs „Fräulein Julie“ mit Judith Rosmair und Dominique Horwitz) sowie auf der 23-Uhr-Nachtschiene ein Musical („Hedwig ans the Angry Inch“). Dazu das im Haus längst erfolgreich praktizierte Genre Schauspieler-Liederabende („Irgendwas is imma“, „Bangemachen jildet nich“). Ein Clou obendrein ist die Berliner Porträt Galerie, die mit großen Namen glänzt und zugleich Theatergeschichte illuminiert: Schauspieler, u.a. Tina Engel, Judith Rosmair, Udo Samel, lesen Texte u.a. von Adele Sandrock, Elisabeth Bergner, Curt Bois.

(„Love Letters“ wieder am 11., 13., 14. Oktober)

 

*** 

 

2. Berliner Ensemble: - Wem gehört das Leben und wem der Tod?

Gott © Matthias Horn
Gott © Matthias Horn

Mal herhören: „Gott“ von Ferdinand von Schirach ist kein Drama, hat keine Handlung, keine Figuren, ist kein Theaterstück und könnte gut auch in der Urania oder einer Zentrale für politische Bildung stattfinden. Trotzdem bewegt und polarisiert es ein gebanntes Publikum: Massenandrang beim Ticket-Verkauf.

 

Der von BE-Chef Oliver Reese uraufgeführte Text ist eine Art Forum zum Thema Sterbehilfe. Genau dieses Thema elektrisiert die Massen; nämlich die Frage nach der Legitimität und der möglichen Legalisierung des ärztlich assistierten Suizids. Eine Frage, auf die es auch bei Schirach letztlich keine allgemein befriedigende Antwort gibt, geben kann.

 

Vielmehr existiert eine Vielzahl durchaus plausibler Antworten – juristische, ethische, religiöse, individuelle, die der Autor ausführlich auflistet in seinem, so kann man sagen, Thesentext. Bei dessen immerhin spannender Verlautbarung die Ausschüttung eines Füllhorns theaterästhetischer Mittel zu erwarten, ist müßig und geradezu verstiegen. Das braucht es hier nicht.

 

Das fiktive Setting auf karger Bühnentreppe ist eine Sitzung des Deutschen Ethikrats. Diskutiert wird der wohlüberlegte, mit den erwachsenen Kindern und Ärzten besprochene dringende Wunsch einer 78 Jahre alten Frau, nicht mehr allein weiterleben zu wollen nach dem schweren Tod ihres Mannes an einem grauenvollen Hirntumor. Die ehemalige Architektin, ärztlich attestiert gesund in jeder Hinsicht, möchte so sterben, wie sie erfüllt und in 42 Ehejahren glücklich gelebt hat. Also in Würde, an einem Medikament. Und nicht am Strick oder auf Bahngleisen vor einem Zug.

 

Die vom rhetorisch versierten Ensemble packend verhandelten Diskurs-Punkte drehen sich um Freiheit und Selbstbestimmung; also um die letztlich nicht eindeutig zu lösende Frage: Wem gehört das Leben und mithin der Tod– dem Staat (Gesetzgeber), einer Ideologie (Moral, Religion)? Hat der Wunsch zu sterben mit Egoismus, Unmoral oder etwa doch mit  Krankheit (Depression) zu tun?

 

Die ärztliche Sterbehilfe wurde – auf höchst unbefriedigende Weise ‑ juristisch neu geregelt mit dem Paragraph 217 des Gesetzes von 2015. Zwei Jahre später erklärte das Bundesverfassungsgericht § 217 für verfassungswidrig; ärztliche Suizidassistenz wurde legal, freilich gebunden an die Selbstbestimmtheit des Todeswunsches. Was wiederum für die betreffende Person, die Behörden, die Ärzte nicht einfach zu beweisen ist. Die entscheidenden Fragen bleiben theoretisch wie praktisch weiterhin offen.

 

Keine schlechte „Lösung“ für das Theater, das ein hier im klassischen Sinn als Agora funktioniert, die vehement angenommen wird ‑ erregte Zwischenrufe aus dem Publikum. Was will man mehr vom Theater…

(wieder 13.-15., 30., 31. Oktober, 1. November) 

 

*** 

 

3. Primetime: - James Worthingbottom als Bond in der Würstchenbude

Keine Zeit für Piccolo © Jacqueline Wiesner
Keine Zeit für Piccolo © Jacqueline Wiesner

Hurra, sie sind wieder da! Die wilden Weddinger mit ihrem poppig populären Trash im kultigen Prime Time Theater. Aber – oho! – jetzt nicht nur in der Hochburg Berlinischen Volkstheaters in der Müllerstraße, U6-Station Wedding, sondern zwei Bahnhöfe weiter zur Seestraße im Cineplex Alhambra. Zur Premiere „Keine Zeit für Piccolo“. – Primetime im Kino, wie das?

 

Schuld ist Corona. Im März war Schluss im schönen Stammhaus Müllerstraße. Die Not wurde groß (und ist sie noch, trotz der Stützen vom Senat), doch die Zwangspause beflügelte Ideen. Etwa zur Kooperation – Nachbarschaftshilfe in schwierigen Zeiten ‑ mit Alhambra. Dort wurden den Sommer über die Aufzeichnungen mehrerer älterer Folgen von „Gutes Wedding, schlechtes Wedding“ gezeigt. „Der Leinwand fehlte es an Content, uns an einer Bühne“, erklärt Theaterchef Oliver Tautorat. In Zeiten, in denen Kinos und Theater neue Wege gehen müssen, sei diese Flimmerbude-Theater-Kooperation ein Paradebeispiel für Zusammenhalt in der Krise.

 

Das Ganze lief derart erfolgreich, dass die Idee reifte, ein neues Stück doch gleich fürs Kino zu produzieren. So entstand erst vor kurzem und in Windeseile (bloß sieben Wochen Drehzeit) auf künstlerisch wie organisatorisch neuen Wegen, mit ungewöhnlichen Außendrehs und obendrein mit Gaststars (Gayle Tufts, Dieter Hallervorden, Nina Queer) die Folge 127 der Sitcom GWSW „Keine Zeit für Piccolo“.

 

Der unermüdlich optimistische Tautorat: „Dieses An-einem-Strang-Ziehen für die Kultur begeistert uns sehr und geht, ehrlich gesagt, uns allen auch ans Herz. Das sprach sich bei Cineplex schnell herum, so dass nach der ‚Piccolo‘-Premiere unser Film in allen Häusern des Unternehmens in Berlin und Brandenburg anläuft.“ Wedding-Kult(ur)-Export sozusagen.

 

Was im Kleinformat Bühne funktioniert, tut es erstaunlicherweise auch im Großformat Kino – vor allem dank des Regisseurs Julian Mau, des Kamermanns Marc Poritz sowie professionellem Sound und Schnitt. Das kleine, kabarettistisch-parodistisch versierte Ensemble donnert wie immer bravourös der Sektpulle hinterher durch jede Menge grotesker Figuren (Noemi Dabrowski, Julia Franzke, Johanna M. Schmidt, Oliver Tautorat und Ryan Wichert).

 

Ryan Wichert mimt diesmal biedermännchenhaft als James Worthingbottom einen James Bond im gewürfelten, schlecht sitzenden Dreiteiler, weshalb ihm Ihre Majestät die Lizenz zum Karo-Tragen gönnt und mit einem Kugelschreiber als sensationelle Geheimwaffe ausstattet und noch dazu mit einem ferngesteuerten Schnürsenkelzubinder. Derart gerüstet geht es auf Jagd quer durch Berlin nach einer flüchtigen Zuckerbombenterroristin, die freilich gar keine solche ist, sondern „bloß“ eine rheinische Frohnatur (Ex-Miss Recklinghausen) mit fatalem Hang zum Alkohol. Doch immer kommt was zwischen bei der Hatz ihrerseits kreuz und quer und queer durch Berlin nach nichts weiter als eben einem Piccolöchen.

 

Das Ganze ist – die übliche Primetime-Mischung ‑ ein teils ziemlich witziges, teils ziemlich albernes Action-Roadmovie im rasenden Durstexpress oder trödelndem Sammeltaxi, mit Schießerei und Liebelei im Schönheitssalon, Frühstücks-Fernsehen, vor der Currywurstbude oder inmitten einer Demo gegen die Unterdrückung der Hausstaubmilbe. Dabei wird allerlei Dämliches und Treffliches (zusammen)gerührt ohne viel zu schütteln. Hollywood im bissig blödelnden Primetime-Look (Buch: Johanna Magdalena Schmidt).

 

Parallel zum Film läuft bereits die 128. Folge von GWSW mit dem Titel „Alles auf Anfang“ (Prenzlberg-Übermutter Lore gründet eine Corona-kompatible Landkommune namens L’oreAll). Wieder im Primetime Theater Müllerstraße. Immer Mittwoch bis Sonntag 20.15 Uhr. 

 

Und schon am 23. Oktober hat Folge 129 Premiere: „Uschi im Wunderland“, eine Art Fortsetzung der Hauptstadt-Abenteuer der sexy Zuckerbombe aus Piccolo-Rheinland. – Bewährtes Motto: „Du bist Berlin? Wir oooch!“

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